Der Wille zur Grösse

Grand Paris als Fiktion und Realität

Günter Liehr, Emmanuel Pinard (Bilder)

Der Boulevard Périphérique scheidet zwei Welten: Stadt und Banlieue. Vor zehn Jahren wurde ein gross angelegter Plan zur Integration initiiert – der nun zur Wachstumsmaschine geworden ist. Die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit lässt auf sich warten.

«Soll Paris in zwanzig Jahren in der ersten oder in der zweiten Liga der Weltmetropolen spielen?» – Eine rhetorische Frage natürlich. Staatspräsident Nicolas Sarkozy stellte sie in einer Rede im September 2007 kurz nach seinem Amtsantritt, mit der er das Projekt Grand Paris als grosse nationale Aufgabe lancierte. In einem internationalen Ideenwettbewerb sollten zehn Architekten- und Urbanistenteams unter Berücksichtigung des Kyoto-Protokolls zum Klimaschutz Vorschläge für die «Metropole des 21. Jahrhunderts» erarbeiten. Im Jahr darauf wurde Christian Blanc, ein zupackender Organisator und Sanierer, zum Staatssekretär für die «Entwicklung der Hauptstadtregion» ernannt.

Seit 1860 unter der Herrschaft von Napoleon III. und auf Betreiben des Präfekten Haussmann rund 20 angrenzende Gemeinden ganz oder teilweise annektiert wurden, ist das Stadtgebiet von Paris nicht mehr erweitert worden; bis heute endet es am Ring des Boulevard Périphérique. Ausserhalb der Stadtgrenzen entwickelte sich im Zug der Industrialisierung die Banlieue, deren Einwohnerzahl jene des eiförmigen Kerns schliesslich um ein Mehrfaches überstieg: Den 2 Millionen Stadtbewohnern steht eine Agglomeration von 11 Millionen Menschen gegenüber. Das Grand-Paris-Projekt trat mit dem Anspruch an, den Gegensatz zwischen Kern und Umland aufzubrechen.

Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden – vor allem von linken Politikern und Urbanisten – Vorschläge für die Ausweitung des Pariser Stadtgebiets gemacht. Im Mittelpunkt standen dabei die Raumplanung und das Streben nach einem Ausgleich zwischen dem reichen Paris und der vernachlässigten Vorstadt. Trotz aller noch so plausiblen Argumente wurde dieser Schritt jahrzehntelang vermieden, denn die umliegenden Industriegemeinden hatten sich zu kommunistischen Hochburgen entwickelt. So blieb Paris, anders als andere Hauptstädte, lange eine abgegrenzte, geschützte Sonderzone. Der «Rote Gürtel» ist inzwischen verschwunden. Aber nicht nur hat sich die Abgrenzung politisch erübrigt, sie ist auch dysfunktional geworden, wie es Blancs Ernennungsschreiben präzisiert: «Die Kluft zwischen Paris und seiner Umgebung […] erlaubt es nicht, den vollen Nutzen aus dem Potenzial der Agglomeration zu ziehen. Diese muss aber in ihrer Gesamtheit handeln, damit sie eine kritische Masse entwickelt, die gross genug ist, um mit den bedeutenden internationalen Kapitalen zu rivalisieren.

Als im April 2009 als Sarkozy dann die Vorschläge der zehn Teams feierlich präsentierte, berief er sich auf Victor Hugo, der Paris einmal als die Inkarnation des Wahren, Schönen und Grossen bezeichnet hatte. Nur müsse nun zum Wahren, Schönen und Grossen noch die Gerechtigkeit hinzutreten: «Die Stadt, das ist die gleiche Würde, die allen Bürgern geschenkt wird. Die gleiche Berücksichtigung ihrer Probleme, ihrer Bestrebungen, ein gleicher Zugang zu Kultur, Bildung, Gesundheit, Beschäftigung, Mobilität. Die Stadt, das ist die Gleichheit der Chancen.» Mit einem solchen Bekenntnis schien der Präsident an die früheren Ansätze solidarischer Grand-Paris-Reformideen anzuknüpfen. Auch äusserte er sich lobend über die Ergebnisse des internationalen Ideenwettbewerbs. Grossräumige Visionen waren da vorgestellt worden, multipolare Modelle, phantasievolle Lösungen der Verkehrsprobleme, neue Wälder, Feuchtgebiete und begrünte Dächer, die poetische Aufwertung vernachlässigter Banlieue-Terrains. Sarkozy pries die Resultate als «Ausgangspunkt für die Erarbeitung dieses so symbolischen Grand-Paris-Projekts.»

Es kam dann wie ein Schock, als kurz darauf der Grand-Paris-Staatssekretär Christian Blanc seinerseits das von ihm entwickelte Konzept vorstellte. Es beschränkte sich im wesentlichen auf zwei Elemente: Erstens den Bau einer vollautomatischen, weitgehend unterirdischen Schnellbahn, welche die wichtigsten Punkte des Grossraums miteinander verbinden würde. Zum anderen seien rund um das alte Paris mehrere «Cluster» zu entwickeln: spezialisierte Territorien, wo Unternehmen, Bildungs- und Forschungsstätten synergetische Beziehungen eingehen könnten. Mit den publikumswirksamen Fantasien der Architektenteams hatte das nur wenig gemein. Der Technokrat Blanc hatte die schönen Ideen des Wettbewerbs weitgehend ignoriert. Jean Nouvel gab daraufhin zornige Interviews, nannte Blanc eine Fehlbesetzung und forderte seinen Rücktritt. Präsident Sarkozy versuchte die empörten Baukünstler durch die Schaffung eines «Atelier international du Grand Paris» zu besänftigen, wo sie in Diskussion und Kolloquien ihre Arbeit fortsetzen durften.

Seit 2016 existiert überdies eine nach langen Verhandlungen zustandegekommene Verwaltungsstruktur namens «Métropole du Grand Paris». Sie umfasst grosso modo die Territorien der bisherigen Stadt Paris und der drei angrenzenden Départements. Mit ihr hatte zunächst mancher engagierte Politiker die Hoffnung auf mehr égalité verbunden. «Wir wollen eine Metropole entstehen lassen, die vollkommen solidarisch ist, das heisst, dass alle Bürger, wo auch immer ihr Wohnort ist und ihr Arbeitsplatz, den gleichen Zugang haben zum Angebot der modernen Grossstadt.» So Pierre Mansat, der als Pariser Vizebürgermeister intensiv mit der Grand-Paris-Thematik befasst war. «Wir wollen keine vernachlässigten, abgekapselten Gebiete mehr, in denen sich die Armut konzentriert, in denen Not und Unbehagen dominieren. Diese zutiefst solidarische Metropole wollen wir also errichten, und eigentlich ist dies ein Gesellschaftsprojekt.» Zustande gekommen war aber nach den jahrelangen Verhandlungen zwischen sämtlichen betroffenen Gebietskörperschaften ein für viele enttäuschender Kompromiss. Gering sind die Kompetenzen, äusserst bescheiden ist das Budget – «ein kraftloses geopolitisches Objekt», nennt der
Geograph Philippe Subra die neue Instanz.

Zur treibenden Kraft bei der Umgestaltung des Grossraums wurde hingegen die von Christian Blanc lancierte «Société du Grand Paris» (SGP). Der unbeliebte Staatssekretär musste zwar schon nach zwei Jahren seinen Hut nehmen, seine Grundsätze aber blieben. Die SGP, ein eigenständiges, üppig dotiertes staatliches Unternehmen, wurde mit dem Bau eines Express-Metro-Systems von 200 Kilometern Länge beauftragt, mit weit in die Île de France ausgreifenden ringförmig verknüpften, meist unterirdischen Strecken. Rund um die 68 Bahnhöfe entstehen neue Zentren, die weitere Bautätigkeiten stimulieren. Bis 2030, so verkündet die Société du Grand Paris, würden im Rahmen ihres pharaonischen Projekts jedes Jahr 15 000 neue Wohnungen und 115 000 Arbeitsplätze entstehen, dazu käme eine jährliche Steigerung des Bruttosozialprodukts um mehr als vier Milliarden Euro.

Manche Grand-Paris-Befürworter hatten sich freilich etwas anderes vorgestellt. In einem «Manifest du Grand Paris» artikulierten sie ihre Enttäuschung: «Das Grand-Paris-Projekt leidet in bedenklicher Weise unter dem Fehlen einer Vision», konstatierte Pierre Mansat. «All dies hat sich entfernt von dem grossen gemeinnützigen Projekt, das wir erhofften», bemängelte ein Mitstreiter. Gewiss, Präsident Sarkozy hatte von der «gerechten Stadt» gesprochen, aber war dies wirklich ein bestimmendes Motiv für das grosse Vorhaben? Wie Blancs Nachfolger, Städtebauminister Maurice Leroy klargestellt hat, ist Unternehmergeist das treibende Element des Projekts. Es geht um das Ziel, durch anspruchsvolle Infrastruktur, attraktive Konsum-, Kultur- und Freizeitangebote sowie die unerlässlichen Signature Buildings Investoren anzulocken und sich im internationalen Konkurrenzkampf durchzusetzen. Die Rezepte des Metropolen-Marketings ähneln sich weltweit. Im Fall von Paris liegt die Besonderheit darin, dass sich hier massiver als anderswo der Staat einmischt. Frankreich bleibt in seiner ökonomischen Struktur extrem zentralistisch: Die Wirtschaftskraft der Hauptstadtregion liegt bei über 30 Prozent des französischen Bruttosozialprodukts. Nicht um der benachteiligten Banlieue soziale Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, soll Paris seine Grenzen sprengen, sondern um den vergrösserten Stadtraum zu einer Wachstumsmaschine auszubauen.

Dieser Transformationsprozess vollzieht sich mit grossen Schritten unter der Ägide der SGP, Hand in Hand mit mächtigen Baufirmen und Entwicklern. Tunnelbohrmaschinen fräsen sich durch den Untergrund der Île de France, es formieren sich Wissenschaftscluster wie Saclay, das französische «Silicon Valley» im Südwesten, die den Techniken der Nachhaltigkeit gewidmete «Cité Descartes» im Osten, oder der «Pôle de la création St-Denis Plaine Commune» im Norden, der Film- und TV-Studios konzentriert.

Auch die ersten urbanen Kerne rund um die künftigen Bahnhöfe nehmen Gestalt an. Die «Baustelle des Jahrhunderts» treibt die Immobilienpreise bereits deutlich in die Höhe, vor allem entlang der ersten im Bau befindlichen Express-Metro-Linien 14 und 15. Frühere Arbeitergemeinden wie St-Ouen erlebten in den letzten zehn Jahren Bodenwertsteigerungen von bis zu 70 Prozent. Kein Zweifel, es werden grosse Mengen neuer Wohnungen gebaut. Den Verheissungen der Société du Grand Paris, allen würde nun eine bessere Zukunft ermöglicht und das soziale Ungleichgewicht der Pariser Region werde beseitigt, ist allerdings mit Skepsis zu begegnen. Kritiker wie Philippe Subra weisen vielmehr darauf hin, dass der boomende Immobilienmarkt zu einem Motor der sozialen Segregation wird, indem das steigende Preisniveau die am wenigsten zahlungskräftige Bevölkerung immer weiter nach draussen in die Randzonen drängt.

Erste bittere Erfahrungen machen derzeit Familien, deren Sozialwohnungen den spektakulären neuen Bahnhofsvierteln weichen müssen, wie eine Reportage von Le Monde aus L’Haÿ-les-Roses illustriert: «Grand Paris erweist sich im Namen der sozialen Durchmischung als Maschine der Ausgrenzung. Bescheidene Mieter und Immobilienbesitzer werden enteignet, um den neuen, rund um die Metrostationen zu bauenden Quartieren Platz zu machen.» Und der Artikel zitiert die Klage einer betroffenen Anwohnerin: «Seit dreissig Jahren warten wir auf die Metro. Jetzt kommt sie und wir werden vertrieben.»

Günter Liehr (1949), Journalist und Schriftsteller, lebt in Paris und Marseille. Bis 2009 war er Redaktor bei Radio France Internationale. 2017 erschien sein Reiseführer Grand Paris.

Emmanuel Pinard (1962–2014) lebte in Aulnaysous-Bois bei Paris. Er bestritt zahlreiche Ausstellungen und lehrte u.a. an den Architekturschulen ENSA Marne-la-Vallée und Paris-Malaquais. Die grossformatigen Bildserien des früh verstorbenen Fotografen halten die Pariser Banlieue vor dem aktuellen Bauboom fest. Dabei suchte er eine dokumentarische und unpathetische Sichtweise, die den Charakter der Stadtlandschaft unmittelbar zum Tragen bringt.

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