Den Dorfkern stärken

Dorfzentrum und Kulturhaus in Mels von Raumfindung Architekten

Karin Salm, Ladina Bischof (Bilder)

Während Dörfer zu Agglomerationen anwachsen, verödet vielerorts der alte Kern. Der Detailhandel wandert ins Einkaufszentrum ab, die lokale Kultur verliert ihre Basis. Im sanktgallischen Mels hat die Gemeinde Gegensteuer gegeben und ihre Mitte neu belebt.

Einst hatte Mels leicht erhöht Platz am Fusse des Pizols. Längst hat sich das bäuerliche Kreuzungsdorf nach Wangs, Sargans und Heiligkreuz bis weit Richtung Autobahn in den Talboden hinausentwickelt. 8'600 Menschen wohnen heute in Mels, und laut Statistik arbeiten rund 25 Prozent der Werktätigen im Detailhandel. Doch dieser befindet sich mehrheitlich nicht im Dorf, sondern gleich neben der Autobahnausfahrt. Hier bieten das Einkaufszentrum Pizolpark, Discounter und Fachmärkte zahlreiche Arbeitsplätze, aber auch ein grossflächiges Konsumparadies. Wer in Mels einkaufen will, steigt gern ins Auto, notfalls auch in den Bus, und deckt sich im Melser Shopping-Mekka ein.

Dem Melser Dorfkern, der immerhin zu den schützenswerten Ortsbildern der Schweiz gehört, bekam diese Entwicklung nicht gut: Die Metzgerei und Bäckerei beim Dorfplatz haben geschlossen, die Autos dominieren und neben dem Dorfplatz entstand ein merkwürdiges Sammelsurium aus Anbauten, einem kleinen Mehrfamilienhaus und Provisorien. Eine unschöne Hinterhofsituation.

Um dieser Entwicklung paroli zu bieten, hat sich Mels für über 31 Millionen Franken ein Kultur- und Kongresshaus samt Rathaus und Tiefgarage bauen lassen. Der Neubau wurde mitten ins Dorf platziert und nach dem ortstypischen, rötlich violetten Stein Verrucano benannt. Das Haus soll einiges können. Zum einen bietet es den Vereinen Proberäume und Auftrittsmöglichkeiten, denn in Mels gibt es sage und schreibe über 80 Vereine. Zum andern soll es weit über Mels hinausstrahlen.

Die wohlkomponierte Promenade

Vom Dorfplatz aus erreicht man das Verrucano und staunt: Auf einem Betonsockel ruht ein Holzkörper mit filigraner, weinroter Fassade. Über eine flache Freitreppe gelangt man zum neuen Markt und Rathausplatz, bemerkt nebenbei, dass auch das vierstöckige Rathaus, das sich selbstverständlich in die Häuserzeile einfügt, neu sein muss und steht unter einem ausladenden Vordach. Dann betritt man das helle, feingliedrige Foyer, hört die Schuhsohlen auf dem Terrazzoboden mit den roten Verrucanoeinschlüssen klacken und setzt sich schliesslich auf einen der 744 Plätze im zentralen Löwensaal oder sucht einen der anderen Säle mit den schönen Namen «Ragnatsch» oder «Runggalina» oder «Gafarra» auf. Man versteht sofort, dass der Architekt Beat Loosli den Besucherinnen und Besuchern hier eine wohlkomponierte Promenade anbietet, eine Abfolge von öffentlichen Räumen, in denen allerlei Begegnungen möglich sind. Das Kultur- und Kongresshaus mit dem Platz und dem neuen Rathaus, das mit einer Passerelle mit dem alten verbunden ist, ist das neue Dorfzentrum.

«Die Architektur zeigt sich bescheiden und changiert zwischen einer hölzernen Festhütte und einem eleganten Festsaal», schreibt Loosli in einer Begleitbroschüre zum Kultur- und Kongresshaus. Eva Maron, die Geschäftsführerin, redet von «bodenständiger Eleganz» und der zum Dorf passenden Kombination der Materialien Holz, Stein und Messing. «Weil es hier im Haus wenige rechte Winkel gibt, haben wir fantastische Raumabfolgen», schwärmt sie und lädt sofort ein zu einem Rundgang durch das Haus, das ursprünglich Gemeinde- und Kulturzentrum oder ordentlich abgekürzt GKZ hätte heissen sollen. «Mit dem Namen könnte ich kaum Firmen oder Hochzeitsgesellschaften hierherlocken», erklärt Maron und ist froh, dass der Verwaltungsrat den Namen Verrucano aus dem Hut zauberte.

Die Melser Wundermaschine

Eva Maron, die 12 Jahre als Schauspielerin in Berlin tätig war, später die «Wunderbar» in Arbon aufgebaut und den «Hirschen» in Wildhaus geführt hat, zeigt auf dem Rundgang zuerst den leicht trapezförmigen Löwensaal. Er bietet sowohl den Melser Vereinen Auftrittsmöglichkeiten als auch dem Sankt Galler Sinfonieorchester ein adäquates Umfeld mit einer grossartigen Akustik.

Maron demonstriert, wie er sich in einen Bankett-, Seminar- oder Kinosaal verwandeln lässt. Eine multifunktionale Wundermaschine. Während sie die Treppe hochsteigt, macht sie auf die zum Teil überraschenden Raumhöhen aufmerksam und weist darauf hin, dass gleichzeitig Bankette und Kulturanlässe stattfinden können, ohne dass man sich in die Quere kommt. Maron öffnet die Tür zum Saal «Ragnatsch», wo die Musikgesellschaft Konkordia probt und sich freut, dass man Notenständer und die ganze Schlagzeugbatterie stehen lassen kann.

Sie eilt zur Tür in den kleinsten Saal, der nach der Alp «Gafarra» benannt ist. «Das ist der aussergewöhnlichste Raum mit Blick in die Landschaft», sagt Maron. Hier probt der Frauenchor, und weil der Raum so schön ist, habe sie vor, hier zivile Hochzeiten stattfinden zu lassen. Heiraten im «Gafarra» und anschliessend mit einem grossen Bankett feiern – in dieser Kombination ortet Maron ein grosses Potenzial. Zudem will sie im Foyer ein kleines Bistro einrichten. So sollen die Melserinnen und Melser täglich Zugang zu ihrem Kulturhaus haben, um die gediegene Atmosphäre im Foyer und das warme Licht geniessen zu können. Das Verrucano hatte freilich einen denkbar schlechten Start: Wegen Corona musste Eva Maron alle Veranstaltungen absagen. Trotzdem kamen zu den Tagen der Offenen Tür 800 Besucherinnen und Besucher.

Der Gemeinderat kauft Grundstücke auf

«Auch Leute, die anfänglich kritisch waren, loben das Projekt sehr», erzählt Reto Killias. Er ist als Gemeinderat für das Ressort Kultur und Freizeit zuständig und erinnert sich gut an die Abstimmung im März 2015. Für das Projekts eines Kulturhauses mit Erweiterung des Rathauses samt neuer Platzgestaltung und Tiefgarage für 31.5 Millionen Franken gab es bei einer Stimmbeteiligung von über 56 Prozent nur ein hauchdünnes Ja (Ja: 1645; Nein: 1571). Dabei hatte der Gemeinderat alles sorgfältig und mit Blick auf eine zukunftsweisende Dorfentwicklung aufgegleist. Vor über zehn Jahren hatte er begonnen, in der Dorfmitte Land und Häuser aufzukaufen, um den vielen aktiven Vereinen endlich ein anständiges Kulturhaus für Auftritt und Feste zu bieten. Denn wenn in Mels der Turnverein, die «Holmiker» mit ihren akrobatischen Shows, die Fasnachtsgesellschaft, die Musikgesellschaft oder der Trachtenverein einladen, strömt das Publikum herbei. So ist das in Mels. Hier wird oft und gern gefeiert. Der alte, in die Jahre gekommene Löwensaal war diesem Ansturm je länger desto weniger gewachsen. Die Melser Stimmberechtigen bewilligten die Landkäufe, ein offener Projektwettbewerb wurde ausgeschrieben, und der Vorschlag des Rapperswiler Büros Raumfindung Architekten gefiel am besten.

Statt den grossen Festsaal samt Eingang prominent an die Hauptstrasse gegenüber der Post zu platzieren, verlegte ihn Architekt Beat Loosli in die zweite Reihe und erhielt so jene stimmungsvolle Promenade vom Dorfplatz über den Markt- und Rathausplatz. Gerade diese mit Gubersteinen und Verrucano gepflasterten Aussenräume haben es der Jury besonders angetan. Denn vorher dominierten hier die Autos, die nun in die neue Tiefgarage verschwinden können. Die einstige Hinterhofsituation wurde in eine Sequenz von Räumen mit hoher Aufenthaltsqualität verwandelt. Zudem ging Architekt Loosli partizipativ vor: Er mietete einen Bus, lud die Mitglieder der Baukommission, die verantwortlichen Gemeinderäte und Vereinsvertreterinnen ein zu einer Tour kreuz und quer durch die Ostschweiz, um die Bühnen, Raumaufteilungen, Lichtverhältnisse und Akustik verschiedener Kultur- und Kongresshäuser zu studieren. «Damit haben wir die Basis gelegt für ein gemeinsames Verständnis, konkrete Bezugspunkte für die Saalgrösse, die Bühne, das Licht, die Raumakustik. Zudem haben die Diskussionen Vertrauen geschaffen», erinnert sich Loosli. Er lobt die Melser Diskussionskultur. Es wurde geredet, bis die Nutzeranforderungen gestimmt haben. Dabei wurde das Raumprogramm nicht kleiner. Die Architekten haben die Vorgaben schliesslich in ein Raumkonzept verwandelt, und am Schluss lag das Projekt für ein Wunschhaus vor.

Warum wurde es bei der Abstimmung trotzdem so knapp? Armin Bärtsch ist seit 15 Jahren Gemeinderat und zuständig für das Ressort Bau und Verkehr. Er hat gemeinsam mit dem Gemeindepräsidenten die Aufwertung des Dorfkerns vorangetrieben, er kennt die Melser Bevölkerung und war nicht überrascht. Einige waren gegen die kombinierte Erweiterung mit dem Rathaus. «Und dann gab’s auch bei den Sportinteressierten Befürchtungen, dass ihr Wunsch nach besseren Räumlichkeiten in den Hintergrund geraten könnte», vermutet Bärtsch.

Freiraum für ein lebendiges Dorfleben

Gemeinderat Reto Killias betont bewusst das Positive: «Gut die Hälfte der Stimmberechtigen hat ja gesagt. Das Projekt mit Gebäude und Platz kann zwei Dinge: Es bietet in einer globalisierten Welt die Basis für den Erhalt und die Weiterentwicklung unserer traditionellen Kultur, und der Dorfkern erfährt eine wegweisende Aufwertung.» Beat Loosli hört das gerne. Acht Jahre hat er sich mit dem Projekt und dem Ort beschäftigt, das Risiko für Zwist und Unmut war immer wieder vorhanden. Dass er in Mels nach wie vor freundlich gegrüsst werde, sei ein gutes Zeichen. Die langen Diskussionen, das Credo, das regionale Gewerbe zu berücksichtigen und die Wertschöpfung für die Region gross zu schreiben, der bewusste Einsatz traditioneller Handwerksmethoden – das alles habe sich gelohnt. «Das Kultur und Kongresshaus Verrucano mit den öffentlichen Plätzen bietet Freiräume für ein lebendiges Dorfleben», sagt Loosli. Dem stimmt Architektur-Professor Christian Wagner zu. Wagner war Mitglied der Jury, ist Mitglied der Ortsbildkommission und hat für Mels das «Baumemorandum Dorfkern» entwickelt.

Er weist darauf hin, dass die letzten Investitionsschübe im Melser Dorfkern lange zurückliegen, dass der ausziehende Detailhandel leere Ladenflächen hinterlassen und der zunehmende Verkehr den Dorfkern zusehends belastet habe. «Das Verrucano ist der genau richtige Impuls am genau richtigen Ort, weil das Dorf so einen unglaublichen Entwicklungs- und Aktivierungsschub erfährt», sagt Wagner.

Das neue Kultur- und Kongresshaus, so die Erwartung, soll den Dorfkern vitalisieren. Ebenso wichtig ist dabei aber auch das bereits erwähnte «Baumemorandum Dorfkern Mels», das Bauherren, Planerinnen und Behörden eine leicht verständliche Orientierungshilfe bietet. Dieses neue Planungsinstrument legt für Neubauprojekte Gestaltungsprizipien wie Material, Grösse und Rhythmus der Fensteröffnungen fest, um so an einem historischen Dorfkern mit Zukunft und Melser Authentizität weiterzustricken. Weil Baukultur nicht nur Denkmalpfleger und Architekten etwas angeht, ging das Baumemorandum auch einher mit einem partizipativen Prozess, bei welchem sogar 800 Schulkinder miteinbezogen wurden (vgl. wbw 11 – 2015). Vertrauen sei ein wichtiges Kriterium auch bei der Förderung einer gemeinsamen Baukultur, bringt es Wagner auf den Punkt.

Es scheint, als habe der Gemeinderat des einstigen Bauerdorfs die Deklaration von Davos vorweggenommen. 2018 trafen sich die Kulturminister Europas im Bündner Bergdorf und stellten unter anderem fest, dass eine gebaute Umwelt von hoher Qualität wesentlich zur Bildung einer nachhaltigen Gesellschaft beiträgt.

Karin Salm (1962), arbeitet seit 2016 als freie Kulturjournalistin und war vorher 25 Jahre als Kulturredaktorin und Kulturkorrespondentin für Radio SRF tätig.

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