Gefügt, nicht gegossen

Zur Aktualität der schwedischen Nachkriegsarchitektur

Tibor Joanelly und Roland Züger

Das Œuvre von Klas Anshelm, Bengt Edman und Bernt Nyberg, den «Drei in Lund», bietet mehr Aktualität als auf den ersten Blick augenscheinlich. Der elementare Ausdruck ihrer Bauten zwischen gesellschaftskonformer Modernität und künstlerischem Individualismus zeigt uns heute, dass ein architektonisches Werk auch aus der Vermittlung von Gegensätzen Kraft schöpfen kann.

Aus grosser geografischer und zeitlicher Distanz gesehen erscheint Klas Anshelms handwerkliches Geschenk an Sigurd Lewerentz wie die Blüte einer selten gewordenen Blume: Im Atelier, das er für den Meister baute, verbindet eine filigrane Treppe Alt- und Anbau; feine Holzstäbe fügen sich zu einem elaborierten Liniengewebe, das Stufen und Geländer präzise verortet und auf dem Übergang vom einen zum anderen Raum zum Innehalten einlädt. In der Liebe zum Detail spiegelt sich die Liebe zum Meister und zur Architektur. Dennoch ist der Atelieranbau nicht mehr als eine blosse Kiste, so konzeptionell «schweizerisch» wie nur überhaupt denkbar – banal konstruiert, elementar und schon fast schroff. Es sind diese beiden stofflichen Zustände, die viele der in diesem Heft vorgestellten Bauten auszeichnen: konzeptuelle Einfachheit und handwerkliches Raffinement.

Brutalismus als Stil

In Reyner Banhams Aufsatz zum «Neuen Brutalismus» (1) war die Villa Göth von Bengt Edman und Lennart Holm zentrales «Beweisstück» der Argumentation. Banham verband mit ihr weniger eine Ästhetik als vielmehr eine Haltung, die den direkten Ausdruck in der Architektur favorisiert und die moderne Architektur nach Irrwegen wieder auf ihre Qualitäten der Ehrlichkeit und Direktheit einschwört. Gerade wegen dieser Authentizität scheint die Architektur der Spätmoderne heute eine grosse Anhängerschaft zu geniessen; in sozialen Netzwerken wie Facebook haben sich eigene Fangruppen formiert, im Internet finden sich uferlose Sammlungen von Bauten.(2) Wenngleich bei vielen dieser Referenzen nicht mehr die Haltung im Vordergrund steht sondern dezidiert das Styling, so ist zumindest wahrzunehmen, dass die einst unpopuläre Architektur in jüngeren Generationen Beachtung findet, und dass ihre spezifische Qualität erforscht wird.
Die Frage nach Authentizität veranlasste das Karlsruher Institut für Technologie, im Mai 2012 ein Symposium zum Brutalismus zu veranstalten.(3) Dabei fehlten aber die Schweden; heute sind – so lässt sich spekulieren – deren Bauten zu wenig bekannt oder zu wenig «brutal», um auf der Netzhaut anerkennende Reize auszulösen. Dabei: Gerade die schwedische Ziegelarchitektur hätte aus heutiger Sicht das Potenzial, zum Vorbild für ein additives Prinzip der Fügung im Dienst einer verstärkten Wirkung der Einzelteile zu werden: Eine Backsteinwand entfaltet ihre ästhetische Wirkung dann am stärksten, wenn sie paradoxerweise homogen und isoliert zugleich erscheint: Als textile Oberfläche etwa, im Kontrast zu einem aus einem Stahlprofil gefertigten Pfosten, der sich mittig in die horizontalen Fensterschlitze von Bernt Nybergs Landesarchiv (vgl. S. 46) stemmt. Ein solch elementarer Ausdruck berührt uns heute gerade darum, weil die Direktheit im Bauen oft nur noch eine Traumvorstellung ist. Einzelfälle, wie die «starke Hülle» des Bürohauses von Dietmar Eberle in Lustenau (wbw 5 – 2013) bestätigen die Regel: Eine «umgekehrte» Haut- und Knochenarchitektur bietet eine List, die verlorene Glaubwürdigkeit von Tragen und Lasten unmittelbar wirken zu lassen und so Authentizität zurückzugewinnen.

Nische und Regionalismus

Liest man heute Kenneth Framptons Aufsatz «Towards a Critical Regionalism» (4) erneut, so erstaunt dessen Aktualität im Spannungsfeld zwischen «Universalismus» und »traditioneller Kultur» – man braucht nur den ersten Begriff durch «Globalisierung» zu ersetzen. Es ist kein Wunder, dass auch Frampton Beweisstücke aus Skandinavien vorlegt, um zu zeigen, dass eine Aussöhnung zwischen den beiden Polen einer heutigen Kultur möglich ist. Sigurd Lewerentz oder die «Drei in Lund» scheinen nicht erwähnt worden zu sein, weil ihre Architektur im Gegensatz zu Jørn Utzon und Alvar Aalto zu wenig einer «Universellen Kultur» zuordenbar war, auch wenn – oder gerade weil – sie bei allem Schaffen aus regionalen Bedingungen heraus ostentativ einem modernistischen Schema verpflichtet war. Gerade aber dieses Beharren an der Modernität liefert ein Argument, das die «kritische» Bedeutung der Südschweden für heute verfügbar macht: In ihrer gesellschaftlichen Isolation und dem in ihren Arbeiten noch immer anhaltenden Funktionalismus verkörperten sie genau das, was Frampton mit «Arrièregarde» beschreibt: Als befreit sowohl von optimierter industrieller Technologie als auch von Nostalgie – bei gleichzeitiger Distanz zu Populismus und sentimentalem Regionalismus. Von beiden letzteren sind wir hier in der Schweiz alles andere als frei, man denke etwa an den bildmächtigen «Städtebau» rund um Zürich oder an einschlägige gestalterische rurale Motive an aktuellen Holzbauten.
Der Lehm aus Schonen hat eine reiche Backsteinarchitektur begründet. Doch im Schweden der Nachkriegszeit blieb der Ziegel einer Nischenarchitektur vorbehalten und entsprechend an den Rändern wirkten seine Protagonisten. Heute garantiert der Backstein vordergründige Identität, auch wenn dieser über eine Distanz von mehr als 1000 Kilometern hergekarrt worden ist. Die Bauten der «Drei in Lund» waren jedoch über den Bauprozess in regionalen Kreisläufen verankert wie sie heute etwa im Vorarlberg um Architekten wie Bernardo Bader (wbw 3 – 2014) für die Architektur fruchtbar gemacht worden sind: Hier begrüssen sich gewissermassen die Zuspätgekommenen und die Vorausgehenden.

Lust am Detail

Am Handlauf, auf der Treppenstufe, kommt der Körper in Kontakt mit der Architektur. Vor Klas Anshelms kleiner Treppe oder anderen Details in Lund verweilen wir darüber zuallererst in Staunen. Der Ausdruck von gestalterischer Sorgfalt und Individualität lässt uns an Persönlichkeiten denken, die einen sehr eigenen, gar skurrilen Zugang zur Welt entwickelt haben und daran, dass angesichts dem hier in der Schweiz vorherrschenden gestalterischen Courant normal weder Zeit noch Musse bestehen, um sich in ein Detail zu vertiefen. – Wann haben wir Architekten das letzte Mal über einer Zeichnung die Zeit vergessen? Es verdichten sich die Hinweise, dass wir in der Schweiz heute ähnlich wie im Schweden zwischen 1960 und 1980 die Mehrung des Wohlstands über alles stellen, was widerständig ist: gegenüber sozialen Normen, der Zeit und dem Körper. Hier bieten die «Drei in Lund» Anschauung und ein Korrektiv, das zwischen anpasserischem «Normcore» und übersteigertem Geltungsbedürfnis vermittelt.

(1) Janne Ahlins Standardwerk «Sigurd Lewerentz. Architect» (1985) ist soeben bei Park Books als Reprint erschienen.

(2) Reyner Banham, Brutalismus in der Architektur, Stuttgart 1966, orig. Architectural Review, September 1955.

(3) Vgl. u.a. http://fuckyeahbrutalism.tumblr.com

(4) www.brutalismus.com

(5) Kenneth Frampton, «Towards a Critical Regionalism: Six Points for an Architecture of Resistance», in: Hal Foster (Hg.) The Anti-Aesthetic: Essays on Postmodern Culture. Port Townsen 1983, S. 16 – 30.

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