Standard nachhaltiges Bauen SNBS

Ein Entwurfsproblem?

Tibor Joanelly

Anliegen zur Nachhaltigkeit drängen mit Nachdruck ins Bauen, denn bei Erstellung und Betrieb von Gebäuden wird viel Energie konsumiert. Was als Beschränkung des Energieverbrauchs in verschiedene Normen eingegangen ist, hat das Bauen in den etwas mehr als vierzig Jahren seit der Ölkrise vielleicht stärker beeinflusst als stilistische oder räumliche Fragen. Die Fokussierung auf den Energieverbrauch schliesst allerdings eine ganzheitliche Sicht auf die Nachhaltigkeit weitgehend aus; der neu lancierte Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) will dies nun ändern – mit ebenfalls weitreichenden Folgen für den Entwurf. Die mit seiner Einführung verbundenen Fragen haben uns veranlasst, eine breit geführte Debatte zum Thema der Nachhaltigkeit anzustossen.

Das Kürzel SNBS steht für «Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz» und bezeichnet den Versuch, Nachhaltigkeit umfassend für die Praxis zu definieren und dort zu verankern. Der neue Standard ist ein Bewertungssystem für Bauten und basiert auf drei «Säulen», die je einen Aspekt nachhaltiger Entwicklung stützen: Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt. Mitte 2013 lanciert, ist der Standard institutionell und wirtschaftlich breit abgestützt. Er soll nicht zuletzt ein einseitig auf die Erfüllung von Energievorschriften ausgerichtetes Denken ablösen und baut auf den bestehenden Normen Empfehlungen und Zielsetzungen von SIA, Minergie, KBOB und 2000-Watt-Gesellschaft auf. Er soll möglichst auf alle Gebäudetypen und -zustände anwendbar sein. Im letzten Juni wurde eine Pilotphase abgeschlossen, 28 sehr verschiedene Bauten wurden bewertet und der Standard auf seine Praxistauglichkeit hin untersucht. Die gemachten Erfahrungen werden durchwegs positiv beurteilt.

Gemäss der angestrebten ganzheitlichen Sicht auf das Bauen beinhaltet der Standard auch detaillierte Angaben und Anweisungen zur Bewertung der architektonischen Qualität von Bauten und Siedlungen und somit auch implizit Aussagen darüber, wie entworfen werden soll. Hier wird direkt das Entwurfshandwerk tangiert. In als Excel-Tabellen verfügbaren Checklisten und Bewertungsmatrizen ist das Entwerfen mit dem Standard qualitativ geregelt: Unter dem Kriterium «Bebauung» etwa gefordert sind «eine im Kontext begründete Massstäblichkeit, urbane Dichte und volumetrische Körnung, die den Bestand entsprechend interpretieren, so dass eine positive Ergänzung und Verbesserung der Gesamtsituation entsteht». Das ist nahe am Baugesetz. Die guten und wünschbaren Eigenschaften für einen Bau erscheinen aus entwerferischer Sicht normierend und ausschliessend: begründete Massstabssprünge etwa, volumetrische Vereinfachungen oder kleinteiligere Strukturen werden durch das Punktesystem nicht honoriert und demzufolge mit einem Malus belegt. Solcherlei Vorgaben, auch quantitativer Art, verstecken sich unzählige in den Tabellen. Mit anderen Worten: In seinem Kern nimmt der SNBS das Entwerfen politisch an die kurze Leine, und eine autonome entwerferische Haltung ist nicht mehr möglich.

Dabei geht es eigentlich gar nicht um entwerferische Haltungen wie «Autonomie» oder «künstlerische Freiheit». Jens Studer, Franziska Schneider und Urs Primas haben das Problem an dieser Stelle bereits angesproche (in wbw 5 – 2014): «Viele gesellschaftlich relevante Entwurfsentscheidungenentspringen keineswegs direkt aus externen Vorgaben – etwa die Wahl einer Typologie oder eines Erschliessungssystems, die Zuweisung öffentlicher, gemeinschaftlicher oder privater Bereiche.» Um die angesprochenen Entscheidungsprozesse offen zu halten und um aus einem gestellten Problem eine angemessene Form zu entwickeln, bedeutet Entwerfen nebst dem Wählen von Lösungen auch eine Wahl der zu verwendenden Methode. Wie bei der Hand M.C. Eschers, die sich selber zeichnet, schafft der Entwurfsprozess jeweils neu seine eigenen Grundlagen. Hier regelnd oder normierend eingreifen zu wollen, ist absurd und heisst nichts anderes, als dass Architektur wie die Lösung politischer Probleme ritualisiert werden soll.

Entwerfen ist immer auch Forschen an der Architektur, die Suche nach einem letztlich Unbekannten. Die sehr detailliert formulierten Kriterien des SNBS erschweren ein spekulatives Denken, das den keinesfalls linearen Prozess des Entwerfens antreibt und zu neuen Formen des Zusammenlebens führen kann. Zudem fokussieren sie auf den Bestand unserer baulichen Umwelt, der möglichst in seiner Qualität erhalten werden soll. Dass diese nicht immer erhaltenswert ist, und dass eine «Verbesserung» manchmal auch grössere Schnitte nötig macht, bleibt unerwähnt. Der Status Quo wird also privilegiert gegenüber entworfener Innovation – was nicht zuletzt auch eine Anpassung des Standards erschwert, gerade auch, weil dieser mit verschiedenen Normenwerken verschränkt ist. In diesem Sinn müsste er das Experiment oder die Projektion in die Zukunft genauso positiv bewerten wie das gesicherte Wissen zur Nachhaltigkeit. (Vielleicht mit einer Art «Per-Position»?) Durch die Privilegierung de Bestands und das implizite Festlegen von Entwurfsprozeduren geraten Architekten unter Beweislast: Sie müssen belegen, dass sie den Standard erfüllen, oder dass ihre Konzepte dessen Ziele übertreffen – insbesondere dann, wenn diese ungewöhnliche, vom Standard nicht erfasste Lösungen beinhalten. Letztlich ist dies wohl eine Frage des architektonischen Qualitätsmassstabs. Um die Qualität des Bauens zu erhöhen, ist der Standard ein gutes Mittel, denn er stärkt die Position des gestaltenden Architekten als verantwortungsvoll handelnde Person. Wenn aber Architektur mehr ist als blosses Bauen, dann wird es schwierig: Entwerfen heisst immer auch Einschränkung, und auch, dass etwas zu Gunsten eines Konzepts oder einer Idee oder einer wegweisenden Lösung zurückgestellt wird. Hier wird es für ambitionierte Architektur eng werden, denn Ausserordentliches wird durch den Standard genauso auf die gesellschaftlichen Erwartungen hin optimiert wie Ungenügendes.

Dennoch: Auf städtebaulicher Ebene und derjenigen der Nutzung liefert der Standard für den Entwurf willkommene Denkanstösse, und Argumente, mit denen Anliegen gegenüber Bauherrschaften und Behörden glaubwürdig vertreten werden können. Auf der Ebene der Planung – etwa, wenn es um Zonenpläne geht – hinterfragt der Standard sogar die Konvention; spätestens bei einer Revision von Nutzungsplänen ist nun ein Mittel zur Hand, um Diversität fassen und verteidigen zu können. Mit der expliziten und detaillierten Regelung entwurflicher Belange thematisiert der Standard SNBS die Frage nach architektonischer Qualität vor allem für die alltägliche Praxis. Er zeigt, dass wir heute in der pluralistischen Gesellschaft vor einem fundamentalen Problem stehen: Mangels glaubwürdiger und praktikabler Theorien zum «anonymen» Bauen im Alltag ist jenseits von Gesetz und Norm weit und breit kein Konsens in Sicht, wie die anstehenden Probleme beiläufig gelöst werden sollen. Hier wäre wohl auch eine glaubwürdige «Grundlagenforschung» in der Architektur gefragt, die über ästhetische Probleme hinausblickt und nahe am Bauen Architekten, Bauherrschaften und Fachleute mit den für eine nachhaltige Entwicklung entscheidenden Fragen konfrontiert.

Die Forderung nach einem nachhaltigen Bauen schränkt die Möglichkeiten der Architektur ein, materiell wie formal. Der etwas leer gewordene Begriff der Nachhaltigkeit und das alltägliche Bauen könnten aber auch in offener Weise gefüllt werden, etwa wie dies bis ins 20. Jahrhundert mit Bauhandbüchern geschah und mit Christopher Alexanders Handbuch einer «Muster-Sprache» vor nicht allzu langer Zeit fortgeschrieben und verwissenschaftlicht wurde. Nur so wäre sichergestellt, dass das Bauen und Entwerfen unbehelligt blieben von partikularen und quantitativen Vorgaben, wie sie in den neuen Standard etwa für hindernisfreies Bauen, Schallschutz, Raumklima und sogar Signaletik eingeschrieben sind. In diesem Sinne ist auch alles daran zu setzen, dass aus dem Standard SNBS keine bindende Norm abgeleitet wird, wie bereits verschiedentlich gefordert.

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