Wie im Film

Villa in Cologny GE von Charles Pictet

Anna Hohler, Thomas Jantscher (Bilder)

Dank beispielloser Gestaltungsfreiheit entstand an der Genfer Goldküste ein faszinierender Bau, der sich nicht leicht erfassen lässt.

«Wenn du lange studiert und viel gesehen hast, wirst du begreifen, dass das Wohnhaus einem Menschen und seiner Familie auf den Leib geschnitten sein muss», erklärt Monsieur de Gandelau seinem Sohn Paul in Eugène Viollet-le-Ducs Roman Histoire d’une maison. (1) Der sechzehnjährige Paul macht sich daran, mit Hilfe seines älteren Cousins, eines Architekten, die Pläne für das neue Haus seiner Schwester zu zeichnen, das unweit des elterlichen Anwesens errichtet werden soll.

Knappe Anweisungen

Auch wenn die Generationenverhältnisse in Cologny umgekehrt sind – hier baute der Sohn vor den Eltern auf dem Nachbargrundstück –, ist die neue Villa von Charles Pictet massgeschneidert wie jene in der Erzählung: lakonisch und präzis, rational und mit Distanz. In der Baugeschichte eines Hauses erreichen den Architekten die Vorgaben in der knappen Form eines Telegramms, das die unverzichtbaren Räumlichkeiten auflistet – Anrichte- und Esszimmer, Vor- und Empfangsraum, Büro – und nur zwei Präzisierungen enthält: «Küche nicht im Soussol» und «keine halsbrecherische Treppe». (2) Auch Pictet erhielt nur knappe Anweisungen: es braucht einen Lift, einen Pool im Haus, ein grosszügiges Schlafzimmer für die Enkel, die für Empfänge nötigen Räume, für den Salon eine besondere Raumhöhe. Dennoch hiessen die Bauherren die Pläne im Massstab 1:50, die der Genfer Architekt nach wenigen Monaten vorlegte, praktisch ohne Änderung gut. Es mag alles nicht so extrem sein wie bei Viollet-le-Duc – dort weiss die Schwester gar nicht, dass gebaut wird, und sieht erst das fertige Heim –, aber es kommt sicher nicht oft vor, dass der Kunde beim Schneider an seinem Massanzug keinerlei Anpassungen verlangt. Woher das aussergewöhnliche Vertrauen rührt, das die Auftraggeber, ein Paar im Ruhestand, in den Architekten setzten? War es Zurückhaltung oder Klugheit? Wir wissen es nicht. So oder so gestanden sie Pictet bei der Gestaltung des grössten Einfamilienhauses, das er in seiner noch recht jungen Karriere entwerfen durfte – eine Wohnfläche von fast 1 500 m2 –, eine beispiellose Freiheit zu.

Kein Grund für rechte Winkel

So macht sich der Architekt die gegebenen Einschränkungen zur Auflage: die langgezogene Form des Grundstücks und die Notwendigkeit, die Villa auf die Sonne auszurichten. Auf der südwestlichen Hälfte des relativ schmalen Rechtecks von knapp 4 000 Quadratmetern Fläche besteht ein Bauverbot. Pictet will lange Gartenkorridore vermeiden, die sich aus einer orthogonalen Konzeption ergeben hätten und sieht daher ganz einfach «keinen Grund, rechte Winkel zu zeichnen». Um der östlichen Ecke der Parzelle Luft zu verschaffen, beginnt er mit einer Einbuchtung, die sich zur Morgensonne hin öffnet. An der Südflanke, wo sich früher zwischen zwei Kiefern der Eingang des Vorgängerbaus befand, plant er einen Patio. Das Tor verlegt er auf die östliche Schmalseite und schafft dort zwei ebenbürtige Rampen: einen absteigenden Fahr- und einen aufsteigenden Fussweg mit je eigenem Eingangstor aus Bronze. Einen eigentlichen Vorhof bildet trotz ihrer Lage im Soussol die Garage: ein grossräumiges konkaves Heptagon mit sehr sorgfältig ausgearbeiteter Beleuchtung, für die vor allem eine Fuge im Wandabschluss sorgt. Von der Garage betritt man einen Vorraum, der zum Lift führt. Der angrenzende, dreigeschossige Lichtschacht bildet die zenitale Achse, die dem ganzen Bau als räumliche Referenz dient.

Filmische Bewegung

Dabei sind wir bereits im Herzen des Hauses. Einerseits liegt hier die Taille jener rationellen Zweiteilung, die dem Bau etwas von seiner Wucht nimmt: Das Volumen teilt sich in einen Bereich für Gäste sowie Enkelkinder beim Eingang und einen zweiten, dem Garten zugewandten, für die Hausbesitzer selbst. Andererseits tritt hier gerade diese Logik der Teilung zurück und macht einer filmisch anmutenden, aber ruhigen Architektur Platz, die virtuos Akzente setzt und sich auf wenige, schlichte, aber edle Materialien beschränkt. Die Böden sind aus Carrara-Marmor oder massiver Eiche, die Mauern aus weiss gestrichenem Beton. Den vertikalen Kern rhythmisiert ein rasches Staccato: das fein gezackte Schalungsmuster auf der Unterseite der spiralförmigen Betontreppe antwortet auf die ornamental durchbrochene Trennwand zwischen Liftvorplatz und Luftraum. Auch die sich verengenden und wieder weitenden horizontalen Fluchten verzerren die euklidische Wahrnehmung der Räume. So findet der Besucher die Orientierung erst an den Grenzen des Baus wieder – ein wenig, wie wenn man von einer Festung zurück auf ein von Gässchen durchzogenes Quartier hinabschaut. Komplett anders als über diese organische Verflechtung der Innenräume nimmt man den Bau von aussen wahr. Die ungewöhnliche Grösse des Hauses, ebenso wie der Raumplan mit seinen unregelmässigen Formen, in dem die Lichtführung eine Hauptrolle spielt, erschweren es dem Besucher, den Bau als Ganzes wahrzunehmen. Man bewegt sich nicht in einem architektonischen Zeichensystem, das der Zurschaustellung von sozialem Status dient, sondern ist gezwungen, sich der eigenen Sinneswahrnehmung zu überlassen. Die ungewohnte Montage von Innenaufnahmen, die dabei am Besucher vorbeiziehen – um die Filmmetapher noch etwas weiterzuspinnen –, neutralisiert den grossbürgerlichen Charakter der Villa ein Stück weit, ja bringt in die bauliche Hierarchie eine gewisse Poesie. Denn auch wenn sich die Repräsentationsfunktion der allgemein zugänglichen Bereiche nicht aufdrängt, so verdeutlichen Küche, Anrichte, Salon, Bar und Esszimmer doch den Anspruch der Bewohner, auch Empfänge zu geben. Charles Pictet liess sich dennoch nicht zu ostentativem Prunk hinreissen; vielmehr bietet er den Luxus einer ungewöhnlichen, sich unablässig erneuernden räumlichen Erfahrung.

Handwerkliches Kleid

Dasselbe gilt für die Wahrnehmung des Hauses von aussen. Es ist schwierig, es mit Fotos einzufangen. Das grosse, mit Backstein verkleidete Volumen hat eine kinetische Dimension, die sich schwer fassen lässt – es sei denn mit einer imaginären Kamerafahrt rund um das Gebäude. Für sich genommen hat jeder Abschnitt der umfangreichen Wandung etwas fast Banales: wenige Öffnungen, keine skulpturalen Formen, keine Statussymbole. Wie im Innern stellt Pictet auch aussen nichts zur Schau, stattdessen schafft er eine Architektur, die physisch erlebt und wahrgenommen werden will. Für den grauen, handgeformten Backstein entschied er sich, um die ausgreifenden Dimensionen etwas zu zähmen. Er spricht von einem «Blow-up-Effekt». Die Steine geben den grossen Oberflächen einen menschlichen Massstab. Abstraktion vermied er bewusst. Auch wenn die Ziegelsteine nur eine Hülle bilden, gibt ihnen doch die Art ihrer Verarbeitung einen traditionellen und handwerklichen Ausdruck. Diese Ambivalenz des Materials entspricht dem Architekten voll und ganz; nicht umsonst bezeichnet er die Ziegelsteinwand als «Kleidungsstück», als «Pulli» (vgl. wbw 3 – 2015). Ihre textile Anmutung trägt ebenso wie die weiten, mit schräg eingeschnittenen Leibungen versehenen Öffnungen und die matten Farben der Fenstereinfassungen aus Holz und Bronze dazu bei, dass sich das Gebäude mit Würde in die Umgebung einfügt. Ins Auge sticht jedoch, dass diese Villa mit ihrer Umgebung keine Bindung eingeht, dass ihr sowohl der Garten als auch die umgebende Landschaft untypischerweise fremd bleiben. Sie ist nicht ortsgebunden. Umschwung, Vegetation und Ausblick weisen keine besonderen Vorzüge auf, das Grundstück liegt weder unmittelbar am See noch wirklich auf dem Land, sondern inmitten eines Villenquartiers: Sein einziger Vorzug besteht darin, dass die Luftlinie zum Zentrum Genfs kaum mehr als drei Kilometer beträgt. Auch der Garten hat trotz seiner beträchtlichen Grösse wenig Bezug zum Haus – er scheint fast ohne Funktion. Doch halt, was ist dahinten? Wozu dient diese kleine Hütte am Rand des Geländes, flaschengrün gestrichen, mit einem Giebeldach, das bis zum Boden reicht, ausgerüstet mit zwei Feldbetten, die auf den Sommer warten? Obschon nur wenige Schritte von Terrasse und Salon entfernt, scheint sie vom Haupthaus aus in unerreichbarer Distanz zu liegen. Ob sie je bewohnt sein wird?

Mauern ohne Vergangenheit

Doch kommen wir zurück auf das Verhältnis des Gebäudes zur Umgebung, ziehen wir noch einmal einen Vergleich mit der Histoire d’une maison. Auf dem Nachbargrundstück steht wie erwähnt das Wohnhaus, das der Sohn der Bauherren vor einem Jahrzehnt errichten liess. In Viollet-le-Ducs Baugeschichte entsprach das alte Herrenhaus der Eltern nicht «dem Geschmack der Zeit», doch mit jedem Winkel rief es «glückliche oder traurige Erinnerungen wach».(3) Dieses Familienerbe prägte auch das neue Zuhause der Schwester. In Cologny ist es gerade umgekehrt: In den Mauern sitzt nicht die Vergangenheit, sondern es werden die Anfänge einer neuen Geschichte gesponnen. Dem Architekten gelang das Kunststück, eine Villa mit starkem Eigencharakter zu entwerfen, die sich nicht leicht erfassen lässt. Sie wirkt elegant und gleichzeitig unverwüstlich – und sie fasziniert. Charles Pictet gab ihr die besten Chancen, gut zu altern. Vielleicht ist das die einzige wirkliche Aufgabe eines Architekten. Wie sich das Haus in Cologny wohl hält, wenn es einmal in die Jahre kommt? Die Zukunft wird es zeigen.

Anna Hohler studierte Philosophie und Linguistik an der Universität Lausanne und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in den Bereichen Architektur und Theater.

(1) Histoire d’une maison, (1873), Infolio éditions, 2008 S. 49 (zitiert nach der deutschen Ausgabe von Julius Pfenninger, Baugeschichte eines Hauses, Zürich 1912).

(2) Wie Anm. 1

(3) Wie Anm. 1

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