Blickregie vom Wohnregal

Wohnen am Schaffhauserrheinweg in Basel von Jessenvollenweider

Roland Züger, Walter Mair (Bilder)

Vier dreieckige Häuser mit abgerundeten Ecken und dunkel gestrichenen Holzfassaden machen neugierig. Gerade durch die Fassaden entsteht bei hoher Dichte grosse Wohnlichkeit: ein Augenschein von der Veranda.

Von der Veranda am Schaffhauserrheinweg schweift der Blick über die Basler Stadtkrone mit dem Münster. Durch das Masswerk seiner Türme fällt das Sonnenlicht. Als wäre es ein Kräftemessen, wirft flussaufwärts eine neue Landmarke ihren langen Schatten. Eindrucksvoll misst sie die globale Potenz der Stadt aus. Dass Basel nun nicht mehr am Rhein, sondern am Rocheturm liege – wie der ehemalige Kantonsbaumeister der Stadt Basel, Carl Fingerhuth, kritisierte – half mit, dass die Neubauten am Schaffhauserrheinweg schnell Bewohner fanden. Aber es ist längst nicht nur das gut ausgebildete und entsprechend entlöhnte Personal der Pharmaindustrie allein, das sich eine Miete von 3 600 Franken aufwärts für 140 Quadratmeter leisten kann.

Raumzwitter

Während die Produktion neuer Wahrzeichen eigenen Regeln zu folgen scheint, gilt auch in Basel das 2013 vom Stimmvolk angenommene Raumplanungsgesetz mit seiner Forderung einer Verdichtung nach innen. Auch hier muss man zusammenrücken. Die Ausnützungsziffer des Wohnareals am Schaffhauserrheinweg beträgt 1.87. Wie der Begriff der «Sicherheit» umschreibt auch die «Dichte» zunächst ein erlebtes Gefühl, weniger eine messbare Grösse. Die Ziffer allein sagt noch nichts über die funktionale oder atmosphärische Dichte aus. Denn das Leben hier oben auf der Veranda kommt einem trotz allem ganz behaglich vor. Denn hinter dem Saum der Winterlinden am Uferweg und dem alten schnörkeligen Zaun ist die Veranda ein zweiter Filter. Sie ist ein Raumzwitter, beschirmt das Private und schafft gegenüber dem Öffentlichen einen Puffer, oszilliert zwischen «Komfort und Repräsentation».(1) Die Veranda ist die architektonische Knautschzone, wenn es eng wird beim verdichteten Wohnen. «Die Veranden bilden eine Struktur, in der sich das Leben einnisten kann», erklärt Anna Jessen.(2)

Mit vergleichbarem Effekt hat Valerio Olgiati ins braunrote Betonskelett seines Zuger Mehrfamilienhauses Ellipsen eingeschnitten (wbw 5 – 2012) um sich Luft auf der Veranda zu verschaffen. In Basel muss man nur auf die Grossbasler Rheinseite gelangen, um Ähnliches zu finden: In einem Innenhof haben die Architekten des Pharmaturms vor fast dreissig Jahren mit dem Wohnhaus an der Scheidemauer ein Gesellenstück geliefert. Beiden Projekten hat die Veranda zu einem spezifischen Ausdruck und einem einprägsamen Aussenraum verholfen.

Dennoch erscheint die Veranda in der Innenstadt als fremdes Element und ist dementsprechend selten anzutreffen. Sie ist eher im alpinen Hotel und in der Siedlung der Vorstadt zu Hause oder verleiht einer Villa im amerikanischen Süden ihr Gesicht. Die Basler Baumgartnerhäuser, 1926 – 38 erbaut, bestätigen als Ausnahmen diese Regel, doch ist hier die Veranda dem Hof zugewandt.(3)

In den vier Bauten am Schaffhauserrheinweg von Jessenvollenweider umrundet die Veranda alle Häuser. Sie variiert ihre Tiefe und löst die Hierarchie von hinten und vorne auf, als ob sich überall Süden und der Rhein fänden. «Auf der Veranda gibt es beides: den Blick in die Weite und die Nähe zu den Nachbarn. Vorhänge bieten bei Bedarf Schutz vor neugierigen Blicken», so Vollenweider. Das macht die Fassade aneignungsfähig, zum Nest für die Vögel der Globalisierung.

Panorama im Kopf

Studiert man die nahen Nachbarfassaden – die schmalste Stelle im Osten beträgt acht Meter zwischen den Geländern –, erscheint einem das Verhältnis zwischen offener Fassade des Regals und bergenden Partien als geschlossene Wand wohl austariert – aber auch dynamisch mit der dichteren Reihe der doppelflügeligen Fenstertüren in den Rundungen. Alle Fenster sind innen und aussen wie das Regal schwarzbraun gestrichen. Dies lässt dem Blick aus den Wohnungen freien Lauf. Auf der Basis der rhythmisierten Fensterfolge fügt sich das Panorama im Kopf zusammen. Das macht ein breitgestrecktes Fensterformat entbehrlich. Die Augen zählen die Etagen: Zum Rhein hin sind es fünf, hinten an der Strasse acht Stockwerke. In den vier Wohnregalen lagern 86 Wohnungen mit zwei bis sechs Zimmern. Einzelne loftartig durchgesteckte Wohnungen mit Loggia ergänzen jeweils die übereck angeordneten Einheiten.

Die Wohnräume liegen an der attraktivsten Stelle in der Rundung, an die offene Küche grenzend. Im Eingangsbereich sind die Zimmer über einen Vorraum mit Garderobe erschlossen. Die Zimmerschicht reiht sich an der Fassade auf, alle im rechten Winkel. Das beruhigt den Grundriss und die Kosten.

Gleichwohl bleibt die Rundung die Herausforderung des Entwurfs. Innen ist die Tücke der Geometrie mit einem Fischgratparkett gelöst, aussen mittels eines Frieses im Verandabelag. Die äussersten Dielenbretter sind dampfgebogen. Zusammen mit einem dunkel gestrichenen Brett als Abschluss der hellen Untersicht der Veranda rahmen sie die Ausblicke.

Regeln der Tektonik

Auf der Veranda finden die Hände festen Griff am schwarzbraunen Metallgeländer. Noch sind keine Bastmatten dazwischen eingeflochten. Das Zusammenspiel mit dem hölzernen Regal scheint genügend Geborgenheit und einen robusten Rahmen zu bieten. Das Selbstbewusstsein dafür spendet die Tektonik. Hier macht sie auch vor den Eingängen nicht Halt: Kein zurückspringendes Erdgeschoss, an dessen Auskragung Sehkonvention und Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt würden. Die Vertikalglieder vieler vorgeblich tektonisch gegliederter Bauten der jüngsten Generation laufen gerade hier ins Leere. In Basel stehen die Stützen auf dem Boden. Das Regal ist selbsttragend, eingebunden in die dahinter liegende Holzfassade. Seine Verfeinerung zeigt sich in den nach oben hin weniger tiefen Stützen. So wird die Durchlässigkeit zum Himmelslicht gesteigert: Im Achtgeschosser schwindet der Durchmesser von 36 bis auf 16 Zentimeter. Aus dem Wechsel von vertikalem und horizontalem Stabwerk erwächst ein Gewebe. Den zentralen Haltepunkt fürs Auge bieten die hervorstehenden Knoten; abstrahierte Triglyphen.

Die beiden Häuser zum Quartier hin sind im Erdgeschoss mit Stützen in schwarzem Beton ausgeführt, die von einem gleichfarbigen Sockel aufsteigen. Von Weitem ist dieser «Stoffwechsel» nicht auszumachen, von Nahem akzentuiert er das urbane Umfeld zu dieser Seite des Areals. Hinter den Betonstützen liegen publikumsorientierte Nutzungen: Eine private Kindertagesstätte belegt den Grossteil der Erdgeschossflächen.

Konkret und Abstrakt

Zu grösserer Verwunderung als der Typus der Veranda gibt jedoch die schwarzbraune Farbe Anlass. Ihre Begründung lässt sich erst bei genauerer Betrachtung ihrer Wirkungsweise erkennen. Vom Stadtboden aus betrachtet ist zunächst jedoch weniger die dunkle Farbe, sondern die weiss lasierte Holzuntersicht der Veranda ins Auge gefallen. Der helle Anstrich nimmt dem Holz das Hölzerne, und durch den Zusatz von Aluminiumglimmer in der Farbe verleibt sich das Wohnregal selbst die Farben der Umgebung und des Lichts ein. Im Lauf der Zeit wird die Fassade noch stärkere Spuren der Bewohner tragen als derzeit schon sichtbar sind. Das Regal ist ja benutzbar und aneignungsfähig. Im Zusammenspiel mit seiner Tektonik wird der dunkle Rahmen dem bunten Leben Halt bieten.

In grösseren Dimensionen war dunkles Holz auch in der 2013 fertig gestellten Wohnzeile am Weiher des Zellwegerparks in Uster von Morger Dettli zu sehen. In Martin Tschanz’ Augen (wbw 9 – 2014) erschien der Bau gerade aufgrund seiner dunklen Farbe schwer und massiv. In Basel jedoch bleibt die Tiefe der Fassade auch im Hochsommer erhalten, und durch die zarte Struktur des Regals wirkt das dunkle Holz nicht schwer.

Das Gegenstück zum additiven Stabwerk aus dunklem Holz aussen ist das helle, skulpturale und abstrakte Treppenhaus innen. Das zenitale Licht in seiner freien Mitte, die weissen Staketen, der graue Hartbeton auf den Stufen, alles ist schnörkellos im grösstmöglichen Abstraktionsgrad verbaut. Einzig die flachen runden Leuchten, die im dunklen Fassadenton gestrichenen Wohnungstüren und der Handlauf an den Wänden sowie die schwarzen Lichtschalter führen die Besucher in die gegenständliche Welt des Alltags zurück.

Was auf den ersten Blick als Widerspruch erscheint – aussen Tektonik, innen Monolith –, findet in der Tragstruktur seine Logik. Neben den Kernen, die die Treppenhäuser in sich bergen, sind auch alle Decken und die Brandwände zwischen den Wohnungen aus Beton. Allein die Fassade sowie das Regal davor sind aus Holz. Die hart geschnittenen und atmosphärisch inszenierten Gegenwelten folgen filmischen Regeln. Genauso unterliegt auch der Aussenraum einer Blickstrategie aus dem Film. Die offene Bauweise gibt immer wieder Fluchten in die Tiefe frei. Von der Veranda aus fällt es ins Auge: Selbst aus der zweiten Reihe sieht man den Rhein. Anna Jessen dazu: «Durch die versetzte Lage der vier Häuser werden die Ausblicke an den Nachbarn vorbei ins Freie gelenkt. Die Idee dazu stammt aus dem Film. Off-Screen-Space nennt man jenen Raum, der im Bild nicht sichtbar ist. Die Schauspieler schauen an der Kamera vorbei. Das öffnet den imaginierten Raum des Zuschauers. Dasselbe lässt sich im Städtebau anwenden, wenn man Lücken und Durchblicke zulässt, entsteht trotz Dichte kein Gefühl von Enge.»

Lob der Lücke

Diese Einsicht kam den Architekten jedoch erst kurz vor der Wettbewerbsabgabe, nachdem sie die herkömmlichen Bebauungsmuster wie den geschlossenen Blockrand, parallele Zeilen oder das Schachbrettmuster mit Stadtvillen durchprobiert hatten. Jessen und Vollenweider haben sich an der Heterogenität am Flussufer ein Beispiel genommen. «Die Lücke ist typisch für die Bebauungsstruktur am Schaffhauserrheinweg», meint Vollenweider. So entstand eine offene Konstellation aus vier Häusern, nach dem Vorbild des Economist-Clusters in London von Alison und Peter Smithson aus dem Jahr 1964 (wbw 12 – 2010). Am Rhein indes steht ein Haus parallel zum Flussufer. Es beherbergt 25 Eigentumseinheiten, selbst im Erdgeschoss wird gewohnt. Dahinter verteilen sich die 61 Mietwohnungen auf drei Häuser. Abstandsvorschriften haben zu einer breiten Vorzone zur Strasse im Norden verholfen, die von einem Pavillon mit der Abfahrt zur Velogarage beherrscht wird.

Der Blick schwenkt nach Nordosten in Richtung eines Backsteinturms. Das Prinzip des heterogenen und offenen Ensembles haben 1996 schon Diener & Diener auf dem Nachbargrundstück der Warteck-Brauerei durchgespielt. Der Glaube, dass ein mit Mitteln der Perspektive getrimmter Raum stärker als jedes architektonische Objekt wirken kann, hat nun einen weiteren Beweis gefunden.

(1) Lukas Imhof, Geschützte Exponiertheit, private Aussenräume in der Stadt, in: wbw 5-2012, S. 4-11. Vgl. auch die Publikation Midcomfort, Wien 2013 des gleichen Autors.

(2) Alle Zitate stammen aus einem Gespräch des Autors mit Anna Jessen und Ingemar Vollenweider zum Umgang mit Dichte, in: Beobachter Extra, September 2015.

(3) Rebekka Brandenberger, Ulrike Zophoniasson, Marco Zünd (Hrsg.), Die Baumgartnerhäuser, Basel 1926 – 1938, Basel 2002.

Advertisement

Subscribe to werk, bauen + wohnen and don't miss a single issue, or order this issue.