Hundeköpfe für die Schweiz!

Dieter Dietz

Streiten über den öffentlichen Verkehr: An Verkehrsfragen treten gesellschaftliche Gegensätze deutlich hervor. Die Auseinandersetzung um die Prioritäten beim Vorwärtskommen in städtischer Umgebung macht deutlich, dass unser Denken stark zwischen den Ansprüchen an Leistungsfähigkeit und Lebensqualität hin- und herpendelt. Dabei geht vergessen, dass städtische Infrastruktur, sei es für das Tram oder den individuellen Verkehr, eine entscheidende Wirkung auf die Entwicklung des Siedlungsraums ausübt.
Der an der EPF Lausanne lehrende Architekt Dieter Dietz hat in aufeinanderfolgenden Master-Projekten die Auswirkungen der Infrastruktur auf die Siedlungsentwicklung untersuchen lassen. Sein Interesse galt dabei abstrakt fassbaren Veränderungen in Netzwerken und den räumlichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben: So liessen sich etwa mit einer Ringbahn zwischen Kern und Nebenzentren gleichwertige Räume schaffen. Der hier veröffentlichte Beitrag fasst Erkenntnisse aus den Arbeiten der Studierenden zusammen und bündelt sie in einer eigens für diese Publikation erarbeiteten Fallstudie. Aktuell wirkt Dieter Dietz als Experte für die Pariser RATP zur Beurteilung der Entwicklung der Raumstrukturen im Pariser Metronetz.

Als der Bau der Berliner Ringbahn mit einem neuen Trassee 1866 beschlossen und bewilligt wurde, zählte Berlin etwa 600 000 Einwohner. Die Stadt befand sich in rapidem Wachstum und überschritt 40 Jahre später die Zweimillionen-Grenze. Die neue Strecke führte durch viel unbebautes Land und verband bestehende, fragmentierte Eisenbahn-Infrastrukturen.1 Im Jahr 2014 ist die Berliner Ringbahn – infolge der markanten Form ihres Verlaufes im Territorium auch «Hundekopf» genannt – ein wichtiger Bestand ihres S- und U-Bahnnetzes und trägt entscheidend zur Identitätsbildung von Stadt und Quartieren bei.

Topologie und Raum

Verkehrsinfrastrukturen haben das urbane Territorium auf allen Kontinenten entscheidender geformt als sämtliche städtebaulichen Initiativen; die Ringbahn nimmt dabei eine Sonderstellung ein.2 In der Ringbahn schliesst sich der lineare Verlauf einer Bewegungslinie zum Kreis. Der Unterschied zu herkömmlichen radialen Netzwerken, die oft auf bestehenden Stadtstrukturen aufbauen und somit ein Zentrum mit immer weiter entfernten Punkten verbinden, ist offensichtlich. In einem solchen Netz werten die offenen Enden der sich kapillar verästelnden Linien das Zentrum gegenüber der Peripherie exponentiell auf. Jeder Punkt im Netz definiert sich über die Distanz zum Zentrum, und die Distanz zwischen zwei Punkten auf zwei verschiedenen Ästen ergibt sich aus der Verbindung übers Zentrum. Im Gegensatz dazu ist im Kreis jeder Punkt auf der Linie gleichwertig.
Eine solche topologische Betrachtungsweise offenbart die Grenzen und Möglichkeiten eines jeweiligen Systems. Die geometrischen Bedingungen sind gleichsam auch von qualitativer Art, denn sie geben Aufschluss über die Hierarchisierung und die Erschliessungsdichte eines Netzwerks und somit indirekt auch über dessen urbanes Potenzial. So ist etwa der Hauptbahnhof in Zürich durch die letzte Ausbauetappe an seine Leistungsgrenze gelangt (auch wenn diese durch den tatsächlichen Verkehr noch nicht erreicht wird), und weitere Ausbauten werden zwingend peripher erfolgen müssen. Die topologischen Dimensionen von ringförmigen Infrastrukturen erlauben es, neue Verbindungen, Nachbarschaften und neue Nähe zwischen entfernten Teilpunkten zu schaffen – eine direkt in der Zeit fühl- und messbare Qualität. Eine so erzeugte zeitliche Porosität bei gleichzeitiger Schaffung von räumlichen und qualitativen Kontrasten ist für das Empfinden von Urbanität von entscheidender Bedeutung.3

Ein Gedankenexperiment

Das topologische Potenzial des Kreises lässt sich dort am besten ausnützen, wo er nicht bereits bestehende topographische Begebenheiten oder gewachsene Siedlungsstrukturen verbindet, sondern neue Zusammenhänge herstellt. So können zum Beispiel wertvolle unverbaubare Naherholungsgebiete direkt mit der Stadt verbunden werden. Ähnlich wie im Central Park in Manhattan, wo sich Nähe und Kontrast in physisch gebauter Geometrie manifestieren, kann topologische Nähe Naturerlebnis und städtisches Leben in unmittelbaren Zusammenhang bringen. Durch «infrastrukturellen Städtebau» lässt sich die topologische Leistungskraft hoch potenzieren und als gestalterisches Mittel einsetzen.
Was wäre, wenn der Berliner Hundekopf dem Metropolitanraum Zürich überlagert würde? Die Berliner Ringbahn hat eine Länge von 37 Kilometern und in der längsten Querausdehnung von Charlottenburg bis zum Ostkreuz einen Durchmesser von 13 Kilometern. Wenn man den Berliner Hundekopf – er gleicht einem Terrier – abstrahiert und bezüglich der Vernetzung von wichtigen Punkten im Stadtgefüge mit neuen und bestehenden Entwicklungsgebieten anpasst, so entstünde in Zürich durch die Einbindung einer Station «Science City» das Bild eines Pudelkopfs.

Parks mit Anschluss

Der neue Netzplan von Gross-Zürich würde nun drei sehr grosse Grünräume als Stadtparks erfassen: Den Hardwald im Norden, den Käferbergwald im Westen sowie Banholz und Herrenholz am Adlisberg im Osten. Im Südosten grenzte er an die Üetlibergkette. Neben SBB- und S-Bahnnetz, Strassen und Zubringern erfasst die neue Infrastruktur auch zwei Flughäfen (wenn das Areal in Dübendorf ein solcher bleibt). Die Ringbahn würde je nach Begebenheiten als Hoch-, S- oder U-Bahn verkehren. Grössere Geländesprünge wie bei der Science City würden wie in der Pariser U-Bahn-Station Lamarck- Caulaincourt über Lifte und Treppen überwunden. Der Einbezug von existierenden S-Bahnhöfen als Expressstationen gewährte auf einfachste Weise die nahtlose Integration ins bestehende Netz. Zürich-City wäre nun über Express-Stopps mit dem noch nicht optimal erschlossenen Westen des Entwicklungsgebiets Zürich-West verbunden, während die Entwicklungsgebiete im Südwesten von Altstetten (Rautistrasse, Zollfreilager etc.) durch normale Stationen bedient würden. In Zürich Nord erschliesst sich ein Entwicklungsgebiet, das zusammen mit Oerlikon und der unmittelbaren Flughafenzone ebenfalls zu einer wirklichen Zentrumszone werden könnte – ein innerstädtischer Raum mit schönem Kontrast zum unbebauten Grünraum um den Katzensee. In Zürich-Ost ergibt sich ein Entwicklungsgebiet, in dem Natur und städtischer Raum zu einem attraktiven Gewebe verbunden wären – ein Potenzial, das bereits durch die Krokodil-Gruppe in ihren Studien zur Glattstadt ausgelotet wurde (wbw 9 – 2013). Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass sich die Entwicklungsgebiete Zürich-West, Zürich-Nord und Zürich-Ost, genauso wie bestehende Grünräume, infolge der topologischen Eigenschaften der Ringbahn auf der gleichen Hierarchiestufe befinden wie Zürich-City. Eine Eigenschaft, die unverhofft Potenzial freilegt und bestehende Strukturen entscheidend bereichert.

Neue Nähe

Durch den Pudel erscheinen einige der Fragen, die sich im Zürcher Raumgefüge stellen, in neuem Zusammenhang. So erhielte die notorisch miserabel erschlossene Science-City als Expressstopp unmittelbaren Anschluss an alle Zentrumszonen der Stadt und wäre vom Flughafen in sieben Minuten erreichbar. Die medizinischen Forschungszentren und Spitäler an der heutigen Peripherie im Osten (Hirslanden / Burghölzli / neues Kinderspital) und Triemli im Süden erhielten Anschluss untereinander, würden mit Universität und ETH Zentrum besser vernetzt, und für Patienten und Besucher über den ÖV besser erreichbar. Nicht zuletzt erhielte die heute immer noch von Vorstadtcharakter geprägt Zone um die Siedlung Werdwies bei der Einfallachse der Autobahn einen Expressstopp, der dieses Gebiet aufwerten und Zürich-West von Westen her aktivieren könnte – von der Station Bernerstrasse wären die Löwenstrasse in 11 und der Flughafen in 12 Minuten erreichbar. Eine weitere Qualität wären die nunmehr hervorragend erschlossenen Naherholungsräume, Wälder und Hügel, die als Stadtgärten des 21. Jahrhunderts Urbanität und Natur stärker zueinander orientieren und Zürich zu einer Vorreiterin urbanen Naturdenkens machen könnten.
Das durch die Zürcher Ringbahn hypothetisch umfasste Territorium zählt heute etwa 550 000 Einwohner. Das etwa gleich grosse Berliner Gemeindegebiet zählt zur Zeit 3,4 Millionen – und gilt als eine der grünsten Städte Europas. Zürich-City, die bekannten Entwicklungsgebiete Zürich-West und Zürich-Nord würden zusammen mit dem neuen Entwicklungsgebiet Zürich-Ost (Zürich- Greifensee) einen Ring von vier Zentrumszonen bilden, die ihre prägnannte Identität durch geringere hierarchische Trennung stärken könnten. Ein grösser gedachtes Zürich würde entstehen, das ungleich mehr Entwicklungspotenzial hätte als eine zweite Stadt derselben Grösse.4

Stadtplanung qua Infrastruktur

Eine Ringbahn vergrössert die Kohäsion zwischen verschiedenen Siedlungsgebieten erheblich – in zeitlicher Hinsicht und im Sinne von Identität für Territorium und Stadtgefüge. Auch Quartiere oder Stadtfragmente mit unterschiedlichster Identität können sich innerhalb eines solchen Systems als Teil eines Ganzen fühlen, wenn sie untereinander in einer klaren Beziehung stehen und einfach zugänglich sind. Die Fahrt im Kreis ist nicht nur eine pragmatische Verbindung zwischen früherer Peripherie sondern wird zum inhaltsstiftenden Instrument – nicht nur im metaphorischen Sinn, sondern räumlich, territorial und sozial. Die Kohäsion wird sich auch politisch manifestieren und könnte in einer politisch-territorialen Restrukturierung münden.
Das Konzept des Rings kann innerhalb einer bestehenden Struktur neue Zentren schaffen, indem sie Stadtfragmente auf ähnliche Hierarchiestufe hebt. Dieses Potenzial würde sich im Kontext der Schweiz mit ihrer hochausgebauten Infrastruktur für den öffentlichen und privaten Verkehr entscheidend auswirken. Die Stärkung mehrerer Stadtfragmente in einem metropolitanen Raum wird diesen insgesamt stärken. Um der immer grösser werdenden Zersiedelung entgegenzuwirken, kann durch urbanes Denken, das über Raum und Konnektivität strukturell operiert, die Qualität unseres Siedlungs- und Naturraumes neu überdacht und kohärent beeinflusst werden.
Die Schweizer Metropolitanräume müssen gegenüber der Netzstadt und gegenüber den lokalen Zentren gestärkt werden. Das heisst, dass alle Mittel ausgeschöpft werden sollten, damit diese Räume – die Dreiländerzone Basel, der Arc Lémanique und der Metropolitanraum Zürich – sich viel stärker verdichten als sämtliches Umland.5 Die Landschaftsinitiative und das revidierte Raumplanungsgesetz reichen hierfür nicht. Wenn die Schweiz nicht weiter zersiedelt werden soll, kommt sie um Hundeköpfe nicht herum.6

Lesen Sie dazu auch Marc Schneiters Entgegnung in wbw 11–2015.

1 Auf Berlin folgten London 1884, Tokio 1925, Moskau 1950, Madrid 1979. Unter «Ringbahn» werden in diesem Aufsatz verschiedene Schienenverkehrsmittel zusammengefasst.


2 Zu urbaner Entwicklung und Verkehrsinfrastruktur: Stan Allen, «Infrastructural Urbanism», in: Dean Almy, Center 14, On Landscape Urbanism, Austin Texas 2007, S. 174 – 181 und Michael Guggenheim, Ola Söderström (Hg.), Re-Shaping Cities: How Global Mobility Transforms Architecture and Urban Form, Abingdon 2010 sowie Douglas Young, Roger Keil, «Reconnecting the Disconnected. The Politics of Infrastructure in the Inbetween-City», in: Cities 27(2), 2010, S. 87 – 95.


3 Michael Breheny, «Urban Compaction: Feasible and Acceptable?», in: Cities, 14(4), 1997, S. 209 – 217.


4 Zum Vergleich: Im Zeitraum von 1850 bis 1910 wuchs Zürich von 17 040 Einwohnern auf 215 488, mitverursacht durch die ersten Eingemeindungen von 1893.
Dies entspricht einem Wachstum von 1265% in 60 Jahren, also einer Verzwölffachung. Die Stadt, die damals entstanden ist, prägt bis heute Zürichs Bild und Identität.


5 Die Schweizer Bevölkerung wuchs seit 1950 von 4 717 000 auf heute über 8 Millionen, hat sich also «unschweizerisch» beinahe verdoppelt. Diese Entwicklung wurde nicht vorhergesehen, und eine Voraussage in der Richtung wäre sicher als äusserst unwahrscheinlich bezeichnet worden. Auch die heutigen Prognosen des Bundesamts für Statistik gehen von drei äusserst konservativen Szenarien aus, die selbst nach der Abstimmung vom 9. Februar wenig realistisch erscheinen.


6 Bei einer Verzwölffachung würde Zürich bis in 60 Jahren zur 4-Millionen-Stadt. Eine ungewohnte Schweizer Dimension. Falls hingegen das heutige Wachstum anhalten sollte, wäre ein Denken in diesem Massstab trotz Masseneinwanderungsinitiative und rechtsnationalen Gegenkräften gesund. Die Zersiedelung kann nur durch wirkliche Metropolitanräume gestoppt werden. Metropolitanräume von grosser Dichte wären eine rationale Konsequenz, im Konzert mit der Verdichtung der lokalen Zentren.

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