Kultur des Unterschieds

Alternative Wohnbauprojekte in München

Ulrike Wietzorrek

Investoren stemmen in München den Grossteil der enormen Wohnungsnachfrage mit konventionellen Projekten. Aber es entstehen auch alternative Wohnbauten, wo ambitionierte Architekten und nachhaltig denkende Bauherren aufeinandertreffen.

Münchens Wohnungsbau boomt. Allein um dem Einwohnerzuwachs zu entsprechen, müssten jährlich 8 500 neue Wohnungen entstehen. Mit Wohnungsbau wird Stadt gemacht. Dabei wird jedoch zuwenig darüber nachgedacht, welche Art von Stadt entsteht.
Der Immobilienmarkt befriedigt die zahlende Nachfrage mit vordergründigem Komfort, der sich in Wellnessbädern und Designerküchen ausdrückt. Vermarktbare Wohnfläche und bauliche Dichte stehen im Fokus, doch schon an der Wohnungsschwelle ist Schluss. Gespart wird an allem, was sich nicht als Wohnfläche veräussern lässt. Die Folgen sind fatal: minimierte Erschliessungen, wenig Gemeinschaft, verödete Erdgeschosse und fehlende soziale Durchmischung sowie standardisierte Wärmedämmverbundfassaden. Die meisten neuen Wohnbauten tragen nichts zur Steigerung der städtischen Qualität bei. Sie bedienen sich am Bild und an den urbanen Potenzialen der gewachsenen Stadt, ohne selbst etwas hinzuzufügen. Angesichts dieser auf den baulichen Aspekt reduzierten Dichte ist die Abwehr der Bürger, die sich diese Spekulationsobjekte schon längst nicht mehr leisten können, verständlich.
Es gibt aber auch alternative Ansätze in München, wenngleich meist in kleinerem Massstab. Es ist nicht nur ihren Architekten, sondern allen beteiligten Akteuren zu verdanken, dass sie über den gängigen Standard des Münchner Wohnungsbaus hinausgehen. Auf ganz unterschiedliche Weise loten sie das Verhältnis von Stadt, Gemeinschaft und privater Wohnung aus, erzeugen ästhetische, soziale und programmatische Dichte und werden somit mit ihrer Kultur des Unterschieds der Vielfalt der Stadt gerecht.

Die Architektur der Stadt

Nachverdichtung ist das Schreckgespenst vieler Bürger, bedeutet sie doch in ihren Augen den Verlust wertvoller Grünflächen und Freiräume, steht im Zeichen steriler Luxussanierung und sozialer Verdrängung und passt überdies so gar nicht in das vertraute Bild von München als lebenswertes Millionendorf.
Dass es auch anders gehen kann, dass bauliche Verdichtung die in einem Ort schlummernden Qualitäten erst richtig zum Vorschein bringen kann, beweist das Projekt von Palais Mai, dessen Ausgangspunkt eine grosse brachliegende Hoffläche im Stadtteil Haidhausen ist. Das Grundstück liegt nur wenige hundert Meter östlich des Prinzgentenplatzes mit seinen gründerzeitlichen Prachtfassaden in einer Stadterweiterung aus den 1920er Jahren. Hier ist die Blockrandbebauung schlichter und grossmassstäblicher. Der damaligen Zeit entsprechend, gruppiert sich der Block um einen grossen Innenhof mit wertvollem altem Baumbestand. Die bayerische Landesbrandversicherung, die im Viertel über grosse Mietwohnungsbestände verfügt, erkannte das Potenzial und entschied sich für eine Ergänzung mit Mietwohnungen zur Aufwertung ihres Portfolios.
Auf Wunsch der Stadt wurde ein Planungswettbewerb durchgeführt, den das Büro Palais Mai für sich entscheiden konnte. Es ist der erste Geschosswohnungsbau der jungen Münchner, die hier ganz selbstverständlich drei polygonal geformte Baukörper zwischen Bestand und Bäumen einlagern. Die sensible Setzung verwebt sich mit dem Vorhandenen zu einem komplexen räumlichen Gefüge mit einer differenzierten Abfolge unterschiedlicher Platz- und Hofräume, von der alle Wohnungen – alt wie neu profitieren. Der Entwurf vermeidet dabei die Frontalität anderer Wettbewerbsbeiträge. Durch das mehrfache Knicken und Abwinkeln entstehen immer wieder neue Orientierungen und trotz der engen Gebäudestellung ein Gefühl von Weitläufigkeit durch Blicke in die Tiefe. Mit dem städtischen Kinderhaus wird auch eine öffentliche Nutzung in die private Welt des Hinterhofs injiziert.
Entscheidend ist die feine Lesart der schon vorhandenen Qualitäten des Orts, dessen Besonderheit schon immer die seltsame Verquickung eines mächtigen Kirchenbaus mit der U-förmigen Wohnbebauung und deren kleinteiligen Hinterhoffassaden war. Das Projekt entfaltet seine Kraft gerade in der Ambivalenz von halböffentlichem und öffentlichem Raum noch Hinterhof oder schon Stadt?
Die hellen Mauerwerksfassaden beziehen sich auf den Kirchenbau mit seinem roten Sichtmauerwerk, passen sich aber durch die entsättigte Tonalität an die Alltagsfassaden der umliegenden Wohngebäude an. Der wilde Verband der Ziegelfassaden ist einem Hinterhof angemessen, gleichzeitig unterstützt er die Haptik und Plastizität der körperhaften Bauten, die durch die Grosszügigkeit ihrer Fassaden wiederum Stadt konnotieren.
Die Architektur der einzelnen Gebäude nimmt sich bescheiden zurück. Entscheidend ist die atmosphärische Wirkung des Ensembles sowie der Raum, der sich über die Setzung der Baukörper definiert. Schade nur, dass die Erdgeschosswohnungen mit abgezäunten Terrassengärten eingegrenzt sind. Im auf Offenheit angelegten Binnenraum stört das die sorgfältig austarierte Abfolge öffentlicher, halböffentlicher und privater Räume. Dennoch sind hier keine profitbasierten Standardbauten entstanden, sondern eine prägnante Architektur, die gleichzeitig genügend Aneignungsmöglichkeiten bietet, um der Alltagspraxis des Wohnens Bedeutung verleihen zu können. Das Wohnen in dieser begehrten Lage hat allerdings seinen Preis. Die Versicherungsgesellschaft verlangt mit knapp 20 Euro pro Quadratmeter marktübliche Preise.

Wohnen für das Existenzminimum

Unter ganz anderen Vorzeichen entstand der Wohnbau am Dantebad in Münchens Stadtteil Moosach. 100 Wohnungen in 12 Monaten von der ersten Idee bis zum Einzug: Schon den Vorgaben merkt man an, dass das Projekt ein politisch gewolltes ist und direkt vom Büro des Oberbürgermeisters aus koordiniert wurde. Es handelt sich um das Pilotprojekt des 2016 im Stadtrat beschlossenen Programms «Wohnen für Alle», das innerhalb von vier Jahren 3 000 Wohnungen für einkommensschwache Gruppen schaffen soll. Das Konzept ist einfach und überzeugend: Das Haus auf Stelzen – entworfen von Florian Nagler – wurde über einem öffentlichen Parkplatz errichtet. Durch das Anheben der Wohnungen bleibt das Erdgeschoss frei – und fast alle Stellplätze erhalten.
Zunächst formierte sich in der Nachbarschaft einiger Widerstand gegen die städtische Nachverdichtung, sowohl aus Angst vor dem Verlust der Parkplätze, als auch vor der geplanten Belegung. Die Stadt erkannte, dass eine stabile Bewohnerschaft wichtig ist, damit das Projekt Akzeptanz findet und entschied sich, statt ausschliesslich Einzimmer-Appartements für Flüchtlinge auch 14 2,5-Zimmer-Wohnungen für Familien zu realisieren. In der Zwischenzeit ist die Hälfte der Einheiten an Flüchtlinge und Wohnungslose, die andere Hällfte an Geringverdiener vergeben. 40 Prozent der Bewohner sind Frauen. Die Miete ist entsprechend der Bedürftigkeit gestaffelt und beträgt max. EUR 9,40 pro Quadratmeter.
Besonders beachtlich ist die kurze Bauzeit von nur sieben Monaten, die durch den minimalinvasiven Eingriff in das Grundstück und den hohen Vorfertigungsgrad des Holzhybridbaus möglich war. Die Architekten harmonisierten den Raster des Parkplatzes mit dem des Wohnungsbaus, sodass sich zwischen den Stützen in den Obergeschossen jeweils drei Schotten mit zwei unterschiedlichen Achsbreiten befinden. Das sorgt für eine gewisse Varianz an Wohnungstypen. An den Enden des Riegels gibt es Gemeinschaftsräume und Büros für Sozialarbeiter, die die Bewohner unterstützen. Die Erschliessung erfolgt über einen Laubengang, der zwar auf das Mindestmass von 1,2 Metern begrenzt ist, sich aber an jeder dritten Wohnung zu einer kleinen Nische weitet, sodass sich die Möglichkeit zum Aufenthalt bietet. Ein Angebot, das bis jetzt allerdings kaum angenommen wird. Phänomenal ist die Aussicht von der grosszügigen Dachterrasse über Münchens Stadtlandschaft bis in die Alpen. Gleichzeitig kann man von hier aus auch ganz einfach das bunte Treiben im Freibad und auf dem Sportplatz beobachten.
Der private Wohnraum scheint dagegen knapp bemessen. Wünschenswert wäre es, stärker von den Standardregularien des geförderten Wohnungsbaus abweichen zu können. Der Verzicht auf den Abstellraum sowie ein kleineres Bad würden sicher zu einem besseren Raumgefühl in den eigentlich gut zonierten Wohnungen führen.
Bei aller sozialen Programmatik betont Florian Nagler, dass er bei der Planung kein Flüchtlingswohnheim oder Sozialwohnbau im Sinn hatte, sondern ein Haus, das ein guter Baustein in der europäischen Stadt ist. Der Ort kann die Nachverdichtung vertragen. Der kräftige Riegel spannt sich als strassenbegleitende Raumkante zwischen die Freianlagen des Bads und einen baumumstandenen Sportplatz. Jener ist bereits auf zwei Seiten von einer kräftigen Blockrandbebauung gefasst, die sich wiederum in ihrer Massstäblichkeit auf die jenseits der Dachauer Strasse gelegene Borstei beziehen.

Das Haus als Stadt

Da sich viele das Wohnen in den beliebten Gründerzeitvierteln nicht mehr leisten können und neue Formen des solidarischen Zusammenlebens suchen, erleben Wohnbaugenossenschaften eine Blüte. Platz finden sie in den neuen Entwicklungsgebieten der Stadt.
Nähert man sich dem Domagk-Park, der auf dem Gebiet der ehemaligen Funkkaserne entstanden ist, kann es schnell passieren, dass man den Zugang ins Quartier verpasst und sich auf der Autobahn wiederfindet. Das Areal mit 1 700 neuen Wohnungen liegt in unwirtlicher Lage zwischen grossmassstäblichen Verkehrswegen, Gewerbegebieten und den Officetürmen der Parkstadt Schwabing. WagnisART ist Teil dieses Quartiers, doch die wie eine Wagenburg anmutende Anlage setzt der städtebaulichen Bezugslosigkeit des Neubauquartiers, das auf einem streng orthogonalen Raster angeordnet ist und auf einer Planung von Ortner und Ordner basiert (vgl. Bebauungsplan S. 20), eine besondere Form entgegen. Möglich war dies, weil der Bebauungsplan für das Grundstück, das explizit einer Genossenschaft vorbehalten war, lediglich die äussere Baugrenze, eine maximale Geschossigkeit sowie Geschossfläche festschrieb.
Hier, wo die Umgebung eigenschaftslos ist und das Erdgeschoss tot, wird das Prinzip der vernetzten Raumfolgen durch das genossenschaftliche Projekt mit einer Differenzierung in verschiedene Öffentlichkeitsgrade auf die Ebene des Hauses übertragen. Fünf polygonal geformte, eng gestellte Baukörper, die über grosszügige Brücken im dritten und vierten Geschoss miteinander verbunden sind, formieren sich über zwei Höfe und schaffen eine dichte, räumlich- und programmatisch verflochtene Struktur aus privaten Wohnungen, halböffentlichen Aneignungsräumen und öffentlichen Nutzungen.
Während das Erdgeschoss mit vielfältigen gemeinschaftlichen Einrichtungen quartiersoffen ist, sind die grossräumigen Brücken den Bewohnern vorbehalten. Entstanden sind 138 einkommensabängig geförderte sowie frei finanzierte Wohnungen in fünf Häusern, die trotz des unterschiedlichen Geldbeutels ihrer Bewohner den gleichen Standard aufweisen. Wohnen kostet hier zwischen 10 und 14 Euro pro Quadratmeter, – Dachterrasse mit Alpenblick, Restaurant und Wellnessbereich inklusive. Neuland betrat man auf dem Gebiet der Wohnungstypen. Neben dem typischen Mix entstanden nach Zürcher Vorbild Cluster-Wohnungen, bei denen sich 6 bis 10 Kleinhaushalte einen grosszügigen Wohnraum mit Küche teilen. Gleichzeitig können sie sich in ihre kleine abgeschlossene Einheit mit Kochnische und Bad zurückziehen.
Die aussergewöhnliche Form der Gesamtanlage war nicht von den Architekten vorgegeben, sondern ergab sich durch einen langjährigen, auf Kooperation ausgerichteten Planungsprozess. In verschiedenen Workshops wurde immer wieder das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft ausgelotet. Dabei galt es, die eigenen Interessen zurückzunehmen und sich auf das gemeinschaftlich bestimmende Kollektiv einzulassen. Mit Schuhkartons, die jeweils die eigene Wohnung repräsentierten, visualisierten die Bewohner ihre Vision eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens. So entwickelte sich nicht nur die Idee der Brücken, das gemeinschaftliche Signum der Anlage, sondern auch die Formation aus eigenständigen Häusern, die zwei unterschiedliche Höfe umschliessen, die heute zeichenhaft das Herz der Anlage bilden.
Einfluss hatten die Bewohner auch auf die Anordnung der Fenster. Gestaltet werden durfte allerdings nicht die Fassade der eigenen Wohnung, sondern die des gegenüberliegenden Hauses. Aus Angst, in die Monotonie der gängigen Wohnbaukonventionen zu verfallen, tanzen die Öffnungen nun munter hin und her. Ist soviel geplante Zufälligkeit wirklich nötig, um den Hintergrund eines lebendigen Wohnumfelds zu kreieren?
Interessant ist jedoch, dass sich die federführenden Architekten, die ansonsten durch Klarheit und Strenge bekannt sind, auf den offenen Gestaltungsprozess eingelassen haben und der Identifikation der Bewohner mit ihrem zukünftigen Lebensumfeld den Vortritt gaben. Auf intelligente Weise entwickelten sie eine robuste Struktur, die auch manch schwieriges Detail in der Bauausführung verzeiht. Schon jetzt, nur ein Jahr nach Bezug, hat sich die Anlage in ein Lebensumfeld verwandelt, welches das ganze umliegende Quartier aufwertet.

Ulrike Wietzorrek studierte Architektur in München, Barcelona, Mexiko City und Los Angeles. Sie war bis 2009 Assistentin und Dozentin an der TU München, an der Universität Stuttgart und der Hochschule Augsburg. Sie ist Herausgeberin und Autorin zahlreicher Buchpublikationen, u.a. wohnen+ sowie typologie+, beide im Birkhäuser Verlag erschienen. Seit 2011 führt sie ein eigenes Büro in München.

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