Architektur ist … menschenlos

Daniel Klos, Johanna Benz (Illustration)

Architektur ist immer mehr als Pläne zeichnen und Gebäude errichten: Sie ist eine kollektive Disziplin, lebt gleichzeitig aber vom Engagement Einzelner, die mehr wollen als nur Bauen. In der Kolumne Architektur ist nicht Architektur nimmt uns Daniel Klos mit auf eine Expedition in wenig erforschte Gefilde und berichtet in jeder Ausgabe von einer neuen Entdeckung.

Unser Bus verlässt die ukrainische Hauptstadt Kiew. Ziel: Tschernobyl. Seit einigen Jahren bieten Reiseveranstalter unter Duldung der Regierung Erkundungstouren in die Sperrzone an. Der Dosimeter zeigt normale Werte, noch. Auf dem Bordfernseher laufen Dokumentarfilme, die die Ereignisse im April 1986 rekonstruieren: die Explosion des Kernreaktors, die Vertuschungsversuche, den verzweifelten Kampf gegen das Feuer und den verstrahlten Niederschlag, die Evakuierung des ganzen Umlandes; Tausende verloren ihr Leben, Hunderttausende ihre Heimat … Wir passieren diverse Kontrollposten, verfallene Dörfer und schliesslich den Reaktorblock Nr. 4, unter seinem neuen Deckmantel, einer silberglänzenden, 100 Meter hohen Stahltonne.
Dann erreichen wir Prypjat, die zusammen mit dem Kernkraftwerk erbaute Atomstadt. Prypjat sollte als Vorzeigeobjekt des sowjetischen Städte- und Gesellschaftsbaus dienen. Bewusst entrückt in tiefe Wälder entstand in Tabula-rasa-Manier eine mathematisch kalkulierte Idealstadt für 100 000 Idealmenschen: Ingenieure, Wissenschaftler, Techniker und ihre möglichst kinderreichen Familien. Sie bekamen moderne Wohnungen, Schulen, Läden, Sport- und Freizeiteinrichtungen. Der Leninprospekt, einst stolze Hauptallee, ist heute kaum mehr als ein verwucherter Trampelpfad. Die verlassene Stadt ist ein dichter Wald. Wohnblocks, Geschäfte und Spielplätze tauchen auf und verschwinden wieder im Dickicht wie Traumbilder, Trümmer einer untergegangenen Zivilisation.
Im Spital finden wir ein Stück Stoff. Der Dosimeter schlägt aus: 64 Mikrosievert. Hochgefährlich, auch nach 30 Jahren. Es ist Verbandsmaterial, mit dem einer der Liquidatoren behandelt wurde. Diese Lösch- und Reinigungsarbeiter mussten den Brand an der Quelle bekämpfen, um die Katastrophe einzudämmen. Unzählige starben qualvoll, manche innert Stunden, andere erst nach Jahren. Wir setzen unsere Expedition fort und entdecken ein Schulhaus. Ein Klassenzimmer ist mit Tausenden Kindergasmasken übersät. Plünderer haben sie nach der Evakuierung aus der ganzen Stadt hier zusammengetragen. Fette Beute, denn jede Maske enthielt eine wertvolle, kleine Titanscheibe. Zurück bleibt eine Art morbide Kunstinstallation. Anderswo liegen ausgeweidete Fernseher und Radios oder Berge von Papier.
Draussen surren die Mücken. Ein streunender Hund läuft vorbei. Wir betreten einen der hohen Wohntürme: vierzehn Stockwerke, jede Wohnung gleich. Tapeten, Möbel, Lampen, sogar das Plüschtierchen und die Babypuppe. Wir erreichen das Dach. Der Himmel ist wolkenverhangen. Darunter ergiesst sich wie ein dunkelgrünes Meer der unendliche Wald. Reaktor Nr. 4 schimmert am Horizont. Weite. Stille. Leere. Wir sehen, was nach den Menschen kam, wie die Natur zurückkehrte und wie die Tiere diese Natur entdeckten, für sich entdeckten. Die Stadt ruhte.
Schliesslich kommen wir zum berühmten Vergnügungspark. Auf der rostigen Stahlstütze eines Karussells klebt etwas. Es sind Sticker mit Werbung für aktuelle Rockkonzerte in Kiew. Da ein Graffiti, dort frischer Müll. Es war nicht gleich ersichtlich, aber es wimmelt von menschlicher Aktivität. Was ist diese Stadt? Erst stolze Utopie, dann düsteres Mahnmal, einsames Naturparadies und nun … Touristenattraktion? Vielleicht für uns, doch das unstete Geschick der Menschen spielt längst in einer anderen Sphäre. Entrückt, wie hinter schalldichtem Glas, scheint Prypjat geduldig zu warten. Vielleicht ist sie auch einfach nur gleichgültig.
Architektur ist menschenlos.

Daniel Klos (1980) studierte Architektur an der ETH Zürich und arbeitete bei Jean Nouvel und OMA / Rem Koolhaas. Seit 2013 leitet er zusammen mit Partner Radek Brunecký das Architekturbüro Klosbrunecký in Zürich und in
Tschechien.
Johanna Benz (1986) lebt und arbeitet als Illustratorin und Graphic Recording Artist in Leipzig

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