Architektur in der Isolation

Berufsstand und Baukultur im Tessin

Alberto Caruso, Gian Paolo Minelli (Bilder)

Das Wohnmodell des Einfamilienhauses, auf dem die international beachtete Tessiner Architektur aufbaute, hat die Landschaft des Kantons seither radikal verändert. Heute suchen Architekturschaffende einen Ausweg aus dem Nischendasein, in das sie die Immobilienbranche gedrängt hat.

Die Architekten im Tessin arbeiten heute unter schwierigen Bedingungen, die auch mit einem problematischen Verhältnis zur Landschaft zu tun haben. Diese hat sich radikal verändert seit den 1970er und 1980er Jahren, als die Tessiner Architektur international von sich reden machte. Weil sich im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit den 1960er Jahren das Siedlungsgebiet weit ins Hinterland ausbreitete, statt die Zentren zu stärken, sind die kleinen Tessiner Städte klein geblieben. Es fehlt im Tessin daher jener Boden, auf dem eine «urbane Kultur» mit ihrer Literatur, einer kritischen Tradition, den dazugehörigen Geschichten, Mythen und dem typischen urbanen Universum sozialer Zusammenschlüsse wie etwa Baugenossenschaften hätte wachsen können.

Die Politik als entscheidender Faktor

Die kleinen Häuser, die Mario Botta und Luigi Snozzi in jenen Jahren für die gehobene Mittelschicht auf den Hügeln vor den Städten bauten, sind nur die meistbeachteten Beispiele des Wohnmodells Einfamilienhaus, das sich in allen sozialen Schichten etablierte und ungehindert tausendfach über die Talsohlen und Steilhänge ausbreiten konnte. Die Diskrepanz zwischen der Hinwendung zur Stadt – einem unverzichtbaren Prinzip der Tessiner Architektur – und den realen Bedingungen des Territoriums hat dramatische Ausmasse angenommen. In einer noch zu schreibenden «materiellen Geschichte» der Architektur stünde der Wandel der ökonomischen und sozialen Bedingungen in den letzten 50 Jahren beispielhaft für eine immer weiter fortschreitende Entfremdung zwischen architektonischer Kultur und verbreitetem Wohnmodell. Auch die Architekten haben dieses gerne bedient. Doch die Hauptverantwortung für die Zersiedlung des Kantons liegt bei der Politik, die liberalistisch darauf verzichtete, den Raum zu ordnen, während kritische Stimmen schwächer wurden, wenn nicht ganz und gar verstummten.

Und doch sind die Erneuerung und der Erfolg der Tessiner Architektur in den 1970er Jahren auch oder gerade durch die Politik bestimmt worden. Der Kanton investierte damals in die Modernisierung der Infrastruktur, vor allem in ein fortschrittliches Schulsystem, er schrieb Wettbewerbe aus, die vielen jungen Architekten Gelegenheit boten, experimentelle und mutige Vorschläge zu realisieren. Damals war die Politik noch in der Lage, mit einem Ziel vor Augen eine Idee zu verfolgen und suchte nicht nur den schnellen Erfolg im kurzfristigen Konsens.

Der «doppelte Markt»

Der Zersiedelung des Kantons lag als kulturelles Phänomen der Wunsch junger Familien nach einem bestimmten Wohnmodell zugrunde, für das sich in der Stadt keine geeigneten Angebote fanden. Doch dazu gesellte sich die Spekulation: Das Aufkommen der vielen Immobiliengesellschaften ist dabei ein relativ neues Phänomen im Tessin. Diese haben allerdings einen regelrechten «doppelten Markt» für Aufträge begründet. Die «kultivierten» Architekten, jene, die regelmässig und erfolgreich an Wettbewerben teilnehmen und öffentliche Gebäude für die Kommunen und den Kanton bauen, sind von den Aufträgen der Immobiliengesellschaften praktisch ausgeschlossen. Diese ziehen es vor, ihre Projekte an Architekten zu vergeben, die nicht in Wettbewerben gewählt werden und in der Regel eher bereit sind, die vom Markt nachgefragten Programme unkritisch zu realisieren. Die Planungsbehörden wiederum beurteilen die Projekte weder hinsichtlich ihrer architektonischen oder städtebaulichen Qualitäten, noch verlangen sie, dass diese Gegenstand irgendeiner Form von Wettbewerb wären. Die einzige Prüfung obliegt der Commissione cantonale delle bellezze naturali e del paesaggio, die allerdings nur Projekte von grösserer Bedeutung begutachtet und eine lediglich beratende Funktion besitzt.

Im Tessin gibt es viele Architekten. Auf 175 Einwohner kommt einer (circa 2'000 Architekten bei total 350'000 Einwohnern) – ähnlich wie in Italien, das europaweit die höchste Architektendichte aufweist. Umgekehrt proportional dazu ist der von Architekten geplante Anteil an der gesamten Tessiner Hochbauproduktion verschwindend klein. Etwa 60 Prozent der Architekten besitzen einen Universitätsabschluss (ETHZ, EPFL und AAM), rund 35 Prozent einen Fachhochschulabschluss und fünf Prozent sind Autodidakten. Der Berufseinstieg, der bis vor kurzem durch die vielen in der Regel kleinen Architekturbüros gewährleistet war – 60 Prozent der Architekten und Ingenieure arbeiten als Selbstständige – ist schwierig geworden. Heute führt er häufig über die Planungseinheiten der Immobiliengesellschaften oder grössere Architekturbüros, die diesen zuarbeiten.

Die schwierige Beziehung zur Lombardei

Die Tessiner Architektur erzielt einige mediale Aufmerksamkeit in Italien, die auf dem Erbe der 1970er und 1980er Jahre beruht und durch die Werke der nachfolgenden Generationen erneuert wurde. Ihre Exponenten sind gern gesehene Gäste auf Mailänder Veranstaltungen. Die jungen Architekten aus dem Tessin werden für ihre Fähigkeit geschätzt, den Lehren der Meister durch Erneuerung Kontinuität zu verschaffen. Aber auch um das Schweizer Wissen und die Präzision beim Konstruieren werden sie von den italienischen Architekten beneidet.

Was den professionellen Austausch angeht, gibt es jedoch keine nennenswerten Beziehungen zwischen dem Tessin und der Lombardei, auch wenn aus Italien viel Baumaterial importiert wird – und umgekehrt die italienischen Deponien genutzt werden, um Aushub und Schutt der Tessiner Baustellen abzulagern. Ein aktueller Grund dafür sind die grossen Unterschiede bei der Kalkulation von Honoraren, die darauf hinauslaufen, dass die Arbeitskosten der Tessiner Büros weit über denjenigen in Italien liegen. Zudem ist die Arbeit von Schweizer Architekten im Ausland durch den hierzulande fehlenden rechtlichen Status des Architektentitels erschwert.

Eine Ausnahme stellt dank einer gesonderten Übereinkunft der USI mit dem Polytechnikum in Mailand das Diplom der AAM dar. Die tieferen Gründe für diese kulturelle Distanz sind aber in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit zu suchen – man denke zum Beispiel an den fehlenden Austausch zwischen den Architekten des Rationalismus in Como und ihren Kollegen im Tessin.

Im Alltag sind die Hürden zwischen dem Tessin und der Lombardei nicht zu unterschätzen. Gegen Abend, wenn die Mailänder eine der Vorstellungen im LAC (dem neuen Tessiner Kulturzentrum) in Lugano (wbw 1/2 – 2016) besuchen könnten und die Tessiner umgekehrt eine Aufführung in einem der zahlreichen Theater Mailands – genau dann stellt der TILO, der grenzüberschreitende und günstige Regionalzug, seine Fahrten ein. Als Alternative bleibt allein das Auto.

Das Tessin zwischen Nord und Süd

Was die öffentlichen Verkehrsmittel angeht, stehen sich zwei politische Richtungen an einer verhärteten Front gegenüber. Die eine will die schwierige Binnenerschliessung und die Verbindung nach Süden durch Verbesserungen der Infrastruktur für den motorisierten Privatverkehr lösen. Die andere Seite schlägt einen Ausbau des TILO zu einer Art Tessiner Metro vor. Bisher setzten sich fast immer die Ersteren durch. Die Vorteile eines intensiven kulturellen Austauschs mit der Lombardei lägen auf der Hand. Das Tessin könnte endlich aufgrund seiner zentralen Lage als Ort des Dialogs zwischen der italienischen und der näher gerückten Deutschschweizer Kultur Anerkennung finden – und nicht nur als Transitort.

Letztlich ist die Beziehung zwischen den Architekten des Tessins und ihren Kollegen in der Deutschschweiz ebenfalls ausbaufähig. Die Arbeiten der jüngsten Generation sind stark beeinflusst von der Formensprache der Kollegen in Zürich und Basel. Die beiden Welten respektieren sich und beobachten sich aus der Ferne. Immerhin konnten einige Tessiner Büros Wettbewerbe in der Deutschschweiz für sich entscheiden und sich auf nationalem Parkett behaupten.

Der wiederentdeckte Bürgersinn

Wie kann das Tessin diese Bedingungen der beruflichen Isolation und der fehlenden Kommunikation zwischen architektonischer Kultur und Realität im Wohnungsmarkt überwinden? Der jetzige Zeitpunkt ist für eine mögliche Antwort besonders wichtig, weil das seit langem von der Schweizer Politik geforderte und von den Architekten gestützte Konzept der Nachverdichtung nun auch die hiesigen Institutionen erobert. Wenn dieses allerdings nur als Erhöhung von Ausnützungsziffern interpretiert wird und nicht als Instrument der Raumplanung, das mittels Projektierung im grossen Massstab ordnet und neue Zentralitäten schafft, wird die Verdichtung die Entwertung der bebauten Landschaft verstärken und diese für noch schwerwiegendere spekulative Eingriffe öffnen. Die Baukultur würde dabei weiterhin aussen vor bleiben.

Seit einigen Jahren werden allerdings Zeichen eines Erwachens des kritischen Denkens sichtbar. So haben SIA, BSA und OTIA (Ordine degli Ingegneri e Architetti ticinesi) die CAT (Conferenza delle Associazioni Techniche del Canton Ticino) mit einer operativen Struktur versehen, die sie nun in vertraglichen Verhandlungen und im Kampf um die öffentliche Meinung stärkt. Das ist gut in Zeiten, in denen die Politik wachsendes Interesse an einer landschafts- und städteplanerischen Neuordnung zeigt. Gerade unter den jungen Architekten wächst das Bewusstsein, dass es notwendig ist, den Beruf gegenüber neuen Horizonten und anderen Berufsfeldern zu öffnen, das bislang vorherrschende aristokratische Gebaren aufzugeben und die Distanz zur Welt der Immobilienbranche abzubauen. Diese muss in die Architektenpraxis einbezogen und in die Pflicht genommen werden, etwa indem man, wie der BSA vorschlägt, für private Entwicklungsprojekte in sensiblen Lagen Wettbewerbe vorschreibt. Das neue Engagement der Verbände ist ein Zeichen der Wiederentdeckung des Bürgersinns, der sozialen Verantwortung des Berufsstandes und der Notwendigkeit einer politischen Einmischung.

Alberto Caruso (1945) hat am Polytechnikum in Mailand studiert und führt dort ein Architekturbüro mit Elisabetta Mainardi. Von 1996 bis 1997 war er Chefredaktor der Rivista Tecnica und von 1998 bis 2017 von Archi, der italienischsprachigen Publikation des SIA.

Gian Paolo Minelli (1968) fokussiert auf seinen Erkundungstouren die unschöne Alltagsrealität im Kanton, an der Touristen ebenso wie Einheimische gern vorbeischauen. Seine Bilder zeigen keine Palmen oder Rebberge, keine Madonna del Sasso, keine Kastanienhaine oder Bergdörfer und auch keine stillen Alpweiden. Der vielfach preisgekrönte Fotograf ist dort unterwegs, wo das Territorium geldwertes Bauland geworden oder zum schmalen Vorgarten hinter wehrhaften Lorbeerhecken geschrumpft ist. Minelli geht nahe an die Dinge heran, analysiert mit präzisem Blick bauliche Kollisionen, lieblos hinterlassene Resträume und verletzte Landschaften. Minelli hat die Bildstrecken zu diesem Heft fotografiert.

Advertisement

Subscribe to werk, bauen + wohnen and don't miss a single issue, or order this issue.