Schönheit der Effizienz

Haus in Morumbí von Hélio Olga und Marcos Acayaba

Annette Spiro, Nelson Kon (Bilder)

Am kaum bebaubaren Steilhang bauten der Ingenieur Hélio Olga und der Architekt Carlos Acayaba ein Haus als Brücke in einer modularen Bauweise.

Morumbí ist der Name eines Stadtteils in Sáo Paulo und bedeutet in Tupí, der Sprache der brasilianischen Ureinwohner, «grüner Hügel». Noch immer zeugen einzelne unbebaute Parzellen vom Urwald, der die hügelige Landschaft einst bedeckte.1 Eines dieser raren Grundstücke liegt an einem steilen Hang und ist für Baumaschinen unzugänglich. Ingenieur Hélio Olga beobachtet die erfolglosen Versuche seines Nachbarn, die Parzelle zu bebauen und kauft sie dem verzweifelten Eigner kurzerhand ab. Für den Ingenieur ist der prekäre Baugrund eine willkommene Herausforderung – nicht zum ersten Mal erweist sich ein scheinbar unüberwindbares Hindernis als Auslöser für eine erfinderische Konstruktion.

Olga wendet sich an den Architekten Marcos Acayaba. Für den Architekten ist der Ingenieur kein Unbekannter. Von seinen experimentellen Holzbausystemen hat er bereits gehört. Acayaba wiederum hat gerade eine Serie von Häusern publiziert und sich dabei mit ökologischen Fragen und schwierigen baulichen Ausgangslagen beschäftigt. Die beiden sind sich einig: einfache Montage, tiefe Kosten, keine Materialverschwendung, kurze Bauzeit! Das Baumaterial ist bereits gesetzt, denn Hélio Olga ist auch Holzbauunternehmer und gewillt, die Verantwortung für Konstruktion und Ausführung selbst zu übernehmen.

In absoluter Balance

Seine erste Skizze zeigt ein Haus parallel zum Hang. Bei der extremen Topografie liegt diese Stellung nahe, ungünstig ist hingegen die Ausrichtung zur Sonne. Architekt Acayaba stellt das Haus nun quer zum Hang und spitzt so die prekäre Ausgangslage noch zu. Was ihm dabei vorschwebt, zeigt er Olga anhand zweier Häuser von Craig Ellwood, des Smith House und des Weekend House, mit denen Ellwood seinerseits an das Glass House on a Hillside von Ludwig Mies van der Rohe anknüpfte. Alle drei Häuser heben sich vom Baugrund ab, Ellwoods Weekend House überspannt gar eine Schlucht. Doch Mies’ Haus war nie mehr als eine vage Skizze, und auch das Weekend House blieb eine hypothetische Konstruktion. Acayaba aber treibt die Idee eines schwebenden Leichtgewichts weiterhin um. Monatelang diskutieren die beiden, Ingenieur und Architekt, über ein Modell, das Olga eigenhändig gebaut hat. Gemeinsam entwickeln sie Lösungsvorschläge für die Konstruktion und ihre Verankerung im abschüssigen Terrain.

Dabei gehen sie weiter als die Vorbilder Ellwood und Mies. Deren Häuser sind fest im Hang verankert und kragen einseitig aus, das Weekend House liegt gar wie ein Fachwerkträger auf beiden Talseiten auf. Das Haus Olga hingegen steht wie der Mittelpfeiler einer unfertigen Brücke auf einem einzigen Fuss. Ein paar freigespielte Treppenstufen überbrücken die Lücke zwischen Eingang und Strasse, zwischen Haus und Terrain – die Tragstruktur aber steht frei! Einer Tänzerin auf der Fussspitze gleich verharrt das Haus in absoluter Balance. Wie bei einem Fluggerät sind Leichtigkeit und Gleichgewicht zentral. Seine endgültige Zeichnung nennt Acayaba eine Hommage an den brasilianischen Flugpionier Alberto Santos-Dumont. Dessen 14-bis genanntes Experimentalflugzeug beruht auf dem Prinzip des Kastendrachens.

Flugmaschinen und Wolkenbügel

Eine Flugmaschine als Referenz für ein Wohnhaus? Spielt hier der alte Traum einer Architektur, die sich den Gesetzen der Schwerkraft widersetzt? Oder ist es die Faszination für Luftmaschinen und Wolkenbügel, wie wir sie von den Konstruktivisten kennen? Vielleicht gar das Konzept einer anderen Lebensweise, wie sie Buckminster Fuller mit seinen Lightful Houses verfolgte? Die konstruktivistischen Projekte mit ihren forcierten Tragstrukturen setzten eher auf die Bildkraft des Ingenieurbaus als auf die Optimierung der Tragstruktur. Das Haus Olga aber ist tatsächlich eine Art Kastenkonstruktion wie Santos Dumonts Fluggerät. Sind dort die Kästen mit Tuch bespannt, um den Luftstrom zu lenken, ist die textile Bespannung beim Haus Olga durch diagonale Zugelemente ersetzt. Das Prinzip der Versteifung ist dasselbe. Die Hommage an den Flugpionier ist keine formale Analogie, sondern das Resultat einer radikalen Optimierung von Trag- und Raumstruktur.

Nur 45 Tage brauchen drei Handwerker, um das Haus zu erstellen, ohne Baukran und ohne Gerüst. Die Tragstruktur selbst ist das Baugerüst und ersetzt zugleich den Baukran. Sechs Betonpfähle bilden das Fundament und tragen das gesamte Gebäude. Geschoss um Geschoss werden die auskragenden horizontalen Elemente montiert und mit der Diagonalverstrebung den Böden und Decken geben das Geheimnis des Zwischenraums in der Konstruktion frei: Durch sie zirkuliert die Frischluft aus der Zwischenschicht, alleine durch Konvektion. Das ist ein wichtiges Detail im feuchtwarmen Klima und in der exponierten Lage.

Industrieller Prototyp

Obwohl massgeschneidert auf die einmalige Situation, ist die Konstruktion als industrieller Prototyp gedacht. Der handwerklich rustikale Charakter der traditionellen Holzarchitektur fehlt. Damit unterscheidet sich das Haus Olga grundlegend von den Holzhäusern der brasilianischen Moderne. Reine Holzkonstruktionen sind selten, Holz gilt als minderer Baustoff und wird vor allem für Fensterrahmen, Brise-soleil und Dachstühle gebraucht. Die Geschichte des Holzbaus steht bis heute im Schatten der viel bekannteren Betonarchitektur. Daran vermögen auch Meister wie Lúcio Costa, Oswaldo Bratke, Zanine oder der im Amazonas tätige Mário Severiano Porto nichts zu ändern. Ihre Werke schöpfen Sprache und Konstruktionsweise aus der vernakulären Architektur Brasiliens – nicht so Olgas Haus. Das Haus erinnert eher an japanische Holzbauten.

Marcos Acayaba bezieht sich auf die Holzbautradition Japans und deren bereits im 11. Jh. praktizierte modulare Bauweise mit standardisierten Elementen und Verbindungen. Er sieht darin einen Vorläufer der industriellen Vorfertigung, wie sie Olga mit seinen Bausystemen verfolgt. Den japanischen Einfluss entdeckt er überraschend sogar im kolonialen Erbe Brasiliens: «In Ouro Preto gibt es viele Häuser in einer Art Fachwerk, mit Holz- oder Bambusgeflecht und Lehmbewurf. Dies ist eine typisch japanische Konstruktion, in Portugal gab es das nie, es gibt Stein- oder ganze Lehmbauwerke, massive Mauern, aber keine Holzstruktur mit Lehmbewurf.»2 Acayabas kühne These: die in der Kolonialzeit prägenden Jesuiten haben auf ihren Reisen auch Japan besucht und dabei das Gesehene nach Brasilien gebracht.

Nicht nur die modulare Struktur des Hauses von Hélio Olga, sondern auch die Holzverbindungen mit ihren komplexen Einschnitten erinnern an traditionelle japanische Holzknoten. Erst in den Eplosionszeichnungen zeigt sich die vielschichtige Fügung der Steckverbindungen.3 In die Knoten sind kleine Stahlelemente mit diagonalen Einschnitten zur Verankerung der Zugstangen integriert. Da alle Holzelemente die gleiche Länge und den gleichen Querschnitt haben, werden sie je nach Krafteinwirkung doppelt oder dreifach geführt. Damit muss auch der Montageablauf auf der Baustelle miteingeplant werden. Alle diese Anforderungen in einem eleganten Knoten zusammenzubringen, ist ein wahres Bravourstück der Holzkonstruktion.

Einheit von Tragwerk und Raum

Für Olga steht nicht der handwerkliche Ausdruck des Naturmaterials Holz im Vordergrund, sondern dessen Leistungsfähigkeit. Nicht einfach das Bauen am steilen Hang ist das Ziel – mit grossem Aufwand ist alles möglich. Vielmehr soll der prekären Situation mit einem Minimum an Material und Aufwand das äusserste an Effizienz und Ausdruck abgerungen werden. Damit steht Olga in der Tradition von Ingenieuren wie Pier Luigi Nervi oder Mahendra Raj. Schwierige Bedingungen stachelten diese zu Erfindungen und neuartigen Konstruktionen an. In der Kriegszeit, als Stahl Mangelware wurde, ersann Nervi seine weitgespannten Hallen; mangels industrieller Ressourcen erstellte Mahendra Raj in Indien seine filigranen Bauten in Ortbeton. Ob in der verborgenen Armierung eines Betonknotens oder in der unsichtbaren Fügung einer Holzverbindung – die Schönheit einer Ingenieursarbeit ist nicht an den Baustoff gebunden. Mit seinem prototypischen Charakter und der Vorfabrikation eröffnet das Haus Olga dem Holzbau neue Möglichkeiten und hat viele junge Architekten inspiriert. In den letzten Jahren sind in Brasilien aussergewöhnliche Holzbauten entstanden, und ein vergleichsweise vernachlässigtes Baumaterial macht dem allgegenwärtigen Beton unerwartet Konkurrenz. Dabei könnte der Kontrast der fragilen Stabwerke zu den massiven Betonbauten kaum grösser sein. Doch in den so unterschiedlichen Architekturen finden sich überraschend Gemeinsamkeiten: das Schweben der schweren Masse, der fragile Balanceakt, die Minimierung des Auflagers auf wenige Punkte. All dies sind auch charakteristische Eigenschaften der Betonbauten des brasilianischen Brutalismus und der Escola Paulista. Das wesentlichste Merkmal liegt in der Einheit von Tragstruktur und Raum. Sie zeichnet die brasilianischen Betonarchitekturen ebenso aus wie die fragilen Holzkonstruktionen von Acayaba und Olga. Ingenieurskunst und Architektur sind in ihren Bauten aufs engste verbunden und führen das schwergewichtige brasilianische Erbe mit leichter Hand weiter.

Annette Spiro ist Architektin und Professorin für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich. Gemeinsames Architekturbüro mit Stephan Gantenbein in Zürich. Autorin und Herausgeberin mehrerer Bücher, u.a. Paulo Mendes da Rocha, Bauten und Projekte, Sulgen 2002.

1 Nicht weit entfernt steht die Casa do vidro von Lina Bo Bardi, 1950–51, vgl. wbw 6–2012

2 Zitat aus: Mônica Junqueira de Camargo, Madeira na Arquitetura Moderna Brasileira, Taís de Moraes Alves, graduanda, FAU USP 2014 (Dissertation)

3 Einer dieser Knoten wurde von Studenten der HSLU nachgebaut und ist in der Ausstellung Holzverbindungen an der ETH Zürich zu sehen.

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