Bengalischer Strom

Vibrierende Architekturszene in Bangladesch

Niklaus Graber (Text und Bilder)

Abseits der internationalen Aufmerksamkeit hat sich am Gangesdelta ein Architekturschaffen etabliert, das die eigene Geschichte und internationale Einflüsse verbindet und auf die drängenden sozialen Fragen des Landes relevante Antworten sucht.

Auf der Weltkarte der Architektur sind die aktuellen Entwicklungen im tropischen Deltagebiet Bangladeschs bislang kaum präsent, doch das dürfte sich dank der stupenden Werke einer vibrierenden Architekturbewegung in naher Zukunft ändern. Der Output dieses Bengal Stream ist nicht nur architektonisch äusserst brisant, sondern zeugt von einer hohen gesellschaftlichen Relevanz der Disziplin.

Hierzulande erschöpfen sich architektonische Debatten oft entweder in mit Normen unterfütterten technischen Details oder aber in Formalismen, die durch eine vordergründige Bildhaftigkeit geprägt sind. Selten werden relevante Fragestellungen auf einer substanziellen, strukturellen oder räumlichen Ebene beantwortet. Ab und zu ist es deshalb notwendig, zum eigenen Wirkungsfeld auf kritische Distanz zu gehen, um gleichsam eine Aussensicht auf den subjektiven Kosmos zu suchen.

Bangladesch ist vielen von uns bis anhin vielleicht durch die Bauten Louis Kahns in Dhaka begegnet. Darüber hinaus bleiben flüchtige Notizen in der Tagespresse haften: Berichte über Flutkatastrophen, Umweltsünden oder unmenschliche Verhältnisse in der Textilindustrie. So kann der Eindruck entstehen, als ob dieses sogenannte Schwellenland in seiner Entwicklung auf der Stelle trete. Doch selbstverständlich ist im Ganges-Delta die Zeit nicht stehen geblieben. Das Tempo der Entwicklung zu einem Mitspieler im globalen Netzwerk übersteigt vielmehr die westliche Vorstellungskraft bei weitem.

Alles im Fluss

Dass in Bangladesch noch viele Herausforderungen zu meistern sind, ist unbestritten. Und täglich kommen durch globale Zusammenhänge neue Hürden dazu. Auf die fundamentalen, landschaftlich, städtebaulich und architektonisch brisanten Fragen liefert eine wachsende Gruppe verantwortungsbewusster Architekten Antworten, die nicht nur lokale Gültigkeit besitzen.

Das Territorium Bangladeschs, flächenmässig kaum halb so gross wie Deutschland, weist mit seinen 160 Millionen Einwohnern eine doppelt so grosse Bevölkerungszahl auf. Es liegt im grössten Deltagebiet der Erde. Wasser ist in Form von über 700 Flüssen, dem Meer und dem Fruchtbarkeit bringenden Niederschlag des Monsuns ein allgegenwärtiges Element. Es hat nicht nur die Landkultivierung, das Bauen oder die Transportwege beeinflusst, sondern ist ebenso tief der Kultur der Bangladeschi eingeschrieben. Die Grenzen zwischen Land und Wasser sind unscharf und verändern sich im Laufe der Jahreszeiten stetig. Auf diesem Stück lehmiger Erde, das unablässig akkumuliert und erodiert wird, scheint im wahrsten Sinne des Wortes alles im Fluss zu sein. Wasser ist Segen, aber auch Bedrohung. Als wichtigste Lebensgrundlage unabdingbar, stellt es in Form von Flut und Sturm eine ständig wiederkehrende Gefahr
dar. Aus diesen hydrologischen Umständen und unter dem Einfluss des tropischen Klimas hat sich eine eigentliche Delta-Architektur entwickelt, die dem Wasser Raum lässt, aber auch Schutz vor ihm bietet.

Bangladeschs Architektur fängt eigentlich bereits bei der Urbarmachung und Vereinnahmung der Landschaft mittels Dämmen und Landaufschüttungen an. Sie ist gewissermassen immer auch Landschaftsarchitektur, und neben der räumlichen Thematisierung von Landmassen geht es genau so stark um diejenige des Wassers.

Bungalow als Vorbild

Gerade in jüngster Zeit sind Bauten entstanden, welche aufs Unmittelbarste auf den fluiden Kontext eingehen und aufzeigen, dass wachsende Ansprüche an Bildung, Sicherheit oder Komfort nicht im Widerspruch zu den natürlichen Umständen im Gangesdelta stehen müssen. Eine amphibische Schule bei Savar von Saif Ul Haque, der Cyclone Shelter in Kuakata von Kashef Chowdhury oder der Loom Shed von Archeground zeigen, wie Tradition und Erfindergeist in höchst funktionaler Weise poetisch miteinander verwoben werden.

Ausgehend von der Chala, der bengalischen Hütte, hat sich eine Bauform entwickelt, die von englischen Kolonialherren als Bungalow in den weltweiten Sprachgebrauch exportiert wurde. Die dem Tropenklima angepasste Porosität des Bungalowtyps führt zu einer räumlichen Offenheit, die das Gebäude und sein Umfeld eng miteinander verknüpfen. In vielen zeitgenössischen Bauten ist die strukturelle Referenz des Bungalowtyps präsent und führt zu Gebäuden, die auf einem Lowtech-Ansatz basieren. Selbst bei Hochhäusern bildet der Bungalow ein sinnvolles Ausgangsmaterial: In gestapelter Form sorgt er für Massstäblichkeit und erhöht wirkungsvoll die Eigenverschattung der Fassadenflächen.

Da es im Schwemmland des Deltas keine Natursteinvorkommen gibt, hat sich die Baugeschichte der Region aus den Rohstoffen Bambus, Holz und Lehm entwickelt, die – neben dem in urbanen Ballungszentren verbreiteten Beton – auch heute noch die Grundsubstanzen der Bauproduktion stellen. Neben dem vernakulären Bauen hat sich über die Jahrhunderte auch eine monumentale Backsteintradition entwickelt.

Die ganzjährig hohen Temperaturen und das gleissende Sonnenlicht mögen mit ein Grund dafür sein, dass in zeitgenössischen Positionen eine grosse Virtuosität in der Lichtführung und der Raumentwicklungen auszumachen ist.

Die gebrochenen Formen des Friendship Centre in Gaibhanda von Kashef Chowdhury zum Beispiel erhöhen die Gebäudeabwicklung und lassen eine effektive Querlüftung durch das dichte Gewebe der Backsteinpavillons zu. Daraus entsteht ein spannungsvolles räumliches Gefüge, welches mit überraschenden Durchblicken, Querbezügen und Lichtführungen aufwartet und im Ruralen wie im Urbanen angesiedelt scheint. Die eindrückliche räumliche Wirkung einer porösen Erdigkeit und einer indirekten Lichtführung ist auch in der Bait Ur Rouf-Moschee im Norden Dhakas erlebbar. «Daylight ist for free», sagt die Architektin Marina Tabassum, «why should we not work with it?»

Architektur der Zeitlosigkeit

Der Architektur in Bangladesch scheint nicht nur eine hohe räumliche Durchlässigkeit eigen zu sein, sondern ebenso eine zeitliche. Es gehört zu den grossen Qualitäten vieler Architekten, sich bewusst mit der Geschichte auseinander zu setzen und gleichwohl radikal moderne Gebäude zu entwerfen. Begegnet man ihren Bauten zum ersten Mal, ist die genaue Entstehungszeit oder das Alter ihrer Entwerfer oft nicht genau verortbar und nicht selten stellt sich ein wohltuendes Gefühl von Zeitlosigkeit ein.

Das heutige Bangladesch, das nach einem blutigen Unabhängigkeitskrieg gegen Pakistan erst seit 1971 als eigenständiges Land existiert, ist in der Jahrhunderte alten Kultur des indischen Subkontinents verwurzelt und als junge Nation gleichzeitig von einer dynamischen Aufbruchstimmung beflügelt.

Die ambivalenten Momente von Tradition und Aufbruch sind in der aktuellen Architekturproduktion gleich starke Triebfedern. Bei der Suche nach dem «Bengalischen Moment» sind sich Architekten in Bangladesch selbstverständlich der Tatsache bewusst, dass es nicht nur um die Suche nach der Identität ihres eigenen Landes geht. Der bengalische Kulturraum ist unabhängig von politischen Grenzziehungen und umfasst auch Westbengalen, das zu Indien gehört.

Tradition und Aufbruch: Muzharul Islam

Dass in der Architektur das bengalische Erbe auch in der postkolonialen Zeit nicht ausgelöscht wurde, ist wesentlich dem charismatischen Architekten, Denker und Lehrer Muzharul Islam (1923 – 2012) zu verdanken. Islam, der in den 1950er Jahren in Portland / Oregon, in London und an der Yale University studiert hatte, plädierte für eine moderne Architektur, die dem Klima und der Kultur des Deltas gerecht wird, ohne jedoch in Provinzialität oder unreflektierten Internationalismus zu verfallen.

Seinem Selbstverständnis eines interkulturellen Dialogs entsprach es, internationale Protagonisten wie seinen Lehrer Paul Rudolph, den Klassenkameraden Stanley Tigerman und schliesslich Louis Kahn für wichtige Bauaufgaben in seine Heimat zu holen. Indem er darauf verzichtete, die ihm anvertraute Planung des neuen Regierungsviertels Dhakas im damaligen Ostpakistan selber zu übernehmen, um stattdessen Louis Kahn den Vortritt zu lassen, war der Weg zur Entstehung des eindrücklichsten Gebäudes des 20. Jahrhunderts geebnet. Nicht nur die schicksalhafte Verbundenheit mit der Entstehung einer neuen Nation, welche just in die Bauzeit des Parlamentsviertels fiel, sondern auch Kahns meisterhafte Übersetzung lokaler Elemente in eine universelle Räumlichkeit sorgen dafür, dass die Bauten in Sherebanglanagar bis heute eine feste Referenz im Schaffen vieler Architekten in Bangladesch darstellen.

Die Beziehung aktueller, zeitgenössischer Werke zur historischen Architektur basiert ähnlich wie bei Muzharul Islam oder Kahn nicht auf einer formalen Übernahme oder auf Mimesis, sondern auf strukturellen Prinzipien. Durch den Rückgriff auf Essenzielles oder, wenn man so will, auf die DNA des Bauens im Delta werden Wesensverwandtschaften hergestellt, die Epochen überspannen und Bauten mit unterschiedlichsten Programmen in einen übergeordneten Zusammenhang stellen. Grundtypologien werden dabei kritisch überprüft, weiterentwickelt und an heutige Bedürfnisse und Herausforderungen angepasst.

Stadt, Land – Stadtlandschaft, Landschaftsstadt?

Auch wenn die heutige Architektur auf einem geschichtlichen Fundus aufbauen kann, muss sie aktuell taugliche Antworten auf neu aufkommende Fragen beantworten. Dass mittlerweile mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung in städtischen Ballungsräumen leben, bedeutet im Fall Bangladeschs eine doppelte Herausforderung. Zum einen hat man sich mit den Hyperdichten von Dhaka und anderen Städten zu befassen – und erst recht gilt es nicht zu vergessen, dass noch immer gegen 75 Prozent der Bangladeschis auf dem Lande leben.

Schätzungsweise gegen 18 Millionen Einwohner zählend, ist das Wachstum des stets am Rand des Kollapses stehenden Molochs Dhaka unabsehbar. Laut Prognosen wird die Stadtregion im Jahr 2030 eine Einwohnerzahl von nahezu 30 Millionen erreichen. Dhaka weist heute eine durchschnittliche Bevölkerungsdichte von 30 – 40'000 Einwohnern pro km2 auf. Angesichts solcher Zahlen darf man sich fragen, was genau Zeitgenossen, die wie in Zürich oder Berlin mit zehnmal geringeren Dichten auskommen dürfen, mit dem Wort «Dichtestress» meinen.

Tropengerechte Bauweisen

Die urbanistischen und sozialen Herausforderungen in den Eingeweiden Dhakas sind gigantisch – und einmal mehr sind intelligente architektonische Ansätze gefragt, die sich trotz horrender Bodenpreise mit der «Entdichtung» von Bauten und Freiräumen beschäftigen. Neuere Wohnoder Bürogebäude von Bashirul Haq, Nahas Khalil, Ehsan Khan oder Rafiq Azam zeigen, dass es zum endlos repetierten, voll klimatisierten Schachtelgebäude tropengerechte Alternativen gibt, die ohne viel Technik auskommen. Zerklüftete Grundrisskonfigurationen und Überhänge im Schnitt werden dazu genutzt, Luftzirkulation und Grün in die Vertikale zu transportieren und eine der Kühlung zuträgliche Oberflächenvergrösserung zu erzeugen. Angesichts der häufigen Stromausfälle sind solche Lösungen besonders widerstandsfähig.

Architekten und ihre Berufsverbände haben als kritische Instanz auch immer wieder den Mut, unausgegorene staatliche Planungen öffentlich zu hinterfragen und mit ihren Entwürfen den Weg zur Verbesserung der öffentlichen Freiräume zu weisen: Man ist nicht länger gewillt, in weltweiten Städte-Rankings zur Lebensqualität den hintersten Platz einzunehmen.

Wirkliche Linderung für die aus allen Fugen geratende Stadt kann letztlich nur eine landesweit koordinierte Strategie bringen, die dezentral attraktive Subzentren etabliert und verhindert, dass die grossen Städte von Landflüchtigen überrannt werden. Diskussionen über die Entwicklung der Stadtregionen können nicht ohne den ernsthaften Einbezug der Landregionen geführt werden. Durch die Verbesserung der Lebensumstände auf dem Land kann nicht nur der Landbevölkerung, sondern auch den unter Druck geratenen Städtern geholfen werden. Viele Architekten beschäftigen sich deshalb intensiv mit der Frage, wie die Lebensform der Landbevölkerung zeitgemäss respektiert werden kann. Solche Diskussionen thematisieren das Verhältnis von Stadt und Land mit zum Teil ungewohnten Herangehensweisen, die auch für viele andere Orte der Welt von Interesse sein dürften. Der im ländlichen Süden tätige Architekt und Landschaftsplaner Khondaker Hasibul Kabir etwa setzt auf Co-Creating mit den Nutzern: «Meine Handschrift muss nicht sichtbar sein, gute Architektur ist oftmals eine Arbeit im Schatten».

High and Low

Durch die enormen Unterschiede zwischen Stadt und Land und die Einkommenskluft, die das Land derzeit zu zerreissen droht, sind die Architekten Bangladeschs mehr denn je angehalten, sich in verschiedensten Metiers auszukennen und in multidisziplinären Teams den Lead zu übernehmen. Sie kennen denn auch keine Berührungsängste, wenn es darum geht, die unterschiedlichsten Felder zu bearbeiten. Partizipatorische Low cost-, Umweltoder Sozialprojekte werden häufig von denselben Personen in Angriff genommen, die auch Aufträge aus dem wachsenden urbanen Hochpreissegment erhalten.

Überhaupt scheint es keinen Unterschied zwischen sozialem oder umweltpolitischem Engagement und der «guten Form» zu geben; Architekten stellen ihre Fähigkeiten in den Dienst der Mittellosen. Mit angemessenen Mitteln schaffen sie Lebensräume, die nicht nur pragmatisch und zweckmässig sind, sondern die mittels sinnvollen Konstruktionsdetails, guten Proportionen und stimmungsvollen Lichtführungen einfachsten Lebensumständen Würde und Respekt verleihen. Runa Khan, die als Leiterin der Hilfsorganisation Friendship auf qualitätsvolle Architektur setzt, drückt die Ethik vieler Architekten aus: «The poor are too poor for poor solutions.»

Lokales Handeln, globale Relevanz

Was das gegenwärtige Architekturschaffen in Bangladesch charakterisiert, scheint einer dichten Überlagerung verschiedenster Sedimente zu entspringen. Schicht für Schicht mischt sich Lokales mit Globalem, Vergangenes mit Künftigem. Wie bei einem Aquarell bleiben die verschiedenen Schichten mehr oder weniger dominant sichtbar und entfalten eine synchrone Wirkung. Im Gangesdelta scheint man sich bewusst zu sein, dass jede Art von lebendiger Kultur ein Amalgam aus Eigenem und Fremdem ist und dass die architektonische Evolution mit einem Transfer über Grenzen hinweg gefördert wird.

Vieles mag in der spezifischen Geografie und der bewegten Geschichte des Landes begründet sein. Trotzdem kann Bangladesch nicht als Sonderfall abgetan werden: Die Vielzahl an schwierigen, global verursachten Fragestellungen, mit denen sich Bevölkerung und Planer auseinander zusetzen haben, macht Bangladesch zu einem universellen Fallbeispiel. Das Denken einer bisher kleinen Architekturbewegung könnte zu einem globalen Vorbild architektonischen Handelns werden.

Mit ur-architektonischen Mitteln wie Raum, Licht und Proportion beweisen die Exponenten des Bengal Stream, dass Architektur imstande ist, relevante Antworten auf brennende gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Fragestellungen zu liefern. Die gedankliche Reise in die sich kontinuierlich verändernde Deltalandschaft Bangladeschs könnte ein Erlebnis werden, das bisherige Ansichten und Überzeugungen im wahrsten Sinne des Wortes zu unterspülen im Stande ist und zu neuen Erkenntnissen führt. Die architektonische Weltkarte hat in den vergangenen Jahren markante Verschiebungen erfahren. Was vor kurzem noch als entlegener Nebenschauplatz erschien, ist morgen vielleicht schon ein Mittelpunkt architektonischer Relevanz.

Niklaus Graber (1968) studierte an der ETH Zürich sowie an der Columbia University New York und führt mit Christoph Steiger seit 1995 das Büro Graber & Steiger Architekten in Luzern. Er ist Gastdozent am Bengal Institute for Architecture, Landscape and Settlements in Dhaka.

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