Autonom in Gemeinschaft

Hausgemeinschaft «Füfefüfzg» in Bern

Paula Sansano, Istvàn Balogh (Bilder)

Was Gelassenheit im Alter ermöglicht: Zu Besuch bei der Hausgemeinschaft «Füfefüfzg» im Berner Lorraine-Quartier.

Nur wenige Schritte vom Nordring entfernt steht die dreiteilige Reihenmietshauszeile aus dem Jahr 1876 des Berner Architekten Johann Carl Dähler. Die Bauherrschaft ist laut Inventarblatt unbekannt, die städtische Denkmalpflege hat die Häuserzeile in den 1980er Jahren als erhaltenswert eingestuft, bedauert aber den Verlust einiger Baudetails.

Eingang von der Rückseite

Wer neben den Häusern Lagerweg 7 und 9 die Nummer 11 sucht, wird sie nicht finden. Der alte Hauseingang ist stillgelegt, der knappe Vorgarten und die Fassade sind üppig eingewachsen, die gestemmte Eingangstür kaum sichtbar. Die Fenster mitsamt den Klappläden und den Laibungen sind in abgestimmten Pastellfarben gestrichen. Vor rund 20 Jahren haben die Berner Architekten Sonja und Urs Grandjean gemeinsam mit drei Freunden das Wohnhaus am Lagerweg 11 und das gegenüberliegende zweistöckige Bürohaus am Schulweg 14 erworben und für die Hausgemeinschaft «Füfefüfzg» umgebaut. Sie selbst und ihre Mitgründerinnen standen an der Schwelle zum Pensionsalter, ihre Einfamilienhäuser in Berner Vororten hatten sich mit dem Auszug der Kinder geleert. Gemeinsam suchten sie nach einer gemeinschaftlichen Wohnform auf kleinerer Fläche mitten in der Stadt. Im Berner Lorraine-Quartier wurden sie schliesslich fündig.

Den Architekten war es wichtig, beide Häuser über den gemeinsamen Hof zu erschliessen, also wurde eine Adressänderung beantragt. Wenn heute auf den Lagerweg 7 und 9 also der Schulweg 14 A folgt, ist das ein erster Hinweis auf die vielschichtige Umdeutung eines Häuserblocks in der vorderen Lorraine – einem Quartier, das im 19. Jahrhundert auf halbländlich-ungeregelte Art gewachsen war.

Das Grundstück der Hausgemeinschaft «Füfefüfzg» ist 12 Meter breit und rund 60 Meter tief. Entlang beider Längsseiten erstrecken sich die Gärten und Nebenbauten der Nachbarhäuser. Der blickdichte Bretterzaun zur Strasse, wenn auch pastellfarben gestrichen, wirkt wenig einladend. Erst das orange Schild über dem Tor des alten Hauses weist auf die Hausgemeinschaft hin. «Am Anfang haben wir alles verriegelt», erinnert sich Sonja Grandjean, die mit ihrer Familie dreissig Jahre in der Halensiedlung gelebt hat, «ich hatte Respekt vor dem Quartier». Bis Ende der 1990er Jahre stand die Lorraine im Ruf, Arme, Arbeitslose und Alternative anzuziehen. Die gleich um die Ecke domizilierte Berner Zeitung benutzte den abfälligen Ausdruck «A-Quartier».

«Chaos» im Zentrum

Wer durch das «Füfefüfzg»-Tor tritt, versteht sofort, dass hier die Schönheit der Gegensätze kultiviert wird. «Früher stand da eine Tanksäule, und überall waren Parkplätze und Garagen», beschreibt Urs Grandjean den ursprünglichen Zustand des Hofs, der sich inzwischen zu einem verwunschenen Garten entwickelt hat. In einem niedrigen Gewerbebau aus den 1950er Jahren wurden im ersten Stock eine 4 1/2-, im Erdgeschoss eine 2-Zimmerwohnung eingebaut, gleich daneben das Gästezimmer der Hausgemeinschaft und vor allem ihr Gemeinschaftsraum mit Küche, alles ebenerdig und so zentral, dass «wer nach Hause kommt, am Gemeinschaftsleben teilnimmt oder umgekehrt», meint Grandjean augenzwinkernd.

Die Frage, die sich daraus ableiten lässt: Welche räumlichen Strukturen sind unerlässlich, damit die Selbstorganisation der Hausgemeinschaft zustande kommt? «Chaos und der Hof sind die Hardware, unsere Ideen die Software», erklärt Grandjean. Die Rede ist vom Gemeinschaftsraum, der «Chaos» genannt wird. Das steht für die Auflösung der alten Ordnung. «Wir sind hier, um etwas Neues zu wagen.» Neu ist auch der Wohnhof, ein durchgrüntes Idyll, das die beiden Häuser verbindet. Von Frühling bis Herbst treffen sich hier die Hausbewohner und Hausbewohnerinnen und ihre Gäste. Hier wird diskutiert, getrunken und bei Vollmond mit Menschen aus dem Quartier eine Suppe geteilt – hier ist das Leben.

Individualität ermöglichen

Ein leicht abfallender Weg, eine Rampe entlang einer von Moosen und Farn bewachsenen Sandsteintreppe – Abbruchmaterial vom Umbau – führt zum zweiten, dem «grossen» Haus. Über einen gedeckten Eingangsbereich gelangt man zur Treppe. «Früher war hier die Waschküche», erklärt Sonja Grandjean. Rundherum sind alle Nebenräume hindernisfrei angeordnet, die Waschküche mit Bügeltisch, Heizung, Abstellräume, eine kleine Werkstatt, die Ablage für das Cheminéeholz und der Weinkeller.

Die innere Ordnung des einstigen Einspänners wurde aufgehoben: Die Hülle mit axial geordneten Rechteckfenstern in der Nord- und Südfassade sowie dem in den 1930er Jahren gartenseitig angebauten Verandaturm ist noch da. Der Kern mit Eingang und Treppe jedoch wurde komplett umgebaut, um ein neues, variables Raumkonzept umzusetzen: Es bietet nach dem Baukastenprinzip auf jedem Geschoss des früheren Einspänners eine grosse und eine kleine Wohneinheit; sie können autonom oder zusammen genutzt werden. Dazu wurden alle tragenden Innenwände abgebrochen. Entlang des originalen Parketts ist noch eingeschrieben, wie diese einst gestanden sind. Bis auf wenige Fixpunkte wie die Lage der Bäder, der Küchen und das Treppenhaus mit Lift lässt der «Grossraum» unterschiedliche Spielarten zu. Die Füfefüfzger und Füfefüfzgerinnen leisten sich die Freiheit der variablen Raumeinteilung, sie möchten selbst entscheiden, wo geschlafen, gearbeitet oder gewohnt wird, wie und ob die Badezimmer offen oder geschlossen werden und schliesslich, wer den Balkon alleine nutzt oder ihn mit der Nachbarin teilt.

Bricolage als Konzept

Die bedarfsorientierte Umgestaltung wurde in der Planungsphase vorausschauend mitbedacht. Auf individuelle Veränderungen – ob privater oder gesundheitlicher Natur – soll schnell und einfach reagiert werden können, also «ein Grundrisskonzept, das sich anpasst und mitlebt». So kann es geschehen, dass inmitten einer kleinen Bibliothek eine Badewanne in den Raum ragt oder eine Leichtbauwand einen Balkon zerteilt. Bricolage, die an Claude Lévi-Strauss erinnert. Nach ihm arbeitet der Bricoleur mit den Ressourcen, die ihn umgeben, statt rationale, massgeschneiderte Dinge zu planen.

Eine hellblaue Treppenkonstruktion scheint den Baukasten vergnügt verbinden zu wollen: «Wir zählen unser luftiges, helles Treppenhaus zum Aussenraum.» – Hier begegnen sich die Hausbewohner und Hausbewohnerinnen. Fein komponierte Fensteröffnungen und verglaste Haustüren geben den Blick frei in die Wohnungen oder zurück ins Treppenhaus. Wer seine Ruhe will, zieht die Lamellenstoren runter. Die Wohnungen schützen und bewahren die individuelle Privatsphäre. Während die gemeinsam genutzten Räume den gewünschten Kontakt ermöglichen. Ein «kommunikatives, architektonisches Programm unter Wahrung der Privatsphäre», so wollen es die Füfefüfzger und Füfefüfzgerinnen.

Es sind also insgesamt 11 individuelle Wohneinheiten, die von 12 Menschen bewohnt werden. Jahres- und Monatsversammlungen und eine schlanke Administration erlauben eine unkomplizierte Selbstverwaltung. Die Wohnungen sind im Stockwerkeigentum vergeben, die gemeinsamen Räume sind den einzelnen Einheiten angemerkt. Wer hat nach welchen Spielregeln am kooperativen Leben mitzuwirken? Das klärt die Präambel, die dem «Reglement der Stockwerkeigentümer-Gemeinschaft Füfefüfzg» vorangestellt wurde und integraler Teil des Kaufvertrages ist: «Die Stockwerkeigentümer wollen eine Art Hausgemeinschaft mit ähnlich Denkenden bilden, um damit im Alter einer Vereinsamung nach Innen und Aussen vorzubeugen.»

Die Präambel ist nicht nur ein ideelles Manifest, sondern auch ein architektonisches Programm: «Die bauliche Gestaltung des gemeinsamen, öffentlichen Lebensraumes (Chaos genannt) soll gewährleisten, dass möglichst viel Kommunikation und Kontakt untereinander und zur Aussenwelt gepflegt werden können.» Die Hausgemeinschaft «Füfefüfzg» tritt für sich ein, verteidigt ihre Anliegen und hat einen langen Atem. Das Altersheim hat ausgedient, das Private im Gemeinsamen macht sie selbstbestimmt.

Zwanzig Jahre nach dem Bezug sind die meisten Bewohnerinnen und Bewohner über 80, erste Probleme mit Gesundheit und Mobilität zeichnen sich ab. Die gemeinschaftlichen Aktivitäten sind deshalb nicht weniger geworden, aber die Hausgemeinschaft steht vor der Frage, ob und wie sie Pflege- und Serviceleistungen gemeinsam organisieren will. Wie aber ist die Nachfolge geregelt? «Mit der grösstmöglichen Unabhängigkeit für alle»: Das Wohneigentum wird weitervererbt. Für Urs Grandjean ist das «eine grosse Freiheit. Was nach uns kommt, liegt in den Händen der nächsten Generation». Es ist also in einem gewissen Masse offen, im Fluss des Daseins: Seit zwanzig Jahren versteht es die Hausgemeinschaft, Einschränkungen und Hindernisse als Gelegenheiten zum Improvisieren und Experimentieren zu nutzen. Die «Bricolage» im «Füfefüfzg» ist so eine Methode, die Zukunft gelassen zu erwarten.

Paula Sansano ist Architektin und Szenografin. Sie führt das Studio Sansano in Bern mit Fokus auf architektonische Transformationsprozesse. Seit 2016 leitet sie in der Berner Altstadt den Affspace – einen Ort für interdisziplinäre Auseinandersetzungen mit Architektur, Stadtentwicklung und verwandten Themen.

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