10 – 2017

München

Debatten über Wachstum und Dichte

München wächst, und zwar um 200 000 Einwohner bis 2030. Niemand weiss so genau, wie und vor allem wo dieser enorme Schub baulich bewältigt werden kann. Im Gegensatz aber zur Schweiz, die in der Verdichtung einen Konsens gefunden hat, stehen in München dem Wachstum nach innen grössere juristische und weltanschauliche Barrieren im Weg. Der neu gebaute Stadtteil Riem etwa, eine Planung aus den 1990er Jahren auf dem Gebiet des ehemaligen Flughafens, ist wie der Zürcher Glattpark eher eine grosse Siedlung mit zu wenig hohen Häusern und zu breiten Strassen – es fehlt die räumliche Hierarchie. Und auch bei neuen Areal-Planungen sucht man in München zumeist vergebens eine positiv städtische Haltung. Eine anhaltend starke Bautätigkeit und einige baurechtliche Mittel wären ja vorhanden. Dank der SoBoN, der gesetzlich geforderten Sozialgerechten Bodennutzung, ist Bauen mit hoher Ausnutzung nur im Tausch gegen gesellschaftlich nachhaltiges Planen möglich. Das Schwabinger Tor von 03 Architekten etwa überzeugte uns nicht wegen der Architektur, sondern durch die vom Bauherrn finanzierten Stadtplätze inklusive Strassenbahnhaltestelle und einem miteingeplanten Anteil sozialer Wohnungen. Dass hier die Stadträume gehaltvoll sind, offen und dennoch gefasst, im steten Wechsel von Enge und Weite, mit Ausblicken ins Quartier, ist aber ein Einzelfall. Ansonsten ist man angehalten, die alten Münchner Quartiere zu durchstreifen, dort erst wird das Auge voll von den Strassen mit Schwung, die alle vor ungefähr hundert Jahren durch den Architekten und Stadtbaurat Theodor Fischer entworfen wurden. Städtebau ist der Grund, weshalb wir Deutschschweizer nach München fahren!

Die geschwungene Hohenzollernstrasse zeugt von Theodor Fischers Städtebau, genauso wie die gekröpften Strasseneinmündungen, wie an der Mannhardstrasse (rechts) mit Zwerchgiebeln.

Die entworfene Stadt

Zur Aktualität von Theodor Fischers Städtebau

Bruno Krucker

Mit seiner subtil kontextuellen Methode des Städtebaus prägte Theodor Fischer um 1900 grosse Teile der Stadt München. Seine «Stadtbaukunst» zielte auf räumliche Wirkungen und die Wahrnehmung des sich bewegenden Menschen. In Münchens Neubaugebieten dagegen dominiert heute das Wohnen im Grünen, es fehlt an räumlich einprägsamen Stadträumen – warum greift die Stadtplanung so selten auf die hervorragenden Beispiele zurück?

Das richtige Mass finden

Stadtbaurätin Elisabeth Merk im Gespräch

Das Gespräch führten Tibor Joanelly, Benjamin Muschg und Roland Züger, Flag (Illustration)

Kann Städtebau mehr sein als das Moderieren von Sachzwängen? In der Boomstadt München werden jährlich 8 000 Wohnungen neu gebaut und grosse Areale neu entwickelt. Die Stadtbaurätin setzt sich dabei für mehr Dichte und gute Raumproportionen ein. Sie fordert mehr Bürgerbeteiligung und lädt die Architekten dazu ein, sich der Diskussion mit den Betroffenen zu stellen.

So geht Mehrwertabgabe

Die SoBoN einfach erklärt

Daniel Kurz

SoBoN ist die Münchner Mehrwertabgabe. Seit 1994 finanzieren die Grundeigentümer in München die Entwicklung neuer Quartiere – bis hin zum Bau neuer Schulhäuser.

In der Gemeinschaftssiedlung wagnisART im neuen Stadtteil Domagkpark inszenieren hohe Brücken den gemeinsamen Aussenraum. Architektur: ARGE Bogevischs Buero Architekten & Stadtplaner, München mit SHAG Schindler Hable Architekten, München. Bild: Julia Knop

Kultur des Unterschieds

Alternative Wohnbauprojekte in München

Ulrike Wietzorrek

Renditeorientierte Investoren haben in München freies Feld – sie bauen fast alle neuen Wohnungen – tragen aber wenig zur städtischen Kultur bei. In jüngster Zeit mehren sich jedoch alternative Ansätze: Neu gegründete Genossenschaften realisieren gemeinschaftliche Wohnformen und aktivieren den öffentlichen Raum. Ein Modulbau auf einem Parkplatz beherbergt Flüchtlinge und sozial Schwache. Und eine private Investorin ermöglicht qualitätvolle Verdichtung durch ein junges Büro.

Über der Blockrandhöhe Schwabings akzentuieren
drei Hochhäuser die Freiräume und beziehen sich auf den Massstab der Turmbauten der 1970er, die bereits am Mittleren Ring stehen.

Echokammern der Stadt

Quartier am Schwabinger Tor von 03 Architekten

Roland Züger, Pk. Odessa (Bilder)

Auf einem schmalen Grundstück an der grossen Ausfallstrasse im Norden der Stadt ist ein dichtes und durchmischtes Stadtquartier entstanden. Der städtebauliche Entwurf von 03 Architekten ist so simpel wie raffiniert: Zwei Reihen von Gebäuden an der Leopoldstrasse sowie der östlich gelegenen Berliner Strasse werden gegeneinander verschoben und verzahnen so die jeweiligen Stadträume der beiden Strassen.

Macht offene Verfahren

Florian Fischer, Alexander Fthenakis und Wolfgang Rossbauer im Gespräch

Das Gespräch führten Tibor Joanelly, Benjamin Muschg und Roland Züger, Flag (Illustration)

Junge Architektinnen und Architekten bleiben in München oft aussen vor, die grossen Projekte werden von etablierten Büros abgewickelt. Da bleibt nur der Weg der Selbsthilfe. In einem Gespräch mit jüngeren Architekten wird der Finger in die Wunde gelegt: die mangelnde Wertschätzung für die Münchner Nachkriegsarchitektur wie auch die fehlenden offenen Wettbewerbsverfahren.

Geobasisdaten

Bauten, Areale und Projekte in München

Roland Züger

Der Reiseführer zum neuen München

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werk-notiz

Der Jurist und Planungsexperte Martin Lendi blickt zurück auf 75 Jahre Raumplanung an der ETH Zürich. Artikel online lesen

Debatte

Ist der Schutz der gebauten Substanz immer und überall gleich berechtigt? Der Bieler Architekt Stephan Buchhofer reagiert mit grundsätzlichen Überlegungen auf die Kritik an seiner Aufstockung in Givisiez, vorgestellt im Heft Aufstocken, wbw 1/2 – 2017.

Wettbewerb

Erstmals hat die Pro Helvetia einen offenen Wettbewerb gewählt, um Thema und Konzept für den Schweizer Auftritt bei der Biennale Venedig 2018 zu finden. Das hat sich gelohnt.

Recht

Die gesetzlichen Verjährungsfristen am Bau sind kompliziert. Die Regelung in den Musterverträgen von SIA und KBOB bringt Vereinfachungen – doch die gehen teilweise zulasten der Planer.

Bücher

Eine gewichtige Monografie zur Nachkriegsarchitektur in München entdeckt den Wert der Alltagsstadt neu, sagt Erik Wegerhoff. Buchtipps des Monats sind ausserdem eine Übersicht über die Münchner Stadtentwicklung sowie Uwe Bresans aufschlussreiche Studie über Adalbert Stifters Nachsommer als Architekturbuch.

Ausstellungen

Die Beton-Architektur der 1960er Jahre wird momentan von einer breiteren Öffentlichkeit neu entdeckt, umso heftiger tobt der Kampf um die Rettung wichtiger Zeugen: Finding Brutalism im Museum in Bellpark, Kriens.

Nachruf

Gilbert Pfau, 1928 – 2017

Kolumne: Architektur ist … Scheisse

Daniel Klos, Johanna Benz (Illustration)

Was heisst eigentlich «System Ernst»? Daniel Klos erforscht einen verschwiegenen Teil der Kulturgeschichte: die öffentlichen Toiletten.

Le refuge Lieptgas, un modeste ouvrage sur deux niveaux en béton, narre une histoire relative au territoire dans lequel il s’inscrit.

Erstling: Refuge de la mémoire

Refuge Lieptgas de Nickisch Walder à Flims

Jérémie Jobin, Antoine Girardon, Yann Kislig

Ein Heustadel in den Bergen verwandelt sich in ein kleines Ferienhaus – der Blockbau lebt als Beton-Schalungsbild weiter und wird so zum Denkmal einer verschwundenen bäuerlichen Welt. Die jungen Autoren denken über die Verwandlung nach und ziehen Vergleiche zu Peter Zumthors Bruder-Klaus-Kapelle.

Jeder Winkel findet sogleich eine neue Verwendung: Die unendliche Zahl eigentlich unerlaubter, aber tolerierter Provisorien sorgt für ein vielgestaltiges städtebauliches Vokabular auf Augenhöhe.

Brief aus Mexico

Eindrücke und Reflexionen

Yves Dreier, Eik Frenzel (Bilder)

Die Megametropole wächst so schnell, dass niemand ihre genaue Ausdehnung und Einwohnerzahl kennt. Ihre öffentlichen Räume bieten ein Durcheinander improvisierter Geschäftstätigkeit, und die Aneignung durch die Bewohner überwuchert die Zeugen der Moderne. Ein Reisebericht. Artikel online lesen
Originaltext Französisch

In der Enge der Hofparzelle ermöglichten die Architekten der angrenzenden Altersresidenz einen üppig bepflanzten Aussenraum. Als Gegenleistung erhielten sie ein Näherbaurecht.

werk-material 01.02 / 700

Massanzug mit reichem Innenleben

Christoph Wieser, Arnold Kohler (Bilder)

Büro- und Wohngebäude in Winterthur von Graf Biscioni Architekten AG, Winterthur

Die tektonische Fassadengliederung bindet auch die vorgeschriebene, fensterlose Brandmauer in den Massstab des Wohnhauses Immeuble Rue Barton,
Genève ein.

werk-material 01.02 / 701

Tektonische Tarnung

Laure Nashed, Radek Brunecký (Bilder)

Stadthaus in Genf von LRS architectes, Genf

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