11 – 2018

Lernlandschaften

Neue Typologien für die Schule

Traditionelle Schulhaustypologien geraten unter Druck; die vertrauten vier Wände des Klassenzimmers verlieren ihre absolute Bedeutung. Cluster und Lernlandschaft bieten neue Raumsequenzen an, welche ein klassenübergreifendes Arbeiten in ganz unterschiedlichen Gruppenkonstellationen ermöglichen. Sie bilden im grossen Schulhaus überblickbare, geschützte Zonen mit grosser innerer Flexibilität. Mit der Auflösung des Klassenzimmers verlieren Korridore und Treppenhäuser ihre traditionelle Bedeutung – auch als Spielfeld der Architektur: Die einst so lärmigen, aber repräsentativen Erschliessungsräume werden für den Unterricht und für die Betreuung beansprucht. Schulen, die schon nach neuen typologischen Grundsätzen gebaut wurden, fanden wir überwiegend jenseits der Schweizer Landesgrenzen, im nahen Bregenz und in München. Die Beispiele zeigen sehr deutlich, dass neue Unterrichtsformen und Schulhaustypologien vor allem dann gut funktionieren, wenn sie von der Schule selbst in partizipativen Diskussionen entwickelt und getragen werden. Dies erfordert ein Umdenken bei Bestellern wie bei Architekturschaffenden und hat sogar Einfluss auf die Art, wie Wettbewerbe durchgeführt werden.

Ganztagesschulen erfordern Räume für Begegnung und Rückzug, für Bewegung und Ruhe. Atrium in der Frederiksbjerg-Schule in Århus, Dänemark (Henning Larsen Architects, 2016). 
Bild: Hufton + Crow

Schule in Bewegung

Neue Pädagogik, neue Typologien

Daniel Kurz

Tagesschule, integrativer Unterricht und selbstorganisiertes Lernen verändern den Alltag in der Schule und erfordern neue Typologien im Schulhausbau, welche das Lernen in unterschiedlichen Konstellationen unterstützen – im Plenum, in der Gruppe oder für sich allein. Daniel Kurz erläutert die Hintergründe und ordnet anhand einer kleinen Grundrisskunde die neuen Ansätze ein.

Ein wichtiger sozialer Vorgang für jedes Kind ist es, mit der Klasse zusammenzukommen und produktiv zu werden. Lernende brauchen aber auch Bereiche für ruhiges, individuelles Arbeiten und Rückzugsmöglichkeiten.
Bild: Felix Ackerknecht

Möglichst viel Platz!

Was Lehrer für Schulräume brauchen

Felix Ackerknecht (Text und Bilder)

Veränderung ist in der Schule eigentlich die einzige Konstante. Dies bedeutet, dass im Klassenzimmer möglichst viel Platz vorhanden sein sollte, um flexibel auf verschiedene Situationen reagieren zu können. Teure Einbauten und aufwändig konzipiertes Mobiliar sind da eher hinderlich. Worauf es ankommt, erläutert ein Primarlehrer und ausgebildeter Architekt.

Kontrollierte Transparenz: Blick durch die zentrale Halle in zwei Cluster (sogenannte «Häuser») und den Eingangsbereich im Erdgeschoss.
Bild: Adolf Bereuter

Vernetzung macht Schule

Schule Schendlingen in Bregenz (A) von Matthias Bär (Entwurf), Bernd Riegger und Querformat

Daniel Kurz, Adolf Bereuter (Bilder)

In einem sozial belasteten Quartier von Bregenz haben Matthias Bär, Bernd Riegger und Querformat eine Schule gebaut, deren Typologie Bemerkenswertes leistet. Sie gibt nicht nur Antwort auf die Frage, wie eine Cluster-Schule organisiert werden kann, sondern auch dazu, was es heisst, soziale Integration durch die Institution Schule zu leisten. Dass dabei Architektur eine zentrale Rolle spielt, versteht sich von selbst.

Die einzelnen Lernhäuser oder Cluster bilden eine in sich geschlossene Welt mit Rückzugsnischen, einem grossen Zentralraum und dem über Schiebetüren geöffneten Betreuungsraum. Die gewölbten
Deckenelemente sorgen für Raumwirkung.
Bild: Brigida González

Lernmodule fürs Leben

Münchner Tagesschulen im Modulbausystem von Wulf Architekten

Ulrike Wietzorrek, Brigida González (Bilder)

Um den Bau von rund 50 dringend benötigten Schulanlagen zu beschleunigen, setzt die Stadt München auf ein modulares Konzept. Wulf Architekten aus Stuttgart lieferten dieses und auch die ersten vier gebauten Beispiele. Das «Münchner Lernhaus» – ein Clustertyp mit integrierter Ganztagesbetreuung – gab dabei die Raumstruktur vor. Die Sorgfalt der inneren und äusseren Gestaltung überzeugt – doch das städtebauliche Potenzial des Modulprinzips hat Grenzen, kritisiert Ulrike Wietzorrek.

Zahlreiche innere Fenster und Wandöffnungen erweitern die Schulbereiche funktional und optisch: selbst im Speisesaal der Kindergartenkinder im Erdgeschoss oder deren breitem Verteilflur.
Bild: Filip Dujardin

Geballter Spielraum

Primarschule, Kindergarten und Hort in Berlaar (B) von Bovenbouw Architectuur

Roland Züger, Filip Dujardin (Bilder)

Von aussen sieht die Primarschule von Bovenbouw Architekten aus wie ein zusammengewürfelter Ökonomiebau an der Landstrasse nach Berlaar. Doch die bewegte Silhouette ist Ausdruck eines raffiniert umgesetzten Raumprogramms um die Angelpunkte Mehrfachnutzbarkeit, Massstab und räumliche Tiefe. Der komplexe Grundriss bietet Anschauung für eine Ganztagesschule der Zukunft.

Aus Erschliessungsflächen werden Schulräume: Für die Primarschule Port haben Skop Architekten die Wände mit magnetischer Wandtafel-Farbe gestrichen.
Bild: Julien Lanoo

Aussicht nach innen

Schulhäuser in Rapperswil-Jona und in Port, Karamuk Kuo und Skop

Tibor Joanelly, Julien Lanoo, Karin Gauch und Fabien Schwartz (Bilder)

Ein Jahr nach Fertigstellung haben wir die Primarschule in Port BE von Skop und die Sekundarschule Weiden in Rapperswil-Jona SG von Karamuk Kuo erneut besucht und uns überzeugen lassen: Lernlandschaften funktionieren, wenn Offenheit und Flexibilität von Lehrerschaft und Hausdienst gelebt werden. Erschliessungsflächen werden so zu produktiven Räumen, die das Lernen und Zusammen leben an der Schule fördern und mitgestalten.

Anzeige

Debatte

Anja und Martin Fröhlich widersprechen der von Sasha Cisar in wbw 7/8–2018 geäusserten These, dass Neubauten im Kampf gegen den Klimawandel nicht mehr zeitgemäss sind. Anhand internationaler Beispiele und ihrer eigenen Forschung argumentieren sie für das Potenzial der Wiederverwendung von Bauteilen.

Wettbewerb

BIM im Architekturwettbewerb: Was es bedeutet, wenn Architekturschaffende, Bauherrschaften und Behördenmitglieder 3D-Brillen aufsetzen, erläutert Patric Furrer.

Recht

Verträge können ausgehandelt, erfüllt, geschieden werden. Ein neues Urteil des Bundesgerichts hat auch für Werkvertrag und Auftragsverhältnis in der Architektur Bedeutung.

Bücher

Das Handbuch Schulen Planen und Bauen 2.0 bietet das unentbehrliche theoretische Rüstzeug für den nächsten Wettbewerb – der Bildband Neue Schulräume von Roman Weyeneth gibt anschaulichen Einblick in die Basler Praxis.

Ausstellungen

Im ehemaligen Jugoslawien gedieh eine ureigene Form der Moderne. Sarah Pines bespricht die grosse Ausstellung im MoMA über eine Architektur des dritten Wegs zwischen Sozialismus und Kapitalismus.

Nachruf

Joseph Gasser (1925–2018)

Johanna Benz (Illustration)

Kolumne

Architektur ist ... BIM BAMM BUMM

Daniel Klos, Johanna Benz (Ilustration)

BIM zum Zweiten. Unser Kolumnist baut selbst dank 4D-Hirnkoppelung. Doch dann erwachen die Roboter aus ihrer Update-Siesta.

Ein raffiniert durchdachtes Konzept holt aus der Enge des Grundstücks nicht nur Nutzfläche, sondern auch einen überzeugenden Ausdruck heraus. Treppe und Tragstruktur liegen aussen, viergeschossige Erker vergrössern die Nutzfläche.
Bild: Roger Frei

Minimaler Fussabdruck

Wohnturm in Winterthur Töss von Wild Bär Heule Architekten

Lucia Gratz, Roger Frei (Bilder)

Verdichtung I: Im beschaulichen Winterthur Töss strebt das Haus von Wild Bär Heule über kleinstem Grundstück entschieden in die Höhe. Alles an Grundriss und Konstruktion ist minimiert und durchtrainiert, freilich mit der Eleganz eines Bootsinterieurs. Den Luxus der Weite bietet die gemeinschaftliche Dachterrasse.

Wie ein Spinnennetz wickeln sich die Treppen rund ums Haus in die Höhe – als Erschliessung, Aussenraum und möglicher Ort der Kommunikation. Bild: Eik Frenzel

Ein Dreieck mit fünf Seiten

Mehrfamilienhaus in Renens von Dreier Frenzel

Tibor Pataky

Verdichtung II: In Renens ersetzt ein Mehrfamilienhaus aus Beton ein bestehendes Einfamilienhaus. Auf dem engen Grundstück zeichnen die Wände die Grenzen des bebaubaren Perimeters nach, die aussenliegenden Treppen sparen anrechenbare Geschossfläche. Das Bild kommt der angrenzenden Bebauung aus dem 19. Jahrhundert irgendwie sehr nahe.

Umlaufende Laubengänge ermöglichen gesicherte Fluchtwege aus allen Zimmern und eine uneingeschränkte Nutzung der innenliegenden Lernlandschaften.
Bild: Mikael Olsson

werk-material 02.02 / 722

Aussicht nach innen

Tibor Joanelly, Karin Gauch und Fabien Schwartz (Bilder)

Oberstufenschule Weiden, Rapperswil-Jona SG von Karamuk Kuo Architects, Zürich

Nischen sind das grosse Thema aussen wie innen. Gebildet werden sie alleine durch die vor- und zurückspringenden Module der Klassenzimmer. Dadurch wirkt der Raum in der und um die Schule aktiviert und abwechslungsreich, ohne an Übersichtlichkeit zu verlieren – in der Pause wie im Unterricht. 
Bild: Julien Lanoo

werk-material 02.02 / 723

Aussicht nach innen

Tibor Joanelly, Julien Lanoo (Bilder)

Primarschule Port BE von Skop, Zürich

Lesen Sie werk, bauen + wohnen im Abo und verpassen Sie keine Ausgabe oder bestellen Sie diese Einzelausgabe