10 – 2013

Junge Denkmäler

1974 geisselte Rolf Keller in seinem Manifest «Bauen als Umweltzerstörung» die Verwüstungen der Hochkonjunktur. Seine alarmierenden Bilder boten im Urteil der Neuen Zürcher Zeitung damals «eine Galerie der Hässlichkeit, eine Sammlung der in Beton, Metall und Glas erstarrten Gestaltungsschwäche». Die im europäischen Jahr des Denkmals 1975 gestärkten Institutionen der Denkmalpflege befassten sich über die vorindustriellen Zeugen hinaus nun auch mit dem Historismus – und bald schon mit der klassischen Moderne. Diese schrittweise Annäherung an die Gegenwart hat inzwischen die längst in ihrem Wert erkannten Bauten der 1970er und 80er Jahre erreicht. Damit stellt sich die Frage, wie mit den Zeugen dieser Zeit zu verfahren ist. Schon allein die Grösse vieler Wohnüberbauungen, Schulanlagen und multifunktionalen Komplexe, vor allem aber auch ihre grosse Anzahl stellen die Eigentümer, die Architekten und die Denkmalpflege vor ungekannte Herausforderungen.

Die Berner Grosssiedlung Gäbelbach wird in Etappen erneuert. Den Block A (links) sanierten 2008 – 10 reinhardpartner architekten, das Nachfolgebüro von Hans + Gret Reinhard, die 1965–68 die Siedlung bauten.

Vom Feindbild zum Denkmal

Die Image-Krise der Architektur in den 1970er Jahren

Dieter Schnell

In den vierzig Jahren, die seit seit der Ölkrise 1973 vergangen sind, hat sich das Verhältnis zur damaligen Architektur stark verändert. Als uniform und unmenschlich abgetan, erfährt nun das Bauen der Hochkonjunktur qualifizierte Fürsprache. Einem breiten Laienverständnis entziehen sich die Qualitäten der Architektur jener Zeit aber nach wie vor.

Plattenbau im intimen Massstab: Wohnsiedlung Furttal in Zürich-Affoltern von Claude Schelling 1980. Seit 2013 im Inventar.

Architektur mit Streitwert

Denkmalschutz für Nachkriegsbauten?

Isabel Haupt

In mehreren Schweizer Kantonen sind Erweiterungen der Inventare in Arbeit. Umfang und Qualität der Bauproduktion jener Zeit stellen die Denkmalpflege vor Probleme der Auswahl und der Dokumentation sowie die Suche nach umfassenden Strategien der Erhaltung. Nur gründliche Kenntnisse ermöglichen fundierte Entscheidungen über den Umgang mit diesem baulichen Erbe.

Für die Interbau 1957 erbauten Raymond Lopez und Eugène Beaudoin das Hochhaus Nr. 20 im Berliner Hansaviertel. Es blieb über die Jahrzehnte bis auf den Einbau von Kunststofffenstern weitgehend im ursprünglichen Zustand. Für dieses Gebäude, das heute als wichtiges Kulturdenkmal geschützt ist, wählte das Berliner Büro Brenne Architekten eine Strategie der Instandsetzung der originalen Substanz und der originalgetreuen Wiederherstellung verlorener Elemente, die 2009–12 umgesetzt wurde. Zustand 1957
und 2012.

Strategien zum Erhalt moderner Architektur

Franz Graf, Giulia Marino

Bedeutung und Qualität der Architektur haben entscheidenden Anteil daran, ob respektvoll konserviert oder verändert werden soll. Bei hohem Denkmalwert ist eine auf materieller Authentizität beruhende Instandsetzung und Mängelbehebung die angemessene Methode. Ein wissenschaftlich begleiteter, möglichst weitgehender Erhalt der Substanz hat sich praktisch wie finanziell bewährt. Ein Plädoyer für eine vertiefte Bauforschung.

Originaltext Französisch

Die neu betonierten Brüstungen und die Beleuchtung machen die einprägsamen Räume auf der neu gestalteten Hardbrücke von Boesch Architekten erfahrbar.

Besseres Benehmen

Instandsetzung der Hardbrücke in Zürich

Caspar Schärer

Die Hardbrücke in Zürich, ein wenig geliebtes, aber wichtiges Bauwerk für innerstädtische Verbindungen wurde von Boesch Architekten neu gestaltet. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei der Einbindung in das Quartier und den raumbildenden Qualitäten. Die zuvor sperrige Brücke bettet sich jetzt besser in ihren neuen Kontext ein.

Die neue Südfassade von Pablo Horváth ist eine besser gedämmte Replik der ursprünglichen.

Wiederbelebter Brutalismus

Sanierung Haus Cleric Chur von Pablo Horváth

Michael Hanak, Ralph Feiner (Bilder)

Einer der prägendsten Bauten der Nachkriegsmoderne in Chur – das ehemalige Lehrerseminar – ist instand gesetzt. Mit Bedacht, Feingefühl und Respekt hat Pablo Horváth dieses junge und nicht geschützte Baudenkmal adaptiert, im Sinn einer interpretierenden Rekonstruktion.

Pausenbereich im Obergeschoss. Der überbordende Gestaltungswille der 1960er Jahre steht im Vordergrund. Verbesserungsmassnahmen sind zurückhaltend und reversibel von Fierz Architekten umgesetzt.

Unterm Schutzengel

Sanierung und Umbau Brunnmatt-Schulhaus in Basel

Tibor Joanelly, Erik Schmidt (Bilder)

Das 1964 erbaute Schulhaus Brunnmatt von Walter Maria Förderer, Rolf Georg Otto und Hans Zwimpfer figuriert im Basler Inventar schützenswerter Bauten. Fierz Architekten haben es im Hinblick auf eine schulische Reform behutsam erneuert. Anpassungen erfolgten mittels kleiner, auf die originale Gestaltung bezogener Freiheiten.

Das Tscharnergut 1966, kurz nach der Fertigstellung. Zwischen die Scheiben- und Punkthochhäuser schieben sich niedrige Wohnhäuser und die Flachbauten des Ladenzentrums (Vordergrund). Links die gleich zeitig geplante Gewerbezone, im Hintergrund die Scheiben der Wohnsiedlung Gäbelbach.

Ringen um Angemessenheit

Pilotprojekt für die Grossüberbauung Tscharnergut in Bern

Daniel Kurz

Die Hochhäuser der Berner Grossüberbauung Tscharnergut müssen nach 50 Jahren saniert und an heutige Bedürfnisse angepasst werden. Rolf Mühlethaler und Matti Ragaz Hitz haben ein Pilotprojekt verfasst, das widersprüchlichen Anforderungen Rechnung trägt und trotz einer namhaften Vergrösserung der Wohnfläche die Einheit der Siedlung als Ensemble sicherstellt.

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Varia

Dichtestress? Caspar Schärer philosophiert über die Enge in der Menge. Ausserdem: ein preiswerter Sessel fast wie von Paulo Mendes Rocha.

Debatte

Tramplanung ist Städtebau. Neue Tramlinien in Zürich und Bern – gegensätzliche Philosophien.

Wettbewerb

Der Wettbewerb zur Erweiterung des Universitätsspitals Basel hat gleich nach Bekanntwerden des Juryentscheids zur Kontroverse geführt.

Recht

Beschränkte Gültigkeit der SIA-Norm 118 als AGB

Noppenboden auf Stahlkonstruktion als hygienisches Material in der Maison de Verre von Pierre Chareau, 1932.

Rattern auf Kautschuk

Martin Saarinen

Wer meint, der «Pirelli-Boden» stehe typisch für die 1980er Jahre, sei eines Besseren belehrt: Schon Pierre Chareau begeisterte sich – sehr zukunftsweisend – dafür.

Hauptansicht am Neustadtplatz. Leicht asymmetrisch geteilte Fenster und frei gesetzte Rahmungen verfremden das Bild der umgebauten Schule.

Empfindungen für die unscheinbaren Dinge

Martin Steinmann

Miroslav Šik hat in Zug ein Schulhaus aus den 1960er Jahren zu Alterswohnungen umgebaut. Dabei ging er konzeptionell streng und gleichzeitig undogmatisch vor.

Wohnhaus Laur-Park in Brugg von pool Architekten. Ansicht von Süden: Die zahlreichen Versprünge des Volumens unterstützen die Integration des Neubaus in das kleinteilige Quartier.

Verdichten in der Kleinstadt

Matthias Benz, Andrea Helbling (Bilder)

In Brugg haben Pool Architekten für den Bauernverband einen Bürobau und ein Mehrfamilienwohnhaus entworfen. Dieses zeichnet sich durch Wohnungen mit unterschiedlichen Raumhöhen sowie Veranden aus, wie man sie von Stadtvillen kennt.

Gestapelte «Häuser», ablesbar an der Fassade: Misapor-Beton im ersten, Eternitschindeln im zweiten und Stahl-Glas im dritten Obergeschoss der «Fünf Häuser» in Rapperswil von Lukas Lenherr.

werk-material 01.02 /622

Gestapelter Kontext

Johann Reble

Fünf Häuser in Rapperswil SG von Lukas Lenherr, Zürich

Das Sheddach erinnert zum einen an die Industriearchitektur im Kanton Glarus und ist zum anderen ein Ausdruck der geschossweise versetzten überhohen Wohn-Essräume.

werk-material 01.02 / 623

Glarner Lösung

Manuel Pestalozzi

Mehrfamilienhaus Müsli in Elm von Marti AG Architekten, Matt

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