3 – 2019

Vertikalgrün

Natur am Bau und im Entwurf

Alltag in der Altstadt wie im gutbürgerlichen Wohnquartier: Junges Grün umschmiegt alte Mauern wie ein schützender Wettermantel. Efeu, Glyzinien, wilder Wein, je nach Jahreszeit blühend, duftend, summend. Nicht nur die Bienen finden an der Hauswand reiche Ernte. Trauben, Birnen, Aprikosen – allerlei Obst wächst am Spalier. Der Reformwohnungsbau im frühen 20. Jahrhundert bis hin zu Heinrich Tessenow ist durchwachsen von dieser Idee, das Spaliergitter Erkennungszeichen von Selbstversorgung und Naturidylle. Die verführerische Pracht der Vegetation lässt ein Bedürfnis anklingen, die Natur aus der Nähe, im Alltag zu erleben. Man kann den Trend zum Grün als Reaktion auf die Entfremdungserfahrungen der Moderne erklären. Aber dem Hype um Bäume auf Hochhäusern und Gärten in der Vertikalen schlägt auch tiefes Misstrauen entgegen. Das Dynamische des Grüns, die Veränderlichkeit als Teil der Architektur zu erkennen, läuft vielen zuwider. Das Heft bietet zudem eine gute Grundlage zum Training für den Klimawandel.

Beim grünen Mantel der Sportplaza Mercator in Amsterdam (2006) von Venhoeven CS und den Landschaftsarchitekten Copijn wachsen Pflanzen aus Taschen in einem Vlies aus Filz. 
Bild: Luuk Kramer

Lebende Architektur

Was die Architektenschaft vom Vertikalgrün wissen sollte

Roland Züger

Wo es eng wird in den Städten und Bäume keinen Raum zum Wurzeln finden, bieten begrünte Fassaden eine noch viel zu wenig genutzte Alternative. Sie sind wirksam gegen die Folgen des Klimawandels und bringen den Menschen Natur näher. Das muss nicht teuer sein: Wenn die Pflege genau vorausgeplant wird, laufen verbreitete Vorurteile gegen das wuchernde Grün ins Leere. Es ist Zeit, dass sich Architekturschaffende Pflanzen als Entwurfsmittel aneignen.

Durch den Rhythmus der Hülle aus Gerüstbrettern und ihrer Begrünung antwortet das Provisorium auf die Nachbarbauten mit ihren kräftigen Vertikalen. Deren Zwischenraum wird durch die Setzung des Baukörpers zu einer Abfolge öffentlicher Räume mit hohen Aufenthaltsqualitäten aufgewertet.
Bild: Claude Plattner

Diskurs in der Enge

Migros-Provisorium in Zürich von Haerle Hubacher und Raderschall Partner

Das artenreich berankte Ladenprovisorium von Haerle Hubacher und Raderschall Partner verwandelt eine grüne Restfläche mitten in Zürich in einen beliebten Quartiertreffpunkt.

Der Baukörper steht in einer Betonwanne. Vor einem umlaufenden Zwischenraum wachsen Glyzinien hoch. 
Bild: Katharina Gürtler

Grüner Klimamantel

Lagerhalle Gradischegg, Innsbruck (A), von Gilbert Sommer und Andreas Flora

Glyzinien überwuchern die fensterlose Lagerhalle von Gilbert Sommer und Andreas Flora in einem Innsbrucker Wohnquartier und sparen Energie zum Kühlen und Heizen.

Die repräsentative Südfront zeigt eine dichte, wandgebundene
Bepflanzung in Trögen. An der Westseite ranken sich bodengebundene Pflanzen an der Aussenwand empor und vom Dach herunter. 
Bilder: Fahrni und Breitenfeld

Geordnete Vielfalt

Stücki Park in Basel von Diener & Diener mit Fahrni und Breitenfeld

Dem grossen Tanker des vormaligen Einkaufszentrums Stücki von Diener & Diener in Basel verleiht die Fassadenbegrünung von Fahrni und Breitenfeld den menschlichen Massstab.

Die sorgfältig geplante Kombination der
Arten ergibt eine vielfältige und stabile
Pflanzengesellschaft. Pläne und Skizzen:
Ganz Landschaftsarchitekten
Bild: Markus Bühler

Hängende Gärten in der Gewerbezone

Sky-Frame in Frauenfeld von Daniel Ganz und Atelier Strut

Ein gestapeltes Blumenfeld schmückt das ganze Jahr über die Glasfassade des Sky-Frame-Sitzes in Frauenfeld von Atelier Strut. Daniel Ganz hat den Paradiesgarten angelegt.

Die Fassade des Verwaltungstrakts ist innen und aussen exotisch begrünt; das Wuchern der Pflanzen kontrastiert die Hightech-Fenster. 
Bilder: Patrick Blanc

Betörender Bildteppich

Musée du Quai Branly – Jacques Chirac, Paris, von Patrick Blanc und Jean Nouvel

Die bezaubernden Pflanzenteppiche von Patrick Blanc gedeihen hors-sol an der Fassade – so auch am Pariser Musée du Quai Branly von Jean Nouvel.

«Fliegende Gärtner» kümmern sich um Schnitt und Pflege. 
Bild: Laura Cionci

Prototyp mit Pflegeplan

Bosco Verticale in Mailand von Stefano Boeri mit Studio Laura Gatti und Emanuela Borio

Stefano Boeris Mailänder Bosco Verticale machte Schlagzeilen und wird als Prototyp weltweit kopiert. Doch was leistet er, über das Komfortversprechen
hinaus, für die Umwelt?

Ein Terrassenhaus mitten im Zentrum von Mailand verkörpert den Traum einer Versöhnung von Stadt und Natur.
Bild: Martin Feiersinger

Urbaner Evergreen

Terrassenhäuser in Wien und Mailand

Lorenzo De Chiffre, Martin Feiersinger (Bilder)

Als städtische Wohnform bleibt das Terrassenhaus meist ein Fremdkörper, der sich nur schwer in die Ordnung des Blockrands integrieren lässt. In Wien und Mailand finden sich jedoch erstaunliche Beispiele, wo die Integration des Stadtgrüns gelungen ist und die Bewohner sich am Garten vor der Balkontür erfreuen können.

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Wo Architektur wächst

Architekturgeschichtliches über Natur

Albert Kirchengast

Ist es das Gefühl des Verlusts – von Landschaft und Natur, gar des Paradieses – das Architekten von bewachsenen Häusern träumen lässt? Die Romantik liess sich von der Ruine faszinieren, wo Zerfall und neues Leben eins werden, und die konservative Moderne eines Heinrich Tessenow verband das Gebaute gern mit Vegetation. Im Sinn des Stoffwechsels sind organische Strukturgedanken zudem auch ohne lebende Pflanzen ein bedeutendes Motiv der Architektur.

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Debatte

Milliarden werden in den Ausbau der Bahn investiert, doch das meiste Geld fliesst in den Ausbau bestehender Strecken und Verbindungen. Über den gezielten Einsatz der Mittel im Sinn der Raumplanung wird viel zu wenig nachgedacht, mahnt der Experte Paul Schneeberger.

Wettbewerb

Das Zürcher Hochschulquartier ist Schauplatz eines umstritttenen städtebaulichen Grossvorhabens. Die parallelen Wettbewerbe für das Universitätsspitals und das Forum UZH zeigen, dass eine kontextverträgliche Lösung möglich ist.

Ausstellungen

Das Schweizerische Architekturmuseum S AM stellt dem Gerede von Dichtestress die Ausstellung Dichtelust entgegen, die ein breiteres Publikum anstecken soll. Das Vitra Design Museum widmet Balkrishna Doshi die erste grosse Schau ausserhalb Indiens. Und das Architekturforum Zürich vertieft das Thema dieses Hefts mit der Ausstellung Gebäude.grün.

Bücher

Eine mal unterhaltsame, mal quälende Lektüre: Bei seinem Unterfangen, die ganze Geschichte der Architektur auf 288 Seiten zu erzählen, hat Günther Fischer ein Werk verfasst, das reizvolle Blicke hinter den Vorhang gewohnter Deutungen wirft, aber auch Widersprüche aufweist.

Urbane Dichte im Ecoquartier Jonction: Gewohnt wird oberhalb der breiten, von Passagen durchzogenen Gebäudesockel. Terrassen und Dächer stehen für Urban Gardening zur Verfügung.
Bild: Roman Keller

Vernetztes Stadtwohnen

Ecoquartier Jonction in Genf von Dreier Frenzel

Daniel Kurz, Eik Frenzel, Roman Keller (Bilder)

Mit dem Ecoquartier Jonction im Zentrum von Genf haben Dreier Frenzel eine durchmischte Überbauung in hoher Dichte geschaffen, in der ganz unterschiedliche Wohnwelten und Gewerbenutzungen zusammenkommen. Im Hochhaus der Genossenschaft CODHA bot die Stützen-Platten-Konstruktion maximale Flexibilität für die partizipativ erarbeiteten Wohntypologien.

Teeküche einer Clusterwohnung am zentralen Lichthof.
Bild: Eik Frenzel

Schwarmintelligenz bei der Planung

Partizipative Planung und die Kraft der Architektur

Eric Rossier und João Fernandes im Gespräch

Partizipative Planung bereitete die Basis für das Gemeinschaftswohnen im Hochhaus; die Gemeinschaftstrukturen waren beim Bezug schon etabliert. Doch was bedeutet es für die Architekten, wenn so viele Menschen über Typologien und Materialisierung mitbestimmen?

Doppelkindergarten und Tagesstruktur sind unter einem Dach vereint, jeder Teil ist ein Pavillon für sich, und alle Räume können entlang der Fassade zu
einem ganzen Haus verbunden werden.
Bilder: Ruedi Walti

werk-material 02.01 / 728

Als wir Räuber waren

Søren Linhart, Roger Frei (Bilder)

Kindergarten Paradiesstrasse in Riehen BS von Miller & Maranta Architekten

Ohne Zaun zeigt sich der Pausenbereich des Kindergartens für die Nachbarn. Offen sind auch die Garderoben zur gemeinsamen
Nutzung durch die drei Klassen.
Bilder: Lukas Murer

werk-material 02.01 / 729

Transparenz mit Tiefgarage

Tibor Joanelly, Lukas Murer (Bilder)

Dreifachkindergarten in Würenlingen AG von Malte Kloes und Christoph Reichen

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