7/8 – 2020

Grand Paris

Die Metropole sprengt den Gürtel

Paris ist eine Stadt im Umbruch: Immer häufiger haben wir in den letzten Jahren neugierig nach Frankreich geblickt, wo sich im Schatten des allgegenwärtigen Bling-Bling neue, ganz eigenständige Ansätze einer ernsthaften Architektur abzeichneten: Bauten von Eric Lapierre, Bruther, Muoto oder Barrault-Pressacco machten mit einer äusserst reduzierten, aus der Konstruktion und einem sozialen Konzept heraus gedachten Architektursprache auf sich aufmerksam: Tektonik ist auf einmal wichtiger als äussere Bewegtheit, eine gewisse Nüchternheit des Ausdrucks wird zum Programm, soziale und ökologische Glaubwürdigkeit stehen im Zentrum. Junge und innovative Architekturschaffende haben es jedoch nicht leicht in einem Land, wo die gesamte Immobilienwirtschaft in den Händen weniger mächtiger Entwicklungsgesellschaften liegt. Mit dem gross angelegten Innovationswettbewerb Réinventer Paris hat Anne Hidalgo nicht nur junge Architekturansätze, sondern auch ungewohnte Projektträgerschaften gefördert; in ihrem Auftrag schaffen die städtischen Liegenschaftenverwaltungen (RIVP, Paris Habitat) und sogar das ÖV-Unternehmen RATP auf den letzten verbleibenden Nischengrundstücken Freiräume für neue Architektur. Das schwelende Problem der französischen Hauptstadt, die tiefe Kluft zwischen der schicken, von Airbnb geplagten Kernstadt, und der sehr viel grösseren Banlieue, wo Millionen von Menschen von der globalisierten Wirtschaft kaum mehr gebraucht werden (manche Gemeinden kennen Arbeitslosenquoten von 35 bis 40 Prozent), diese Kluft wird auch mit dem zentralstaatlichen Grand Paris-Projekt nicht kleiner – denn dieses zielt primär auf den globalen Städtewettbewerb. Es zeichnet sich ab, dass die Benachteiligten auch weiterhin das Nachsehen haben.

Rosny-sous-Bois, 2006. Der Fotograf Emmanuel Pinard hat die Landschaften und Stadträume in der Banlieue von Paris in grossen Bildserien festgehalten.

Der Wille zur Grösse

Grand Paris als Fiktion und Realität

Günter Liehr, Emmanuel Pinard (Bilder)

Von den 11 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern des Grossraums Paris leben 9 Millionen ausserhalb des Boulevard Périphérique, in der Banlieue. Nicht wenige sind vom städtischen Leben und dem Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen. 2007 verkündete Nicolas Sarkozy die Schaffung eines Gross-Paris. Seither wird am 200 Kilometer langen Metro-Ring des Grand-Paris Express gebohrt, doch von der versprochenen sozialen und politischen Integration ist wenig geblieben, stellt unser Autor fest. Ist Le Grand Paris nur noch ein Immobilienprojekt im globalen Städtewettbewerb?

Place de la Nation, im Frühjahr 2017: Anwohnerinnen ud Anwohner bepflanzen die zentralen Grünfläche.
Bild: Coloco, Ane Blom

Die neuen Plätze von Paris

Aus Verkehrswüsten wird öffentlicher Raum

Susanne Stacher, Giaime Meloni (Bilder)

Paris war Europas erste Automobil-Hauptstadt, und Le Corbusier kann man sich ohne freie Fahrt für seinen Voisin nicht vorstellen. Jahrzehntelang dominierte das Auto den öffentlichen Raum – doch nun hat sich das Blatt gewendet: Seit zehn Jahren bauen rot-grüne Stadtregierungen Radwege und Busspuren, die grossen Plätze werden umgebaut und die Verkehrsfläche radikal reduziert: Aus Verkehrswüsten wird Raum für Menschen, für Langsamverkehr und Erholung.

Der Parc Martin Luther King von Jacqueline Osty ist in funktionale Zonen unterteilt: Hinter der Aussichtsplattform und dem diagonalen Verbindungsweg (im Vorder­ grund) finden sich Sportflächen. Den Hinter­grund bilden die leicht verdrehten Wohntürme des Îlot culturel von TVK und Tolila Gilliland. 
Bild: Cyrille Weiner

Städtebau am Übergang?

ZAC Clichy­–Batignolles

Dominique Boudet, Sergio Grazia / Paris & Métropole Aménagement (Bilder)

Ein riesiger Park, eine Silhouette von lebhaft bewegten Türmen, das höchste Hochhaus im Norden der Stadt: Das Entwicklungsgebiet Clichy-Batignolles gilt als Ökoquartier und Vorzeigeprojekt. Doch eine klare Auffassung von Stadt ist nicht erkennbar, und hinter den ondulierenden, gefalteten oder gestanzten Blechfassaden macht sich das Einerlei des Investoren-Wohnungsbaus breit. Steht das Neubauquartier für das Ende des punkigen French touch, der seit den 1990er Jahren die Architekturszene beherrschte? Originaltext Französisch

Umbau in engen Platzverhältnissen: Der junge Architekt Jean­Benoît Vétillard inszeniert mit einem multifunktionalen Möbel einen Raum im Raum.
Bild: Glaime Meloni

Paris im Kleinen

Möglichkeitsraum statt Projektionsfläche

Yves Dreier, Julia Tournaire

In der Pariser Immobilienwelt, die von wenigen Grossunternehmen kontrolliert wird, haben junge Architektinnen und Architekten einen schweren Stand. Offene Wettbewerbe gibt es kaum, und auch öffentliche Aufträge gehen meist an etablierte Teams. Neue Wege werden trotzdem im Rahmen von Ausstellungen, kunstnahen Projekten oder kleinen Umbauten erkundet. Zwischennutzungen und interdisziplinäre Planungsverfahren schaffen neue Freiräume, und der Wettbewerb Réinventer Paris bot ungeahnte Möglichkeiten. Originaltext Französisch

Résidence pour chercheurs, Cité Universitaire, Bruther

Bauten und Projekte

Architektonische Reise durch Grand Paris

Jenny Keller

Wo liegen die neusten Trouvaillen, wo bauen die Jungen, und wie findet man die angesagten Neubauquartiere? Eine Auswahl aus Grand Paris finden Stadtliebhaber auf vier Steiten oder online, prall gefüllt mit Hinweisen für die nächste Reise.

Anzeige

werk-notizen

Die Eingabefrist unseres Nachwuchswettbewerbs «Erstling» läuft neu bis zum 30. September, der FAS Ticino lanciert einen Nachwuchswettbewerb und werk-material.online hat ein neues Release erhalten.

Nachruf

Justus Dahinden 1925–2020

Bücher

Der Schlüssel zum günstigen Wohnen liegt bekanntlich vor allem im Grundstückspreis. So wird dieser Tage wieder öfter die Wohnungsfrage als Bodenfrage debattiert – unter anderem am Lehrstuhl für Architektur der Universität Luxemburg. Florian Hertweck hat den Tagungsband Positionen und Modelle zur Bodenfrage als Buch herausgebracht. Für Reisen nach Paris empfehlen wir wärmstens den Reiseführer Grand Paris unseres Autors Günter Liehr – und für Ferien in der Schweiz die Wandervorschläge Für Stadt und Dorf vom Schweizer Heimatschutz.

Ausstellungen

Die Museen sind aus dem Corona-Schlaf erwacht: Wir empfehlen einen Blick in die Schau zur Tiroler Architektur der 1970er Jahre in Innsbruck und eine Vertiefung in den Pariser Stadtumbau der Verkehrsräume. Geschichte und Zukunft der Champs-Élysées sind im Pavillon de l’Arsenal und als virtuelle Ausstellung zu geniessen.

Junge Architektur Schweiz

PO4 Seiler + Den Hartog

Alexa den Hartog und Yves Seiler entwickeln mit ihrem Büro PO4 Projekte auf eigene Faust.

Die aufgemauerte Sandsteinwand prägt die Atmosphäre des Saals sowie seine Akustik und ermöglichte die Raumsymmetrie.
Bild: Beat Bühler

Akustik als Erbschaft

Landenberghaus Greifensee, Horisberger Wagen und Stehrenberger Architektur

Roland Züger, Beat Bühler (Bilder)

Horisberger Wagen und Stehrenberger Architektur schufen einen stattlichen Rahmen für die mittelalterliche Anlage des Landenberghauses in Greifensee, inklusive feiner Klänge im Detail.

Brechung der klassisch­modernen Strenge: Ein neues Fenster verbindet das als Frei­hand-bibliothek genutzte ehemalige Bücher­magazin mit dem Stadtraum.
Bild: Leonardo Finotti

Stechuhr mit Piercing

Sanierung und Umbau der Zentral­ und Hochschulbibliothek Luzern, Lussi + Halter

Tibor Joanelly, Leonardo Finotti (Bilder)

Es bedurfte einer Bürgerbewegung, um die Luzerner Zentralbibliothek von Otto Dreyer zu retten. Lussi + Halter erneuerten den Bau und programmierten ihn neu.

Largement ouverte sur l’espace public, la halle expose les activités locales et sportives.
Bild: Roland Bernath

Eleganz eines Ozeanriesen

Aufstockung in Genf von Lacroix Chessex

Lorraine Beaudoin, Christophe Joud, Olivier di Giambattista (Bilder)

Nicht weniger als drei Geschosse setzten Lacroix Chessex als Aufstockung auf einen Wohnblock in Genf – dank Tragwerkreserven des Bestands und eines Wettbewerbs, der Türen öffnete. Originaltext Französisch

Largement ouverte sur l’espace public, la halle expose les activités locales et sportives.
Bild: Roland Bernath

werk-material 12.01 / 756

Repräsentative Scheune

Daniela Meyer, Roland Bernath (Bilder)

Mehrzweckhalle in Léchelles (FR), Joud Vergély Beaudoin Architectes

Wie ein Zweckbau steht die Halle am Rand des Dorfs in der Landschaft. Das grosse Fenster zur Strasse macht den Bühnenraum zum Probelokal.
Bild: Hannes Herz

werk-material 12.01 / 757

Janus an der Landstrasse

Philipp Schallnau, Hannes Henz (Bilder)

Mehrzweckhalle in Muolen (SG), Frei+Saarinen Architekten

Lesen Sie werk, bauen + wohnen im Abo und verpassen Sie keine Ausgabe oder bestellen Sie diese Einzelausgabe