Zu viel Diskurs

Vorgezogenes Debriefing zur 17. Architekturbiennale in Venedig

Danger! Be aware of seagulls. – Gefahr! Vorsicht vor Möwen. Kioskbesuchende in Venedigs Arsenale werden eindringlich ermahnt, auf ihr Sandwich achtzugeben. Und tatsächlich geschah es dem hier Schreibenden vor ein paar Jahren – während der von Rem Koolhaas ausgerichteten Biennale, in den Giardini –, dass ihm ein gefitztes Tier das Mittagessen vom Teller schnappte.

Zusammenleben mit Schimmelpilzen

Vermutlich hat sich der diesjährige Kurator Hashim Sarkis ein «Zusammenleben» etwas harmonischer vorgestellt. How Will We Live Together ist ja das Motto der um ein Jahr verschobenen Leistungsschau, und dass sich die eingeladenen Architekturschaffenden überlegten, wie wir Menschen mit anderen Spezies zusammenleben würden – mit Schimmelpilzen, Computernetzwerken, Vögeln etc. – entbehrt angesichts der besagten Warnung an der Kiosktür nicht einer gewissen Ironie.

Aber aufgepasst: Mit den «Möwen», die in Venedig auf einen Leckerbissen lauern, könnten durchaus auch die Architekturschaffenden selbst gemeint sein, die sich vorbehaltlos auf ein allzweijährlich neues Thema stürzen, um dieses dann mit verblüffender Geschicklichkeit dem aktuellen Geschehen in der Praxis zu entwinden.

Denn die 17. Architekturbiennale ist wie selten vor allem dem Diskurs verpflichtet: Es wird analysiert, spekuliert, entworfen, projektiert und statiert, was das Zeug hält; das Spektrum der Profession und der Architektur wird derart in die Breite und Tiefe entwickelt, dass dem Besuchenden die eigene Disziplin seltsam enthoben und fremd erscheint.

Zugegeben: Unter den weit über 100 Beiträgen in Arsenale, Giardini und sonst in Venedig gab es die eine oder andere Überraschung – ja auch Denkanstösse oder sogar künstlerische Schocks: Etwa wenn man fast am Ende des Arsenale-Parcours über eine Karte Venedigs läuft und merkt, wie der rote Stucco unter den Füssen knistert und knackt, wie das Bild Venedigs förmlich unter dem eigenen Gang zerbröselt … (Pessimistischer könnte man das Phänomen des Biennale-Besuchs kaum fassen.)

Fühlung verloren

Der alles überstrahlende Eindruck ist aber der: Mit dem Eintritt verschafft man sich Einblick in ein Karussell internationaler Architekturforschung on the Edge, welche die Fühlung zum Boden der Praxis längst verloren hat.

Man könnte argumentieren, dass dieses Abheben angesichts der Klimakrise geradezu notwendig ist – immerhin würden die Architekturschaffenden alsbald gar nicht mehr bauen. Und wenn sie ihre Gedankenspiele am Schreibtisch vollführten, würde auch nicht unnötig CO2 emittiert. Doch eine solch zynische Argumentation stellt den Sinn einer Biennale überhaupt in Frage. (An fundamentaler Kritik mangelt es nicht: So nimmt etwa Lukas Bärfuss die Architekturschaffenden in die moralische Pflicht, und Carolyn Smith fordert eine Biennale, die sich an lokalen Initiativen orientiert.)

Immerhin bot sich in Venedig bislang jene Gelegenheit für Architekturschaffende, sich über den eigenen Tellerrand hinaus zu informieren und tatsächlich an die grossen Diskurse in der Architektur anzuschliessen – wer dann aber behauptet, dass diese generell für die Praxis unfruchtbar wären, schiesst über das Ziel hinaus. Immerhin lag es bis anhin nicht zuletzt am zweijährlichen Stelldichein der Biennale selbst, dass die Architektur – zum Beispiel mit Alejandro Aravenas Reportig from the Front – überhaupt so etwas wie einen Social Turn vollziehen konnte.

Sturzflüge auf Neues

Vielleicht liegt es an der «DNA» der Biennale, dass Besuchende immer auch ein wenig der Horror der Beliebigkeit befällt. Denn seit der ersten offiziell «international» genannten Veranstaltung 1980 stand (mit wenigen Ausnahmen) immer ein Thema im Vordergrund, unter dem die Pluralität der Architektur versammelt werden musste (wobei die Architektur auch schon weniger plural war). Wäre demgemäss also eine Biennale ohne Thema denkbar? Das Problem würde sich wohl verschärfen, die Auswahl an Teilnehmenden und Beiträgen wohl noch schwieriger. Und Sturzflüge auf Neues würden erst recht befördert.

Es bleibt darum vor allem, die aktuelle Biennale zu kritisieren. Nebst der konstatierten Ferne von der Praxis ist auch das Thema heikel. Denn Architektur neigt genuin zu Festschreibungen, und ein in Bauten festgeschriebenes Together kann kippen, wird sehr schnell zu Zwang und Problem. Gerade zu Fragen in diesem Spannungsfeld hätte sich der Schreibende mehr Antworten erwartet. Tatsächlich aber gibt es einige wenige Beiträge, die Architektur vor allem als Möglichkeitsraum sehen; es sind dies diejenigen Projekte, die mittels freundlicher Gesten oder spezifischer neuer Funktionen in der Stadt solche Räume andeuten oder anbieten. In diesem Sinn ging der Goldene Löwe für den besten Beitrag in der Hauptausstellung an das Berliner Büro Raumlabor und ihr kollaboratives Stadtentwicklungsprojekt Haus der Statistik (vgl. wbw 7/8–2019 Berlin).

Die eingangs geschilderte Episode zeigt, dass ein maximal erweiterter Begriff des Zusammenlebens durchaus Überraschungen bereithält, die unheimlich und unangenehm sein können. Auf die Architektur gemünzt heisst das: Ort, Schutz und Habitat sind nicht zuletzt vor einem aus den Fugen geratenem Ökosystem Erde unabdingbare Themen für die Architektur. Kommt also nach der sprichwörtlichen Entgrenzung von Spezies und globalem Kontext die Kontraktion, die Besinnung auf die Endlichkeit? Hier ein thematischer Vorschlag für das nächste Stelldichein: Ein Motto wie etwa Shelter to Share könnte spezifische wie pluralistische Antworten liefern auf die von Hashim Sarkis diskursiv gestellte Frage.

— Tibor Joanelly

17. Architekturbiennale Venedig
bis 21. November 2021
Arsenale, Giardini sowie zahlreiche Aussenstationen in Venedig

Schimmel, für die Biennale entworfen
© Tibor Joanelly
Anzeige