«Du nimmst Partei für die Gesellschaft, ich für die Architektur»

Wonach richtet sich Architekturkritik in Zeiten des Klimanotstands? Im Hochparterre erhob Axel Simon Einspruch gegen Tibor Joanellys Kritik über das SRF-Medien- und Sportzentrum von Penzel/Valier. – Vor allem, weil der Bau viel Graue Energie konsumiert hat. Aus der Kollegenschelte wurde ein Gespräch moderiert durch die Kultur- und Architekturjournalistin Karin Salm.

Karin Salm In Deinem Einspruch fährst Du, Axel, Tibor Joanelly gehörig an den Karren. Gleichzeitig gibst Du zu, dass Du das neue SRF-News- und Sportzentrum in Zürich-Leutschenbach gar nicht gesehen hast, sondern es nur aufgrund von Fotos und Plänen kennst. Darf man das?

Axel Simon Man darf sicher keine Kritik über einen Bau schreiben, wenn man ihn nicht gesehen hat. Eine Kritik der Kritik ist aber schon möglich. Dafür haben mir die Infos – das waren Fotos, Pläne, eine Axonometrie der Konstruktion – gereicht. Nachdem ich mir das SFR-News-Center kürzlich mit dem Architekten Christian Penzel angeschaut habe, muss ich sagen, dass ich froh bin, den Neubau vorher nicht gesehen zu haben. Ich hätte meine Entgegnung auf Tibors Kritik nicht mehr so pointiert schreiben können.

Salm Warum?

Simon Räume umfassen und umgarnen einen. Sie lösen Gefühle, Erinnerungen aus – all das, was wir in Artikeln versuchen, den Lesern zu vermitteln. Bei meiner Kritik der Kritik war ich darum froh, Distanz zu haben. Eine Distanz, die generell wichtig wäre, um ein Gebäude nüchterner beurteilen zu können.

Salm Jetzt hast Du kritisiert, dass Tibor die Graue Energie ausser Acht gelassen hat. Hast Du das also nüchtern nachgerechnet?

Simon Wieviel nicht erneuerbare Energie im Bau eines Gebäudes steckt, ist schwer zu errechnen, aber es gibt ein paar Faustregeln. Zum Beispiel möglichst wenig Aushub, schlanke Tragstruktur, klimaneutrale Materialien. All diese Faustregeln sind beim SRF-Gebäude nicht eingehalten. Da gibt’s betonummantelte Stahlkonstruktionen, um acht Meter weite Auskragungen zu halten. Bei der Produktion von Beton und Stahl fällt viel CO2 an. Und dann die Tiefgarage mit 30 Meter tiefen Spundwänden im Sumpfboden. Bezogen auf den CO2-Ausstoss ist dieser Bau absurd, das kann man auch ohne genaue Berechnungen beurteilen.

Salm Dieser Einspruch von Axel hat Dich, Tibor, getroffen. wbw-Chefredaktor Daniel Kurz hat sogar mit einer Replik reagiert. Warum?

Tibor Joanelly Es ist ja nicht so, dass wir bei werk, bauen + wohnen nicht über Nachhaltigkeit schreiben würden – im Gegenteil, das Thema ist bei uns schon lange präsent. Und auch ich schneide es immer wieder an. Darüber hinaus hat mich aber vor allem Axels Kollegenschelte irritiert. In der Schweiz haben wir gut sieben, mehr oder weniger unabhängige Architekturzeitschriften. Ich war überzeugt, dass wir alle eigenständig und unter grosser Konkurrenz an einem gemeinsamen Architekturteppich weben und dass man sich deshalb in Ruhe lässt.

Salm Inwieweit hat Dich gestört, dass Axel Dich kritisiert hat, ohne den Neubau gesehen zu haben?

Joanelly Wir wissen nicht, wie nachhaltig das Gebäude tatsächlich ist, gemessen an seiner Grösse und am Pflichtenheft. Zudem fand ich den Vorwurf falsch und unpräzise, dass ich einer «brutalistischen Ästhetik» das Wort reden würde. Im selben Heft habe ich dargelegt, dass es angesichts des Klimawandels eben nicht um Ismen oder Stildiskurse geht. Damit man die Komplexität eines Bauwerks erfassen und beurteilen kann, ist es unerlässlich, dass man genau hinschaut.

Salm In Deiner Kritik sprichst Du von einem bedeutenden Gebäude. Aber das Thema der Grauen Energie erwähnst Du nicht einmal. Warum?

Joanelly Das ist eine Frage der Priorität. Ein Gebäude ist ein komplexer Organismus, es beinhaltet Aspekte auch der Wahrnehmung, der Ästhetik, des Machens. Selbst wenn man ein ganzes Buch über ein Gebäude schreibt, wird es Dinge geben, die man konzeptionell oder aus Platzgründen nicht einbinden kann oder will. Im Falle von Leutschenbach war mein Interesse am System der Konstruktion und der Raumwirkung so stark, dass ich beschlossen habe, in erster Linie darüber zu schreiben. Das heisst nicht, dass für mich die Nachhaltigkeit keine Rolle spielt.

Salm Tibor argumentiert mit inhaltlichen und konzeptionellen Prioritäten. Man könnte es auch zuspitzen: Es ermüdet, wenn das Thema Nachhaltigkeit in jeder Architekturkritik auftaucht.

Simon Das Thema Nachhaltigkeit müsste eigentlich immer Beachtung finden, erst recht, wenn man die Wichtigkeit und Bedeutung eines Baus hervorhebt. 2019 war das Jahr, in dem sehr viele Menschen gewahr wurden, dass wir uns in einem Klimanotstand befinden, und bei mir festigte sich die Überzeugung, dass es auch unsere Aufgabe als Architekturkritiker ist, das zu thematisieren. Bemerkenswert finde ich, dass Du, Tibor, im selben Heft, in dem auch deine Kritik steht, geschrieben hast: «Selbst wenn es in Zukunft darum geht, möglichst auf energieintensive Reisen und Beton als ästhetisches Ausdrucksmittel zu verzichten, so ist für die Architektur mehr gewonnen als verloren.» In Deiner Kritik wirst Du diesem Satz aber überhaupt nicht gerecht. Wenn wir es gemeinsam schaffen wollen, 2050 bei Netto Null CO2 anzukommen, kann man das Thema nicht einfach weglassen, weil es grad nicht reinpasst.

Joanelly Einspruch! Muss denn in jedem Text immer alles gesagt sein? Zudem: Wenn wir über ein fertiges Gebäude reden, dann reden wir immer über die Vergangenheit. Wir reden über etwas, das irgendwie bestellt und entsprechend den Möglichkeiten der Architekturschaffenden umgesetzt wurde. Im Falle von Leutschenbach fielen die Entscheide vor sieben oder acht Jahren, als die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Diskussionen noch anders waren. Den SRF-Neubau und seine Architekten nachträglich an den Kriterien der Nachhaltigkeit zu messen, ist unrealistisch und unfair.

Salm Wie sieht das bei Dir aus Axel: Hast Du 2019 konsequent in Deinen Artikeln mit dem Argument der Nachhaltigkeit argumentiert?

Simon Wir haben kürzlich an einer Hochparterre-Retraite intensiv diskutiert, wie wir mit dem Thema umgehen wollen. Wir haben gemerkt, dass wir bereits gut aufgestellt sind: Seit den Anfängen der Zeitschrift schreiben wir über Zersiedelung oder soziale Nachhaltigkeit, in den letzten Jahren sind verstärkt Themen wie Solarenergie, Ressourcen oder Graue Energie dazugekommen. Ab sofort haben wir uns vorgenommen, die Nachhaltigkeit als Querschnittsthema zu behandeln, das heisst, es wird keinen Artikel mehr geben, in dem relevante ökologische Fragen, die das besprochene Thema betreffen, völlig ausgeblendet sind.

Joanelly Ich würde mich absolut dagegen wehren, stets primär den Aspekt der Nachhaltigkeit zu besprechen. Diese Regel würde mir im Weg stehen, andere Dinge, die mir ein Anliegen sind, präzise zu beschreiben und zu kommentieren.

Salm Welche Dinge sind Dir ein Anliegen?

Joanelly Für mich ist die Ästhetik ein absolut zentrales Element. Die Art und Weise, wie etwas gedacht und gebaut ist und darum wirkt, ist in der Klimadebatte ebenso entscheidend wie die Frage der Grauen Energie. Oder anders gesagt: Wenn wir nicht mehr über die Ästhetik sprechen, dann kommt uns etwas Wesentliches abhanden. Ästhetik ist ein Leuchtturm, der uns einlädt, sich genauer mit einem Gebäude auseinanderzusetzen. Man kann die Ästhetik nicht zwingend unter die Vorgaben der Nachhaltigkeit stellen, weil dies einem Denkverbot gleichkommen würde.

Salm Das heisst, wenn Du über ein ästhetisch attraktives Gebäude, das sich als Energieschleuder entpuppt, eine Kritik schreibst, würdest Du auch in Zukunft Energie- und Klimafragen aussen vorlassen?

Joanelly Wenn es sich um eine «Energieschleuder» handelt, wohl kaum. Allerdings sollten wir uns erst klar darüber werden, was damit gemeint ist. Architektur war schon immer Verschwendung und Überschuss! Solange das Wort «Architektur» mit einem grossen «A» geschrieben ist, reden wir eben nicht einfach nur über das Bauen. Aufgabe der Architekturkritik ist es zu zeigen, wie ein Mehr an Ästhetik oder Nutzen entsteht. Das Wissen darum möchte ich in einer Kritik übermitteln. Letztlich kommt genau dieses Wissen der Idee der Nachhaltigkeit zugute: Ästhetische Nachhaltigkeit verkörpert Werte, die auch Dauer einschliessen.

Simon Mir wird Architektur viel zu häufig mit grossem «A» geschrieben. Ihr Zweck ist ein gesellschaftlicher. Um die Qualität eines Gebäudes zu beurteilen, gelten die vitruvianischen Kategorien «Firmitas», «Utilitas» und «Venustas» zwar nach wie vor. Aber es fehlt etwas, das heute wichtiger ist denn je: die Zukunftsfähigkeit. Als Architekturkritiker ist es mein Job, den Architekten immer wieder zu sagen, dass es diese vierte Kategorie gibt, und dass sie mehr umfasst als nur Dauerhaftigkeit.

Salm Vielleicht müssten wir jetzt über den Sinn und Zweck der Architekturkritik reden. Hat sie für Euch einen gesellschaftlichen Auftrag?

Joanelly Mir geht es nicht darum, die Architektur in einem gesellschaftlichen Diskurs in Schranken zu weisen. Mir geht es darum, die Wirkungsweise von Architektur unter Fachleuten zu diskutieren. Innerhalb unserer zugegebenermassen kleinen Arena möchte ich einen Beitrag leisten, um Architektur weiter führen zu können. Ich möchte Denk- und Diskussionsräume öffnen für Architekturschaffende, die auf Innovation angewiesen sind, und die Architektur auch als Kunst und als mehr als die reine Erfüllung von Bedürfnissen verstehen. Als Kritiker sehe ich mich aktiv als jemanden, der mitwebt am Architekturteppich. Darum kann ich nicht jedes Gebäude abservieren, das gewisse Ansprüche der Nachhaltigkeit nicht erfüllt und doch bemerkenswerte Aspekte und Innovationen zeigt.

Simon Das Bild des aktiven Kritikers gefällt mir. Ich verstehe mich einerseits als Anwalt des Laienpublikums, der versucht, es zu sensibilisieren für Fragen der Architektur und der den Architekten sagt, dass sie nicht für Ihresgleichen bauen. Andererseits bin ich im Hochparterre natürlich auch Teil des Fachdiskurses. Und dort finde ich es wichtig, Diskussionen anzuzetteln und zu führen. Jeder Architekt sagt, dass ihm Umwelt- und Klimafragen wichtig seien, aber beim nächsten Projekt optimiert er dann den Status Quo, statt ihn infrage zu stellen. Dieser Widerspruch geht nicht mehr.

Joanelly Da wirfst Du alle Architekturschaffenden in einen Topf. Unsere bauenden Kollegen sind viel intelligenter und registrieren, was gesellschaftlich diskutiert und erwartet wird. Hier gibt es ein undefiniertes Feld, das es zu erobern gilt. Darauf habe ich in meinem Text zu einer «terrestrischen Architektur» im selben Heft hingewiesen.

Simon Es ist eben auch an uns Schreibenden, dieses Feld zu erobern. Und zwar nicht nur in schöngeistigen Essays, sondern auch in der tagtäglichen Architekturkritik. Aber Du hast Recht: Das Feld ist offen für Architektur, wie man sie bislang kaum denkt. Die Basler Architektin Barbara Buser zeigt mit ihrem Büro «in situ» zum Beispiel ein ganz anderes Berufsverständnis, indem sie Areale selbst entwickelt, dabei die soziale Ebene stark gewichtet und mit vorhandenen Bauteilen baut. In dieser Arbeitsweise steckt viel Zukunft.

Joanelly Und siehst Du: Hier werde ich dann die Ästhetik vermissen. Da können wir den Spiess umdrehen, und ich erhebe Einspruch gegen Deine Kritik. Ich schliesse nicht aus, dass Barbara Busers Methode ästhetisch interessante Lösungen ermöglicht. Bis jetzt habe ich aber nichts gesehen, was mich überzeugt.

Salm Was fehlt Dir?

Joanelly Mir fehlt bisher das Glatte oder das wirklich Widersprüchliche, das Salz in der Suppe. Es sieht immer aus wie Bricolage, wie Bastelei.

Simon Vielleicht ist die Architektur unserer Zeit ja so: weniger glatt, mehr gebastelt. Aber, einverstanden, es braucht wirklich gute Architekten, um mit solchen Dingen wie wiederverwerteten Bauteilen Architektur zu machen. Doch denken wir an Roger Boltshauser, der heute grossartige Gebäude mit Stampflehm baut. Vor zehn Jahren fanden wir Stampflehm noch ein ekelhaftes Material.

Salm Wenn wir davon ausgehen, dass wir einen Klimanotstand haben. Gelten dann in der Architekturkritik nicht andere Regeln, so dass die architektonische Ästhetik nicht an erster Stelle kommt?

Joanelly In diesem Fall könnte ich einpacken und aufhören. Denn ich möchte mich nicht in den Dienst eines Zwecks stellen, ich möchte meine Unabhängigkeit als Kritiker behalten und entscheiden, was im Sinne der Architektur richtig ist und was nicht. Das heisst nicht, dass ich nicht überzeugt bin, dass es einen Wechsel braucht. Die Trennungsschmerzen werden allerdings gross sein. Und ohne Ästhetik geht’s nicht, weil das Ästhetische diese Schmerzen lindern kann und die Leute an Bord holt.

Simon Wenn der Zweck ist, den kommenden Generationen die Katastrophe zu ersparen, stelle ich mich gern in seinen Dienst. Mich erschüttert, dass Deine Schönheitsvorstellung losgelöst ist von der gesellschaftlichen Ebene, von diesem Notstand. Meine hat mit dem aktuellen Geschehen zu tun. Weil sich alles verändert, verändert sich auch das, was wir für schön halten. Die reine Kunst ist vielleicht eine Welt, in die man sich flüchten kann. Aber darum geht’s in der Architektur sicher nicht. Architektur ist Teil der Gesellschaft.

Joanelly Du nimmst Partei für die Gesellschaft, ich nehme Partei für die Architektur. Ich sage nicht, dass mich das Gesellschaftliche nicht interessiert. Doch das heisst auch nicht, dass Architektur keine eigenen Regeln kennen würde und keine anderen Bilder als diejenigen, die Mainstream produzieren. Wenn es in einem Gebäude nichts mehr gibt, das über die Gesellschaft hinausweist, dann ist es keine Architektur mehr, dann ist es langweilig und kann nicht mehr Vorbild sein.

Simon Aber es geht doch genau um Vorbilder für eine klimagerechte Welt!

Joanelly Ja, wir brauchen das Bild einer klimagerechten Welt. Es muss aber nicht in jedem Bauwerk verkörpert sein.

— Karin Salm

Karin Salm ist Kultur- und Architekturjournalistin. Sie arbeitete viele Jahre als Redaktorin von Radio SRF und ist seit 2016 freie Autorin.

Axel Simon ist Redaktor Architektur bei der Zeitschrift Hochparterre.

Tibor Joanelly ist Redaktor bei werk, bauen + wohnen. Sein Bericht zum SRF Medien- und Sportzentrum erschien in wbw 11–2019.

Debattenbeiträge zum Thema Energie und Architektur:
wbw 3 – 2020
Elli Mosayebi, Energie als Ästhetik

wbw 11 – 2019
Tibor Joanelly, Terrestrische Architektur

wbw 7/8–2019
Andreas Meyer Primavesi, Die Lüftungsfrage am Objekt beantworten

wbw 6–2019
Werner Binotto, Die Anarchie des Lowtech

wbw 5–2019
Diego Sigrist und Kevin Knecht, Zweifel an der Komfortlüftung

wbw 12–2018
Sabine von Fischer, Ein Haus ist kein Kühlschrank

© Istvan Balogh
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