Das wertvolle Obsolete

Es gibt Momente, da ändert sich einfach alles, nicht zuletzt der eigene Blick auf die Welt. Momente, in denen sich Erinnerungen mit einer Ahnung für die Zukunft verbinden, Momente, in denen das Neue unvermittelt zum Eigenen wird. Ein solcher Moment bot sich mir anlässlich der Eröffnung der Ausstellung Urbane Räume: Vier Perspektiven im ZAZ Zentrum Architektur Zürich in der Villa Bellerive.

Zum einen war da die Atmosphäre der Vernissage: So viele junge Menschen sind selten zu sehen in den alt-ehrwürdigen Räumen der Villa Bellerive. In der Luft lag so etwas wie ein Versprechen, dass es eine Zukunft gäbe, und dass diese spannend, aufregend, fruchtbar sein würde. Und vor allem auch schön. Und dann war da zum andern eben derjenige Beitrag junger Architekten, der mich in die Zeit kurz nach seinem Diplom katapultierte. An jenen Tag nämlich, als ich zusammen mit einem Atelierpartner das aufgelassene Gelände der einstigen Graphitfabrik in Zürich Affoltern illegal betrat und neben dem Gefühl, dass ich als Architekt aus den leeren Hallen etwas Tolles machen könnte, auch eine unnütze Kartonschachtel gefüllt mit Graphitklötzen mitbrachte. Wie Andrei Tarkowskis Stalker aus der Zone.

Die Kartonschachtel und die makellos schwarzen Klötzchen aus reinem Kohlenstoff sind längst entsorgt, und an der Stelle der Fabrik steht jetzt die etwas beschämende Bachmann-Überbauung (eine Halle steht noch). Aus der nervösen Ahnung wurde die Erkenntnis, dass Architektur im realen Leben auch sehr enttäuschen kann.

Doch nun zum Beitrag in der Ausstellung: Das Kollektiv 8000.agency dokumentiert das aktuelle Geschehen rund um die Zürcher Siedlung Wydäckerring, ein von den Eigentümern als obsolet betrachtetes Riesending aus der Zeit des Schweizer Plattenbaus, an dessen Stelle nun ein Ersatzneubau von Duplex Architekten treten soll. Der Kern des Kollektivs, drei junge Architekten, hat als Teil seiner Diplomarbeit allerlei Fundstücke aus der Siedlung zusammengetragen und eben ins ZAZ gebracht – Dinge, die nun nutzlos sind und doch schön, und an denen die Aura des kostbar Obsoleten anhängt wie an meinen Graphitklötzen. Doch im ZAZ wird auch eine Geschichte erzählt, die weit über die persönlichen Empfindungen der Zürcher Stalker hinausgehen: Erzählt werden sowohl die Technik der schweren Vorfabrikation als auch ihr Kontext im damaligen Zürich; erzählt werden aber auch die Geschichten der letzten Bewohner, erzählt werden Geschichten zur Dicke der Humusschicht über der Tiefgarage.

Und das ist nicht alles. Über diese Archäologie hinaus macht das Kollektiv auch Vorschläge, wie die Siedlung hätte neu genutzt werden können. Das beginnt mit einer cleveren Strategie für die bauphysikalische Ertüchtigung und geht über funktionale Verbesserungen und Neuzuschreibungen hinaus, allein mit minimalen architektonischen Interventionen, die cool, konzeptionell, präzise kalkuliert und das Gegenteil von Bastelei sind. Eben architektonisch. Genau damit öffnete sich der besagte Spalt in die Zukunft. Und genau damit bin ich abgeholt für den Weg in eine dekarbonisierte Welt.

Es gibt aber einen Haken. Mein Entwenden der (ohnehin nicht mehr gebrauchten) Kohlenstoff-Klötze war ein abenteuerlicher und ein spielerischer Akt, vollständig zweckfrei, allein einem Gefühl des Interesses für das Objekt geschuldet, unnütz eigentlich. Kurz: Die Aktion generierte für mich als jungen Architekten keinen Franken Einkommen. Wenn ich heute den drei Protagonisten von 8000.agency beim Streifzug durch die Siedlung auf Video folge, so frage ich mich nun, wie aus einer so radikal entworfenen Spaziergangs-Nachhaltigkeit überhaupt eine Tätigkeit werden kann, welche die Miete zahlt und die Butter aufs Brot (oder das vegane Äquivalent). Und diese Frage hat allgemeine Gültigkeit: Wie um Himmelswillen wollen Architekturschaffende mit «Akupunktur» Geld verdienen? Wer bezahlt aufgrund welcher standesrechtlichen Vereinbarungen ein Honorar, von dem es sich leben lässt?

Die Fragen zielen selbstverständlich über die Architektur hinaus – wenn diese nicht exklusives Hobby begüterter Dandys und Exzentrikerinnen sein soll (was sie seit Jahrhunderten war). Wenn Nachhaltigkeit etwas mit Spiel zu tun haben soll – mit Freude an der Archäologie und am Weiterdenken und Weiterbauen –, dann wird klar, dass auch der gesellschaftliche Rahmen neu abgesteckt werden muss. Und mit ihm die Art, wie wir leben und arbeiten und dafür bezahlt werden. Resonanz als neuer Weltzugang – so beschreibt der Soziologe Hartmut Rosa eine achtsame und gleichaufgestellte Beziehung mit dem, was uns umgibt – bedingt nicht nur Entschleunigung, sondern auch neue Formen des Wirtschaftens. Im Klartext und mit den Worten von Rosa: ein «garantiertes, voraussetzungsloses Grundeinkommen […] als das plausibelste sozialstaatliche Korrelat zu einer ökonomischen Postwachstumsgesellschaft» – oder ein anderes gesellschaftliches Modell, das die für Veränderung notwendige Musse einpreist.

— Tibor Joanelly

Urbane Räume: Vier Perspektiven
bis 13. März 2022, Mittwoch bis Sonntag 14h–18h

Die Ausstellung präsentiert neben der hier beschriebenen Arbeit von 8000.agency drei weitere gegenwartsbezogene Zugriffe, die sich mit der gebauten Umwelt im städtischen Lebensraum auf unterschiedlichste Weise auseinandersetzen: Arbeiten von Meret Wandeler, Thomas Imbach und Studio Otherworlds.

© 8000.agency
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Die nächste Generation an der Arbeit ©8000.agency