Der Streik der Architektinnen

Eine Woche bevor Corona auch in Mexiko die ersten ins freiwillige Homeoffice zwingt, gingen viele Architektinnen schon nicht ins Büro. Nicht, um die Verbreitung eines neuartigen Virus einzudämmen, sondern um eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit sichtbar zu machen und gegen die Gewalt an Frauen anzukämpfen.

«Kommt nicht zur Arbeit, beantwortet keine Emails oder Anrufe im beruflichen Kontext, geht nicht raus, macht euch für einen Tag unsichtbar!» So lauteten die Anweisungen für Architektinnen, die am nationalen Frauenstreik unter dem Motto «ein Tag ohne uns» teilnahmen. Wie die meisten Frauen in den Städten Mexikos entschied sich auch ein Grossteil unserer Berufsgattung am Montag, 9. März, ein Zeichen zu setzen: gegen die zunehmenden Angriffe auf Frauen und die steigende Zahl an zutiefst erschütternden Morden an Frauen. Unternehmen, Schulen und Universitäten bis hin zu Regierungsbehörden befürworteten die Streikteilnahme der Frauen und Mädchen. Nachdem ein Tag zuvor über hunderttausend Frauen die Strassen gefüllt hatten, um am internationalen Frauentag für das Leben und das Recht der Frauen dieses Landes zu protestieren, bot sich am Montag in der Hauptstadt das befremdliche Bild einer fast «frauenleeren» Stadt. Die Schalter an den Metrostationen waren nicht besetzt; Schulen mit überwiegend weiblichem Personal mussten schliessen: das Fehlen der Frau wurde verbildlicht.

Auch eine Gruppe namhafter Architektinnen nahm sich des Themas an und organsierte in Oaxaca eine Konferenz mit Titel «Protestakt». Die sieben Architektinnen Frida Escobedo, Gabriela Carrillo, Sol Camacho, Loreta Castro, Tatiana Bilbao, Rozana Montiel und Cristina Verissimo präsentierten an der dreitägigen Veranstaltung ihre Arbeit, und sie diskutierten, ob und wie architektonische oder städtebauliche Ansätze die Gewalt gegen Frauen eindämmen könne. Die Vertretung und die Arbeitsbedingungen der Frauen in Architekturbüros waren auch Thema: Wie in vielen europäischen Ländern ist auch in Mexiko der Frauenanteil im Architekturstudium auf über 50% gestiegen, doch auch hier gibt ein Grossteil der jungen Architektinnen ihren Beruf bald auf, da er sich mit ausserberuflichen Engagements und einer Mutterschaft schwierig vereinbaren lässt.

Zusammen und vereint traten die sieben Architektinnen auf, um in einem Land voller Ungerechtigkeiten eine neue Realität zu fordern. Diversität und weibliche Vorbilder waren dabei Schlüsselbegriffe. Im Verlauf der Veranstaltung wurde deutlich, dass das grösste Potenzial für Veränderung im Hinterfragen von Gegebenem liegt: Sowohl Architektur als auch Städtebau seien geprägt von Tatsachen im Grundriss und Raumprogramm, die gesellschaftlich als «normal» oder gegeben betrachtet werden. Als bekanntes und unmissverständliches Beispiel nennt Tatiana Bilbao die Küche, die bis heute in Mexiko eine grosse Rolle spielt, um geschlechtsspezifische Beziehungen im Wohnraum zu schaffen. Die Diskriminierung beginnt im häuslichen Kontext, in dem die Familie institutionalisiert wird, so Bilbao. Frida Escobedo zeigt auf, dass bis heute in Wohnhäusern der privilegierten Klasse noch immer kleine, isolierte Wohneinheiten mit Schleichwegen für die Haushälterin gebaut werden. Rozana Montiel hebt hervor, dass in identifizierbar öffentlichen Räumen, die sich die Gemeinschaft aneignet, die Sicherheit für alle zunimmt.

Ebenfalls «normalisiert» oder berichtigt wurde, dass im ehemals gemeinsam geführten Büro von Mauricio Rocha und Gabriela Carrillo die Arbeiten nur unter dem Namen des männlichen Büropartners kommuniziert wurden. «Frauen müssen die Angst verlieren, ihre Stimme zu erheben», lautete daher der Aufruf von Carrillo. Am Ende der Veranstaltung eilte ein Dutzend junger Frauen auf die Bühne, um ein Selfie mit ihren Vorbildern zu machen. Es ist die nächste Generation, die hoffentlich in die Fussstapfen dieser beeindruckenden Architektinnen voller Selbstvertrauen und Leidenschaft für ihren Beruf treten werden.

— Laure Nashed

Mehr von Laure Nashed und ihrer Erfahrung in Mexiko auf ihrem Blog «Learning from Mexico».

© Laure Nashed
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