Entwerfen, bauen, reden

Nun sind sie auch in Lissabon angekommen, die grossen Kreuzfahrtschiffe. Die über 300 Meter langen Kolosse sind Symptome eines Tourismus, dessen Hunger nach angesagten Orten und spektakulären Venues kaum zu stillen ist, und der ohne Rücksicht auf kulturelle Verluste die Kassen klingeln lässt. Wie in Venedig ist diese Form des globalisierten Massenamusements auch für Lissabon zur Last geworden; Uber, AirBnB etc. sorgen dafür, dass jede und jeder billig und schnell ans Ziel kommen, und dass die wirtschaftlichen Strukturen, die die Krise der letzten Jahre überdauert haben, letztendlich auch noch zerstört, «disruptiert» werden.
In diesem Kontext hat letzte Woche die Lissaboner Architekturtriennale ihre Tore geöffnet. Sie findet zum vierten Mal statt und sieht sich als komplementäre Veranstaltung zum zweijährlich stattfindenden Grossevent in Venedig. Thematisch war denn auch eine etwas andere Gewichtung als dort zu erwarten. Kurator André Tavares, der in unserem Heft 7/8–2012 zu Porto über die portugiesischen «Easy-Jet-Professoren» geschrieben hat, hat zusammen mit dem Anfang Jahr tragischerweise verstorbenen Diogo Seixas Lopes eine subtile, geistvolle und intim kuratierte Schau unter dem etwas kryptischen Titel The Form of Form auf die Beine gestellt. Gemeint sind damit jene Kräfte, die Architektur formen und sich in der Person des Autors, auf der Baustelle und im Kollektiv äussern. Entsprechend gliedert sich die diesjährige Triennale in drei Hauptausstellungen an drei verschiedenen Orten.
Ausgangspunkt ist eine grossflächige Rauminstallation am Quai des Flusses Tejo vor dem Museum für Kunst, Architektur und Technik MAAT, das just um einen Aufsehen erheischenden Neubau erweitert worden ist. Die Architekten Johnston Marklee, Nuno Brandão Costa und Office KGDVS errichteten dort gemeinsam eine begehbare Architekturkulisse aus Gipsplatten und Blechprofilen. Die Frage der Autorschaft wird hier insofern gestellt, weil jeder der beteiligten nach seinem Ermessen ein Fragment aus den Werken seiner Kollegen mit einem neuen Ganzen verband. Auf die Wände gedruckt wurden als Metasprache der Architektur Referenzen, die die Entwurfstätigkeit der beteiligten umgetrieben haben. Der Schauplatz ist Wetter und gewöhnlichem Publikum für drei Monate uneingeschränkt ausgesetzt. Das Ganze wirkt für sich betrachtet etwas selbstreferenziell, erhält aber Sinn im Zusammenhang mit den anderen Schauplätzen der Triennale.
Die zweite Hauptausstellung im Museu Calouste Gulbenkian ist auch für Nicht-Architekten einfach zu lesen; was als «Form der Form» am Quai sozusagen en passant mehr gefühlt als verstanden werden konnte, ist hier anschaulich und greifbar auf den Boden der Realität gebracht: Building Site, von André Tavares direkt kuratiert, zeigt schlicht und ergreifend Wechselwirkungen zwischen Baustelle und Entwurf. So ist etwa dokumentiert, wie für die Casa da Música in Porto von OMA/Rem Koolhaas erst mit voranschreitendem Bauprozess die definitive Form gefunden wurde. Oder, wie die jungen portugiesischen Architekten Skrei, im Geist von Studio Mumbai, Baukonstruktionen radikal vom Material und den eigenen handwerklichen Möglichkeiten her denken. Building Site zeigt, was hinter den Bildern fertiger Bauten in den Medien verborgen bleibt und auch von Kritikern gern verschwiegen wird; Architektur kann von der Baustelle nur lernen.
In der dritten Hauptausstellung The World in our Eyes im Kulturzentrum von Bélem CCB, nicht unweit vom ersten hier erwähnten Ort entfernt, haben FIG Projects mit Barão Hutter als Ausstellungsgestalter Arbeiten zusammengetragen, in denen zum kollektiv gelebten Territorium geforscht wird. Die Dechiffrierung der Präsentationen erfordert viel Konzentration. Viele der Schlussfolgerungen aus den Analysen haben einen entweder künstlerischen oder einen technischen Charakter, und es fragt sich, was diese Art der Recherche nun eigentlich mit Architektur und dem Entwerfen zu tun hat. Man kann die gehäufte Information allerdings auch als eine Art kollektive Nachbesprechung von Architektur sehen oder als moralischen Imperativ: Nach dem Entwurf ist vor dem Entwurf – in Gesellschaft und Territorium.
André Tavares spricht von der Triennale als einer Ausstellung nahe an der Praxis der Architektur: Man entwerfe, baue und spreche über sie. Ziel sei es gewesen, im Machen architektonisches Wissen zu erobern. Wenn man in der Gesamtsicht alle drei Hauptausstellungen als voneinander nicht ablösbare Porträts der Entwurfstätigkeit begreift, dann kann dieses Ziel auch für die eigene Arbeit fruchtbar sein.
Die Mühe, die architektonischen Realitäten des Entwurfs und der Baustelle mit der durch soziale Kräfte bestimmten territorialen Wirklichkeit zusammenzubringen, zeigt, dass die Möglichkeiten der Architektur nicht überschätzt werden dürfen. Die Lissaboner Triennale kümmert sich um Fragen des architektonischen Handwerks und tönt die sozialen Implikationen vor Ort nur an – gescheiterweise hat das Kuratorium diese denn auch vertagt. Sobald die internationale Karawane weitergezogen ist, lässt es sich besser darüber beraten, was von dieser überhaupt zu erwarten ist. Einen Anfang dazu hat man vor der Eröffnung der Triennale gemacht. Im Garten des Palácio Sinel de Cordes, ihrem Hauptquartier, versammelten sich Anfang Juni gegen 500 Personen, um über die Folgen der touristischen Gentrifizierung und mögliche Gegenstrategien zu diskutieren.
 
Die Triennale läuft bis 11. Dezember 2016. Neben den drei Hauptschauen sind verschiedene weitere Ausstellungen und Anlässe als «Satelliten» zu besichtigen. Dieser Bericht ist anlässlich einer organisierten Pressereise entstanden. Der Katalog ist bei Lars Müller Publishers erschienen.

— Tibor Joanelly
© Tibor Joanelly
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