Japanische Klumpen

Zur Rush-Hour an der berühmten Shibuya-Kreuzung in Tokio: Gerade noch schafft es eine Horde Go-Kart-fahrender Manga-Helden bei Grün um die Ecke, als sich ein gespenstischer Moment der Ruhe zwischen die hoch aufragenden Häuser legt. Dann wird der ganze Raum der Kreuzung mit Menschen geflutet, rundum tönt es aus Lautsprechern und von Verkehrsampeln, und von riesigen LED-Bildschirmen winken die Versprechen des Konsums. Im Regen verschwimmen Töne, Bilder, Regenschirme und Menschen zu einem synästhetischen Ganzen. Irgendwann, nach gefühlter Ewigkeit, dünnen sich die Menschenströme aus, wiederum tritt ein Moment der Ruhe ein, und schliesslich braust erneut der Verkehr.

Wie Ebbe und Flut wechselt der Aggregatzustand der Shibuya Crossing, der verkehrsplanerischen On-Off-Antwort auf die Herausforderungen der japanischen Metropole Tokio. An kaum einem anderen Ort der Welt ist Urbanität so elementar erfahrbar wie hier: ein Naturereignis, angetrieben durch die Rhythmen der Grossstadt. Gespiesen wird das Phänomen durch den unmittelbar angrenzenden Bahnhof. Shibuya ist einer der grössten weltweit, mehr als 2,5 Millionen Menschen steigen hier täglich um, ein oder aus.

Überblicken lässt sich das Gewusel aus dem elften Stockwerk des 2012 eröffneten Shibuya Hikarie, einem Hochhaus, das dem Vorbild des Büro-, Shopping- und Wohnkomplex Roppongi Hills (2003) folgt und Tokios Ökosystem ein weiteres Exemplar der Spezies «Renditebolzer» hinzufügt. Hikarie ist ein hybrides Hochhaus, dessen erste elf Geschosse Restaurants und Läden beherbergen. Darüber erstreckt sich jene Lobby, von der aus sich der Blick auf die Kreuzung geniessen lässt. Der Raum ist weit entfernt von einer Hochhaus-typischen Plüsch- und Fahrstuhlmusik-Ästhetik, vielmehr findet man in luftiger Höhe einen «städtischen Platz». Denn die Lobby ist auch das Foyer des darüber liegenden Tokyu Orb Musical-Theaters mit knapp 2000 Sitzen. Und sie ist Lift-Umsteigestation für die Büros weiter darüber, inklusive Mini-Supermarkt. Hikarie ist die japanische Variante dessen, was wir hier seit Lisa Eulers und Tanja Reimers Forschungsarbeit «Klumpen» nennen.

Doch mit den kurumporu – die Schöpfung eines japanischen Worts sei hier erlaubt – kommt es noch grösser und dicker in Shibuya. Hikarie ist das erste Symptom eines gross angelegten Umbaus des Bahnhofs, der erst 2027 abgeschlossen sein wird. Die Eigentümer Japan Rail haben, ähnlich wie hierzulande die SBB, ein Infrastrukturprojekt mit forcierter Projektentwicklung kombiniert. Beim Umbau der Shibuya Station werden nicht nur zwei bisher oberirdisch geführte U-Bahn-Linien neu im Untergrund verknüpft, sondern darüber auch der ganze Bahnhofskomplex neu organisiert. Die neueste Blüte dieses Infrastruktur-Business-Geflechts ist der am 1. November 2019 eröffnete Shibuya Scramble Square. Der 46-geschossige Turm, dessen Fassade durch Kengo Kuma kosmetisch aufgehübscht wurde, bietet in den unteren Geschossen Platz für ein Einkaufszentrum und andere Nutzungen wie etwa einen Social Scramble Space. Ganz zuoberst, auf 230 Metern Höhe, lässt sich das ameisenhafte Treiben auf der Shibuya-Kreuzung von einer Freiluft-Plattform aus beobachten.

Der aufkommende japanische Klumpen-Urbanismus wirft allerdings auch Schatten. Tokio, noch immer eine Stadt von Häuschen, verändert sich wie seit langem nicht mehr. Die infolge starker Überalterung auf dem Land noch immer wachsende Metropole folgt an vielen Orten einer gnadenlosen Verwertungslogik. Viele der durch Erbteilung minimal grossen Parzellen werden, vor allem in der Nähe von Bahnhöfen, von Projektentwicklern aufgekauft und mit grösseren oder kleineren kurumporu-Varianten überstellt. Die oftmals noch immer dörfliche und stets eigene Atmosphäre der Quartiere verschwindet dabei langsam und unwiederbringlich.

Wandel ist eine der Grundkonstanten der japanischen Stadt, erst recht von Tokio. Steht man auf 450 Metern Höhe auf der Aussichtsplattform des Tokyo Skytree, so erscheint das sich bis zum Horizont erstreckende Häusermeer als eine eigene Natur. Ihre Gesetzmässigkeiten zu ergründen kann eine grosse Lust sein. Das Gebäuderauschen vor urbanem Hintergrund etwa lässt Kräfte erahnen, die genauso in eine leuchtende wie in eine dystopische Zukunft weisen. Es ist also kein Wunder, dass das reale Tokio stetes Treibmittel ist für Projektionen und Fiktionen wie die Otaku-Kultur, deren Anhänger oder Fans in Manga-Kostümen auf Go-Karts rund um die Blocks knattern.

— Tibor Joanelly

Links zum Thema
Shibuya Hikarie
Shibuya Scramble Square
Bahnhof Shibuya
Go-Kart-Tour in Shibuya
Retro in Japan

© Tibor Joanelly
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