Komponierte Natur

Das Ziel ist es, sich zu verlieren in diesem abstrahierten Bild von Natur. Zudem soll sich das Aussehen des Gartens stetig ändern: Keine Staude der neuen Anlage von Piet Oudolf auf dem Vitra-Campus in Weil am Rhein blüht länger als zwei Wochen. Dafür sehen die Pflanzen auch im verblühten Zustand gut aus. An einem wechselhaften Nachmittag Ende Juni steht Vieles in Blüte. Violette Disteln locken ganze sechs Bienenkolonien an, und eine Sorte Echinacea senkt schon langsam wieder ihre rötlichen Blütenblätter. Mehrjährige, meist selbstregenerierende Pflanzen, Stauden, Gräser und Gebüsche und Wiesenblumen kreieren die Idee einer Landschaft, die wild und ungezähmt wirkt, aber in Wirklichkeit eine Gärtnerin komplett beschäftigt.

Eine kunstvoll komponierte Wildnis sei der Garten, schreibt Vitra in einem Statement – und in der Tat: mit Natur, wie wir sie kennen hat er bei näherer Betrachtung viel weniger zu tun als die Bilder, die seit einiger Zeit von ihm kursieren. Auch Landschaft ist immer menschengemacht, schrieben wir anlässlich unseres Hefts «Mehr als Natur» (vgl. wbw 6–2020). Das kann man bei einem Besuch in Weil am Rhein fast schon schmerzlich feststellen, verblassen doch die in der Erinnerung noch üppigen Magerwiesen unter den Kirschbäumen vor dem Café im Vitra-Haus zu einer blassen Angelegenheit neben den rund 30'000 Stauden und der modulierten Gartenlandschaft von Piet Oudolf, dem niederländischen Landschaftsgärtner und Hochstauden-Spezialist. So nah an einer Staude oder Blüte wie beim Fotografieren ist man ausserdem selten in diesem Garten, nie mittendrin im Summen der Bienen. Doch darum geht es gar nicht bei Oudolfs Gärten, der mit der Bepflanzung der High Line in New York (2009) und dem Inneren von Peter Zumthors Serpentine Pavilion (2011) eine internationale Klientel auf sein Werk als Gartengestalter gelenkt hat. Gefallen soll der Garten in Weil am Rhein. Gefallen, wenn man ihn betrachtet. Und dafür eignet sich der Aussichtsturm des Künstlers Carsten Höller auf dem Campus und die Terrassen des Vitra-Hauses von Herzog & de Meuron vorzüglich, die den neusten Zugang auf dem Campus flankieren.

Natürlich ist es ein Zeichen der Zeit, dass Vitra im Mai 2020 kein Gebäude errichtet hat, sondern einen Garten gestalten liess. Rolf Fehlbaum, Chairman Emeritus, räumt auch ein, dass der Campus mit der Zerstörung von Natur, dem Abholzen der Kirschbäume, von denen einer etwas lädiert noch in der Mitte des Gartens steht, begonnen hat. Erst mit Álvaro Sizas und Günther Vogts Promenade (2014) kam es zu landschaftsbezogenen Interventionen. Und trotzdem ist der Oudolf-Garten einem Gebäude nicht unähnlich. So sagt er selber: «Wie in der Architektur sollte auch ein Garten gut gebaut sein.» Minutiöse Organisation, ein strenger Zeitplan und die Suche nach den richtigen Pflanzen und dem idealen Bepflanzungsschema in drei Schichten, stehen am Anfang des Entwurfs. Ein erster Layer bildet die Grundmasse, ein zweiter sorgt für Störungen und eine dritte Ebene wird von den Blumen bestimmt. Das führt zu diesem Bild von Natur, dieser ästhetischen bisweilen verstörenden Erfahrung, die man das ganze Jahr über – aus verschiedensten Perspektiven – machen kann.

— Jenny Keller
Ein Bild von einem Garten
© Jenny Keller
Anzeige

Der Oudolf-Garten in Weil am Rhein im Frühsommer 2021