Leserbrief: Zum Artikel über die Kronenwiese

Tibor Joanelly beschreibt die Siedlung an der Kronenwiese von Armon Semadeni in Heft 12–2017 «Flora Ruchat-Roncati». Das Projekt zeichnet sich durch seine zweigeschosshohen Räume an der Seite der Kornhausstrasse aus, die einen wesentlichen Bestandteil der Grundrissgrammatik bilden und, das ist anzunehmen, vor allem aus einer Lärmschutzlogik heraus entwickelt wurden.
An sich ist es für den Grundrisserfindenden Architekten eine wunderbare Sache, wenn Normen und Vorschriften Grundrisse formen. Einschränkungen, die mit erstem Biss etwas schmerzen, können wie der Pfeffer beim Kochen für bereichernde Schärfe sorgen. Allerdings stellt man sich die Frage, ob die so geschaffenen Typen auch ohne Kenntnis des Rezepts einer räumlichen Betrachtung Stand halten.
Im Studium lernten wir, dass Le Corbusier an seiner Unité den überhohen Raum dort eingesetzt hat, wo sich ein sehr tiefer Baukörper Licht ins Innere holt und damit durchgehend belebbar wird. Man baut – das ist ein brandaktuelles Thema – hochkompakt und bricht den tiefen Baukörper an ausgewählten Stellen räumlich auf, um doch noch Qualität in den Wohnraum zu bringen. Ein anderes Beispiel: Charles Correa baute in Mumbay einen kompakten Körper mit verzweigten dunklen Innenwelten. An den Ecken wird ein opulenter, zwei Geschosse hoher Eckgarten als Gegenstück über die Diagonale angebunden. Dieser schafft einen vertikalen Anker im dichten Grundrissgefüge und lässt den Bewohner aufatmen. Die Verzahnung der Gegensätze macht typologisch total Sinn.
Und wir hier in Zürich? Man betrachte die Wettbewerbe der letzten zehn Jahre – wir setzen den überhohen Raum des Lärmes wegen an der dünnsten Gebäudeseite ein! Meist belichtet dieser Raum gar nichts in die Tiefe, er hat lediglich die Aufgabe, Fläche an der Strassenseite zu vernichten. Bei Armon Semadenis Projekt ist dieser Raum ein sehr schönes Moment. Aber etwas komisch ist die aktuelle Tendenz zur Lärm-frisst-Raum-an-Strasse-bei-dünnem-Haus-Typologie schon.
Jetzt wäre die Frage: Was ist in 20 Jahren bei veränderter Mobilität mit leisen E-Autos, noch mehr Velos und vielleicht einer anderen Wahrnehmung des verbleibenden Lärms? Machen diese Typen dann noch Sinn? Entweder blicken wir auf sinnlose Grundrissfragmente, die wegen des fehlenden Lärms wie Relikte aus einer anderen Zeit daherkommen. Oder – und das wäre zu hoffen – wir finden die Räume super, weil ein Grundriss auch losgelöst von einer Lärmreaktion ein zeitüberdauerndes Plus hat und dadurch auch in Zukunft noch echt scharf ist.

— Wolfgang Rossbauer
© Bild aus: Il vuoto condiviso. Spazialità complesse nelle residenze contemporanee, Edoardo Narne, Francesco Cacciatore
Anzeige