Licht, Raum, Materie

In der Deutschschweizer Architekturszene wird Mario Bottas lateinischer Rationalismus gerne als formalistisch abgetan. Zu Unrecht, wie die grosse Schau beweist, welche die Pinacoteca Comunale Casa Rusca in Locarno derzeit dem Tessiner Architekten zum 75. Geburtstag ausrichtet. Unter dem Titel Mario Botta – Spazio Sacro präsentiert sie ausschliesslich Sakralbauten. Neben Museen, Bibliotheken und Villen sind sie lange schon Bottas Markenzeichen. In den Gotteshäusern glaubt er denn auch, «die tiefen Wurzeln der Architektur» gefunden zu haben. Und in der Tat: welcher zeitgenössische Baukünstler ausser Botta kann allein mit sakraler Architektur eine ganze Ausstellung bestreiten? Zu sehen sind in Locarno nicht weniger als 17 Bauten, drei im Bau befindliche Projekte (darunter eine Moschee und eine griechisch-katholische Kirche), die nicht realisierte Flughafenkapelle von Mailand-Malpensa sowie das riesige, längst entsorgte Modell von Borrominis San Carlino in Lugano.

Klassische Inszenierung

In zehn Ausstellungsräumen wird jedes dieser Projekte mittels Fotografien, Handskizzen und meist auch mit einem Modell vorgestellt. Die klassisch gehaltene Inszenierung verzichtet ganz auf Farbe, so dass das für Bottas Bauten so zentrale Spiel von Licht und Schatten, von Volumen und Material voll zum Tragen kommen kann. Den Abschluss bildet ein silbergrau gestrichener, einem halboffenen Zentralraum nachempfundener Pavillon im Museumsgarten, in dem die Schau zusammengefasst und den einzelnen Werkens mittels farbiger Bildprojektionen zusätzliches Kolorit verliehen wird.

Der grosse Überblick veranschaulicht, wie Botta mit einem bewusst reduzierten Vokabular über die Jahre eine stupende Formenvielfalt geschaffen hat. Obwohl er schon als Student für das Kapuzinerkloster in Bigorio bei Lugano einen Gebetsraum realisiert hatte, fand er erst mit 43 Jahren zu seiner ureigenen Aufgabe. Damals entwarf er für die zerstörte Kapelle von Mogno unentgeltlich einen kleinen, tief in der romanischen Tradition der Tessiner Bergtäler wurzelnden Ersatzbau, den er nach langem Hin-und-Her 1994 als sein wohl kostbarstes Juwel vollenden konnte.

Der vielpublizierte Entwurf stiess in Italien auf Begeisterung: Bereits 1987 konnte er dort erste Projekte umsetzen: den Kirchenkubus von Sartirana und einen Neubau in Pordenone, dessen weithin sichtbarer Konus an Le Corbusiers Kirche in Firminy erinnert. Im Jahr darauf konzipierte er die zylinderförmige Kathedrale von Évry bei Paris als monumentale «Casa di Dio», die sich von seinen Villen nur im Massstab und im sakralen Zenitallicht unterscheidet. Mit der brückenförmigen Marienkapelle am Monte Tamaro lotete er das Potential archaischer Steinbauten aus. Bei der Cymbalista-Synagoge in Tel Aviv verschmolz er Würfel und Zylinder miteinander, während er bei der Santo-Volto-Kirche in Turin die nie realisierte Hurva-Synagoge seines grossen Lehrers Louis Kahn zu einem Rundbau weiterentwickelte.

Einfühlung ins Religiöse

Welche räumliche Kraft Bottas Kirchen innewohnt, offenbart die derzeit noch nackte Konstruktion der im Bau befindlichen Chiesa di San Rocco in Sambuceto, für die man sich wünschen würde, ihre Mauern blieben unverkleidet. Botta ist aber nicht nur ein Magier des Raums, sondern auch Meister der Einfühlung in andere Konfessionen und Religionen, wie die neuartige Ikonostasis der griechisch-katholischen Kirche in Lemberg oder die von einem dreieckigen Fenstermuster durchbrochenen Wände der Moschee im chinesischen Yinchuan zeigen.

— Roman Hollenstein

Die Sakralbauten von Mario Botta in einer Ausstellung in Locarno
Bis 12. August in der Pinacoteca Comunale Casa Rusca in Locarno. 

Mario Botta – Spazio Sacro. Architetture 1966–2018
Edizioni Casagrande, Bellinzona 2018, Katalog, 300 S., CHF 35.–, EUR 30.–
ISBN 978-8 87713-795-1

Tessin (wbw 5 – 2018) u.a. mit einer Kritik zu Bottas Teatro dell’ architettura in Mendrisio

Kirche San Givanni Battista, Magno
© Enrico Cano
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