Nachhaltender Bilbao-Effekt

Wer in Bilbao mit der Metro vom Zentrum der Altstadt ans Meer nach Las Arenas und Portugalete fährt, der durchquert eine postapokalyptische Landschaft. Bei der Ausfahrt aus dem Tunnel sieht man verlassene und heruntergekommene Industrieareale, Ruinen, teilweise oder leergeräumte Areale. Hier liegen noch immer die Folgen der Deindustrialisierung, unter der Bilbao lange Jahre litt. Das einstige baskische Zentrum der Stahl- und Werftindustrie ist heute (eingedenk der Umstände der spanischen Immobilienkrise) eine prosperierende Metropole: Man spricht hier vom Bilbao-Effekt oder – in Anspielung an das Symbol dieses Wandels – vom Effecto Guggenheim. Das 1993 initiierte und 1997 fertiggestellte Guggenheim-Museum für moderne Kunst sorgt als Aussenstelle des New Yorker Mutterhauses und als Ikone des Dekonstruktivismus für anhaltenden Besucherstrom. Es machte seinen Architekten Frank Gehry weltberühmt und das Prinzip der global ausstrahlenden Star-Architektur nachahmenswert.
So viel nachgesagte Wirkkraft müsste eigentlich zu Skepsis Anlass geben, denn nicht selten verbergen sich hinter einem grossen Ruf schlecht gemachte Bauten und inkonsequente Konzepte. Nun ja: Gehrys Guggenheim ist tatsächlich ein Meisterwerk und mit Recht eine Ikone des 20. Jahrhunderts. Ein Besuch diesen Sommer zeigte ein sorgfältig unterhaltenes Gebäude von eindrücklicher konzeptueller Strenge und grosser Gebrauchstauglichkeit.
Ein Überschuss an Formen türmt sich da auf zu einer grossartigen zentralen Halle, die man gut und gerne als Kathedrale der Neuzeit sehen kann. Wie in einer solchen sind die Kunstwerke als anbetungswürdige Objekte in peripheren Kapellen verwahrt, zusammen bilden sie den kulturellen Kanon des 20. Jahrhunderts. Das Haus selber ist dabei als Zeichen abwesend: es artikuliert in seiner Wildheit keinen eigentlichen «Gedanken»; es ist ganz im Sinn des Dekonstruktivismus nicht-Denken und vor allem Sehen-und-Fühlen. Die Architektur folgt also einem dionysischen Prinzip … Nichtsdestotrotz kommt ein Ganzes zum Ausdruck: Der «zerkonstruierte» Bau erzählt mit jedem gekrümmten Träger und mit jeder schrägen Fläche vom Gemachtwerden, vom in-Angriff-Nehmen, vom menschlichen Bemühen, die Materie zu meistern, und gleichzeitig vom Abbrechen und Aufgeben und dann wieder vom Neu-Anfangen. Es versteht sich, dass der Bau dennoch mit hoher Präzision und ohne nennenswerte nachträgliche Bauschäden realisiert worden ist.
In dieser Komplexität offenbart die Gehry’sche Form den Entwurfs- und Arbeitsprozess als menschliche Bricollage, die wiederum eine eigene konstruktive Logik und Tiefe erzeugt, die dem räumlich verwandten Barock bei Weitem abgeht. Kathedrale der Neuzeit: Es ist eigentlich schade, dass die darin ausgestellte moderne Kunst beim Publikum so viel mehr Respekt einfordert als der Bau selber. Eigentlich müsste das Museum rund um die Uhr zugänglich sein, für jedermann und jedefrau, ohne Eintritt, ohne Registration. So hätte Guggengheims Bilbao neben dem wirtschaftlichen auch noch einen transzendierenden Effekt.

— Tibor Joanelly
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