What if? Eine Zuschrift

Der vom Zürcher Stadtrat beschlossene Abbruch des Globus-Provisoriums gibt seit Wochen zu reden. Es wird viel aus verschiedenen Standpunkten geschrieben über Geschichte und Potenzial des Papierwerdareals, jener Insel und Aufschüttung in der Limmat neben dem Zürcher Hauptbahnhof. Der Abbruch von Karl Egenders Bau und vor allem aber die Idee des neuen Parks stossen auf breiten Widerstand, vor allem in Fachkreisen.
Ich teile die Meinung, dass ein «Ersatz durch Nichts» keine adäquate Strategie für den zentralen, geschichtsträchtigen Ort ist. Ich möchte die Diskussion aber als Anlass nehmen für eine ganz grundlegende, kritische Betrachtung unseres Verständnisses des öffentlichen Raums. Die Frage nach der Nutzung dieses für Zürich wichtigen, in seiner Zukunft noch undefinierten Orts, wird zur exemplarischen Frage nach der gesellschaftlichen Rolle des Stadtraums.

Die Idee des Parks scheint aus der Nähe betrachtet erst einmal verführerisch und naheliegend. Die Ausrichtung zur Limmat und zur Sonne passen; die stattlichen Häuser im Rücken vermögen, auch wenn sie bekanntermassen nie dafür vorgesehen waren, den Stadtkörper abzuschliessen; die Aussicht auf das Niederdorf auf der andern Flussseite könnte pittoresker kaum sein. Wenn ich aber das Vorhaben mit etwas Abstand betrachte und den Fokus darauf lege, was ich mir unter «Stadt» vorstelle, befällt mich ein dumpfes Unbehagen. Ist es richtig, sich anlässlich der Erneuerung der Stadt immer weiter dem Komfort zuzuwenden?

Direkt am Hauptbahnhof, zwischen Beatenplatz und Platzspitz, an der Schnittstelle zwischen Shoppingmeile, Altstadt und dem Weg zur Polybahn (und somit zur Universität) gelegen, könnte diesem Ort ein viel mutigeres Selbstverständnis angedeihen. Betrachten wir Städtebau und Architektur als Baukultur und nicht als Service public, wird es hier zur impliziten Pflicht, gesellschaftliche Tendenzen kritisch zu hinterfragen und Impulse zu setzen. Wir alle müssen räumliche Verantwortung übernehmen, unser Bewusstsein für die Bedeutung der Räume schärfen und dieses immer wieder am Massstab der Gegenwart messen, um nicht ins Rezepthafte zu verfallen.

Wir befinden uns (je nach Auffassung) am Anfang der vierten oder in der zweiten Halbzeit der dritten industriellen Revolution. Während die Industrialisierung Qualität und Fortschritt in der Rationalisierung der Produktion suchte, wollen Dinge heute nicht mehr a priori immer einfacher, sondern möglichst präzise und spezifisch den ermittelten Bedürfnissen folgend produziert werden – und keinen Idealbildern mehr unterworfen sein. Die mit dieser Veränderung einhergehenden Prozesse der Transformation sind überaus anspruchsvoll und bringen oftmals ein Denken in kontrollier- und berechenbaren Modellen sowie die entsprechende Gefahr der Simplifizierung mit sich. Hier sind nicht nur Architekten, sondern auch die Politiker angesprochen: Wir dürfen in unserer Planung nicht – auch nicht in bester Absicht – die unübersehbare Vielfalt und all die Widersprüchlichkeiten und die reale Erfahrung ausblenden, wie sie zum Wesen der Kunst und der Stadt gehören.

Stadt als räumliches Prinzip versucht, Nutzungen und Funktionen räumlich zu organisieren: Sie trennt das Private vom Öffentlichen; sie setzt Orte in ein Verhältnis zueinander; sie ordnet eine Vielzahl von unabhängigen Strukturen zu einem grossen Ganzen. Nimmt ein Ort Form an, so schliesst dies immer auch andere, ebenfalls mögliche Formen aus. Wird ein wichtiger, zentraler Ort neu programmiert, so ist dies ein Bekenntnis zu einem bestimmten Selbstbild.

Stadt organisiert aber nicht nur, sie konfrontiert auch: Sie ist dicht, provoziert Erlebnisse, ist nie vollständig kontrollierbar und bietet Reibungsflächen – und sie inspiriert. Genau diese schwer fassbare Qualität der Stadt war es schon immer, die sie zum Zentrum der kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung machte. Genau da sollte unserer Diskussion des Raumes ansetzen. Denn unsere spätmoderne Gesellschaft hat verlernt, die Reibungsflächen so zu schätzen wie das reibungslose Funktionieren; sie hat verlernt, der Idee ebenso zu vertrauen wie dem Beispiel. Im fortlaufenden Prozess der steten Optimierung werden Herausforderungen eliminiert und Zuverlässigkeit institutionalisiert.

Stellt man die in Film, Literatur oder Kunst transportierten Sehnsuchtsbilder unserer Zeit denen der letzten fünfzig Jahre gegenüber, so wird schnell deutlich: Die Faszination für das Ungewisse, die Herausforderung und die reale Erfahrung ist einer zuverlässigen Formalisierung des Komforts gewichen. Städte sind heute leistungsfähiger, sicherer und fairer als je zuvor. Doch obwohl wir stets um Nachhaltigkeit bemüht sind, ging dabei ein Grossteil des Vertrauens in die Ungewissheit, den Zufall verloren – und damit quasi das Vertrauen in die Zukunft. Dieses gilt es mit Mut, Selbstbewusstsein und einer Prise Kühnheit zurückzuerobern.

Baukultur kann nicht die Probleme unserer Gesellschaft lösen, doch sie steht in der Verantwortung. Stadt ist gebaute Umwelt, gibt die Werte und Bedürfnisse der Gesellschaft wieder und formt diese in steter Wechselwirkung neu. Wird die Programmierung eines zentralen, städtischen Orts diskutiert, so gilt es also, nicht nur seine volumetrische und städtebauliche Rolle zu ergründen, sondern auch seine Bedeutung. Wenn es darum geht, was wir in Zukunft im Zentrum unserer Stadt und unseres Lebensraumes wollen, würde ich nicht nichts wollen – sondern alles.

— Stefan Wülser

Stefan Wülser ist Architekt. Gemeinsam mit Nicoloj Bechtel führt er das Architekturbüro Wülser Bechtel Architekten in Zürich. Zudem ist er Dozent an der FHNW.

© Stefan Wülser
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