Reden wir von Baukultur, meinen wir Qualität

Langweilige Architektur kann zu Herzkrankheiten führen. Das in etwa das Fazit des kongnitiven Neurowisschenschafters Colin Ellard in seinem Vortrag mit Titel «Places to love», anlässlich der Veranstaltung «Getting the measure of Baukultur»1. Und bekanntlich trägt man den Dingen und Menschen Sorge, die man liebt, die sorgfältig gestaltet wurden. Doch was ist Liebe? Kann man sie messen? Eine rhetorische Frage. Sie führt aber zu einer ähnlich diffizilen Problemstellung, die am Nachmittag des 4. Novembers im Pavillon Sicli (1968–69, Architektur: Constantin Hilberer, Ingenieur: Heinz Isler) in Genf erörtert werden sollte. Vorträge auf Englisch und Französisch sollten eruieren: Ist Qualität messbar? Denn reden wir von Baukultur, meinen wir Qualität. Die zu erreichen, unterliegt nicht wissenschaftlichen Methoden. Und der Wissenschafter Colin Ellard aus Kanada war auch nicht hier, um die heute allseits gerne gesehene Forderung nach Transdisziplinarität einzulösen, sondern weil er an der Schnittstelle von Psychologie und Architektur, respektive Städtebau arbeitet und Experimente durchführt, die messen, wie Gehirn und Körper auf verschiedene Arten von Situationen reagieren. Die anwesenden Architektinnen, Architekten, Denkmalpflegerinnen, Vertreter von Behörden und interessierte Zuhörer nahmen sich die Zeit, an der Konferenz neue Inputs schöngeistiger Natur zu erlangen. Nicht jeder oder jede ist wohl mit der Rezeptionsästhetik eines Edmund Burke vertraut, und doch ist es wichtig, dass man sich Zeit nimmt, über Fragestellungen nachzudenken, die in keiner Ausschreibung oder keinem Wettbewerbsbeschrieb stehen – aber einen grossen Einfluss darauf haben, wie die Gesellschaft auf die gebaute Umwelt reagiert.

Was ist messbar und was sagt uns das? Kultur und Ort spielen eine Rolle, wie wir etwas wahrnehmen. Zeitleich gefallen allen Menschen Bäume mit einer breiten Krone, wie die Akazie in der Serengeti, der Wiege der Menschheit. Unser aller gemeinsamer Nenner scheinbar. Sind wir mit Dingen konfrontiert, die uns nicht gefallen, die uns langweilen, man stelle sich eintönige Stadtfluchten vor, ist das ein Stress für den Körper, was wiederum dazu führt, dass das Risiko für Herzkrankheiten steigt. Was nicht messbar ist, muss empirisch erforscht werden, und weil dem System Architektur etwas Dauerhaftes, Teures und Planungsintensives innewohnt, die gebaute Umwelt uns in unserem tagtäglichen Leben beeinflusst, ist es schwierig, mit ihr Experimente durchzuführen. Beziehungsweise treffen architektonische Experimente, die schief gehen, unser Leben 1 zu 1 negativ. Gut also, hat die Politik, namentlich das BAK die Baukultur in ihr Portfolio genommen. Doch da gäbe es noch viel zu tun (vgl. «Normcore und Baukultur», 24.01.2018). Viel zu tun hat auch die britische und sehr gefragte Innenarchitektin Sevil Peach, die beispielsweise die Bürowelten von Vitra oder den Hauptsitz Swiss Re Next (2017, Diener & Diener) gestaltet. Sie beeinflusst damit das Leben vieler (privilegierter) Arbeitnehmender. Statt Grossraumbüros, die als Möbelfriedhöfe durchgehen könnten, wie sie sagt, schafft sie Raumstimmungen mit Freude. Sie plädiert denn auch für Pilotprojekte, um den künftigen Usern ihr künftiges Umfeld zu erklären, allenfalls mit ihnen «bottom-up» ein Szenario zu entwickeln. Emotionale und geistige Mauern gebe es da abzubrechen. Und wenn immer möglich bezieht sie einen Garten in ihre Planung ein – was wiederum anknüpft an den Vortrag des Neurowissenschafters, in dem zu hören war, dass wir Formen der Natur mögen, und unsere acht-sekunden-Aufmerksamkeitsspanne erhöht werden kann, wenn wir uns in die Natur begeben.

Colin Ellard schlug dann am Ende seines Vortrags vor, das Wort «Bau» in «Baukultur» zu ändern, denn Kultur, damit meint er auch Geschichte eines Ortes, beeinflusst unser ästhetisches Empfinden. Eine weise Überlegung als Gedankenspiel denkt die Architekturjournalistin, so spielt doch Sprache eine zentrale Rolle für unsere Perzeption. Im anschliessenden Podium redet man – endlich – davon, dass das Wort Schönheit, lange verpönt, wieder Eingang in die Architekturrezeption gefunden hat. Wenig später ein Wolkenbruch, und der Regen prasselt auf Islers Betonschalen, ein Moment von beinahe romantischer Erhabenheit und Schönheit – wie ihn nur die Natur schaffen kann.

— Jenny Keller

1 Im Januar 2018 verabschiedeten die europäischen Kulturminister die Erklärung von Davos, (die eine qualitativ hochwertige Baukultur fordert, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat). Um zu verstehen, wie wir die bebaute Umwelt verbessern können, veranstalten das Bundesamt für Kultur (BAK), der Internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS), die Internationale Union der Architekten (UIA), der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) und das Departement für Raumentwicklung (DT) des Kantons Genf eine Konferenz mit dem Titel «Getting the measure of Baukultur».

© Matthias Käser
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