Stadtvisionen von gestern für heute?

Jede und jeder wohnt, fährt Auto, nimmt das Tram oder geht am See spazieren. Jeder nutzt die S-Bahn; wir alle. Und weil das in der Stadt alle gleichzeitig und am gleichen Ort tun, sind sich über das wie längst nicht immer alle einig: Die Stadt und ihre Infrastrukturen wurden und werden kontrovers diskutiert. Für die Ausstellung Nach Zürich, die derzeit im Zentrum Architektur Zürich (ZAZ) zu sehen ist, ist die Kontroverse der Aufhänger. Die drei Kuratoren André Bideau, Daniel Bosshard und Christian Schmid nutzen sie, um wichtige Themen der Stadtentwicklung Zürichs ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Die Ausstellung fragt nach den Visionen und grossen Würfen der Vergangenheit, sowie nach den Hintergründen städtischer Orte, die uns wie selbstverständlich tagtäglich begegnen. Mit dem Blick in den Rückspiegel möchten sie aber auch das Heute diskutieren. Kontroverse Fragen der aktuellen Stadtentwicklung knüpfen sie eng an das, was früher einmal war.

Grosstaten im Zeitraffer

Die Schau beginnt mit der Stadt des 19. Jahrhunderts, die sich ihrer Befestigungen entledigt, ihre Nähe zum See entdeckt und mit grossangelegten Aufschüttungen stadträumlich dorthin expandiert. Zürich zeigt sich damit als weltmännisch moderne Metropole, die sich grösser denkt, als sie zu dem Zeitpunkt ist. Der öffentliche Stadtraum bekommt eine neue Bedeutung; Bahnhofstrasse und Seepromenade laden zum Flanieren ein. Die grossen Planungen, die die Stadt veränderten, führen uns über den Wettbewerb Gross-Zürich von 1918 in die Quartiere des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Thematisch und chronologisch sortiert, lassen sich so Raum um Raum ausgewählte Kapitel der Zürcher Stadtentwicklung entdecken.

Fotos und Originalpläne aus dem Archiv zeigen Stadtentwürfe von einst, die zusätzlich auf Archivblättern katalogisch nüchtern kommentiert werden. In Augenhöhe aufgereiht, sehen wir Siedlungspläne aus der Zeit der Stadterweiterungen und der Steinerschen Gartenstadt. Zu trocken und verkopft das alles? Dass Themen rund um Stadtentwicklung auch locker sein können, bemüht sich diese Schau dennoch zu vermitteln. Die grafische Rhetorik von Abstimmungsplakaten überzeichnet die Ereignisse, das Schnellstrassen-Ypsilon von 1971 wird angeprangert und die Stadt der Nachkriegszeit von einer monströsen Verkehrskrake heimgesucht. Das Sachliche wie das Drastische sind patchworkartig nebeneinandergesetzt und bieten uns unterschiedliche, sich ergänzende Lesarten. Dabei wird auch deutlich, wie sehr diese komplexen Themen rund um unseren städtischen Lebensraum einst polarisierten.

Entscheide mit Tragweite

In der Nachkriegszeit ist die Verkehrsplanung das beherrschende Thema. Der modernistische Übermut in den Modellen und Pläne belegt, dass man in Zürich zu jener Zeit richtig gross dachte – und man ist heilfroh, dass das meiste davon nie Realität wurde. Lediglich sperrige Fragmente dieser Planungen prägen heute das gewohnte Gesicht der Stadt, wie die Sihlhochstrasse, der Milchbucktunnel oder die Hardbrücke. Doch mal ehrlich: haben wir die meisten dieser Verkehrsmonster nicht schon längst ins Herz geschlossen?

Seither sind es auch nicht mehr die grossen Würfe, die die Stadt verändern, sondern eine Vielzahl kleiner Schritte, die das Vorhandene umdeuten und daraus Urbanität erzeugen.

Doch dem Narrativ der Schau entlang: Ab den 1970er Jahren regt sich vermehrt Widerstand gegen die Modernisierung, die Stimmung kippt und mit ihr all die fortschrittsgläubigen Verkehrsprojekte, mit denen man die gewachsene Stadt umpflügen wollte. Ernüchtert wendet sich die Stadtplanung Themen der Stabilisierung zu; sie entdeckt, dass die Stadt über ihre Grenzen hinaus in die Fläche wächst. Im Obergeschoss geht es weiter mit der Idee der Metropolitanregion, der S-Bahn, die die Agglomeration an die Kernstadt bindet – und damit erreichen wir die 1990er Jahre, womit die Jüngeren von uns endlich in einer erinnerbaren Zeitschicht angelangt wären.

Städtebauliche Entscheide, das erkennt man hier eindrücklich, prägen auf Generationen hinaus die Wahrnehmung und Nutzung der Stadt.

Sammelbegriff Langstrasse

Was bei all dem präsentierten Geschichtsbewusstsein jedoch fast aus dem Blick gerät ist das Heute: Wen die brennenden Fragen nach den jetzigen städtebaulichen Herausforderungen nicht loslassen, hat noch drei kleinere Räume unter dem Sammelbegriff «Langstrasse» vor sich. Als ein im Umbau begriffenes, in das Räderwerk der Gentrifizierung geratenes Quartier, machen es die Kuratoren zum akademischen Labor der aktuellen Stadtentwicklung. Entwürfe von Architekturstudierenden illustrieren Formen urbaner Verdichtung, in Analysen werden städtische Qualitäten herausgearbeitet, die vor Ort nicht immer und für alle so offenkundig erscheinen, wie sie hier in Hausbiografien soziologisch seziert und treffend beschrieben werden.

Es ist die Suche und auch die Sehnsucht nach der Essenz des Städtischen, wofür die Langstrasse in all den detaillierten Arbeiten steht. Taucht die Frage auf, wohin sich das Langstrassenquartier entwickeln soll, scheint man sich in einem Punkt vorab schon einig zu sein: verlorengehen soll es auf keinen Fall! Das wirkt mehr wie Zufriedenheit mit dem Status quo als dringender Veränderungsbedarf oder gar wie eine Vision von städtischer Zukunft. Der Akzent auf Methoden und Strategien macht die zahlreichen Exponate zu einer Art Werkzeugausstellung für den Städtebau. Doch ist es mit präzisen Analysen bereits getan? Wissen wir, also wissen wir alle und nicht nur die akademisch geschulte Besucherin, so mehr über das Heute?

Diese Fragen dürften wohl auch die Kuratoren umgetrieben haben, als sie der Ausstellung ein umfangreiches Begleitprogramm zur Seite stellten. Wöchentlich finden in der Villa Bellerive Diskussionsabende und Workshop-Nachmittage statt. Fachleute aus Planung, Forschung und Politik, aber auch Stadtbewohnerinnen und Quartiersaktivisten kommen zu Wort. Sie sollen die Erfahrungen aus der Vergangenheit mit dem Heute verknüpfen und für die Debatte um die Zukunft nutzen. Der öffentliche Raum, Gentrifizierung, die Herstellung und Bewahrung von Urbanität sind dabei die – hoffentlich – kontrovers diskutierten Themen von heute. Sie kulminieren Ende Juni in der grossen Stadtentwicklungsfrage: Welches Zürich wollen wir? Die Debatte ist eröffnet.

— Lucia Gratz

Ausstellung:
Nach Zürich. Ein Anarchiv
ZAZ Zentrum Architektur Zürich
Villa Bellerive
Höschgasse 3
8008 Zürich

bis 25. August 2019
Öffnungszeiten: Mittwoch bis Sonntag 14 bis 18 Uhr
Begleitprogramm: www.zaz-bellerive.ch

© Zentrum Architektur Zürich
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