Auch Le Corbusier hatte einen Vogel

Magritte muss den Anfang machen, wenn man mit dem Surrealismus beginnt. Dalí und Duchamp dürfen natürlich auch nicht fehlen, Tanguy und somit Peggy Guggenheim ebenfalls nicht. Aber Le Corbusier, ein Surrealist? Ja klar, denn Geschichte ist nie linear, auch nicht die Architektur- und Designgeschichte. Auf der Fassade des Gehry-Baus in Weil prangen die von Magritte inspirierten Worte «Ceci n’est pas un musée», das Vitra Design Museum zeigt die Ausstellung «Objekte der Begierde, Surrealismus und Design 1924 bis heute». Gleich im ersten Raum, ganz in Dunkelgrau gestrichen, fühlt sich die Besucherin in eine surrealistische Sammlung versetzt und lernt, dass Surrealisten grosse Sammler waren und sind, so auch Carlos de Beistegui, einer der wichtigsten Sammler und Mäzene surrealistischer Kunst, dessen Pariser Appartment von Le Corbusier 1929–31 entworfen wurde. Ein surrealistisches Kabinett soll er sich bestellt haben, einen Ort, an dem grosse Feste gefeiert werden konnten. Und die von Le Corbusier gestaltete Dachterrasse verfügte über automatisch verschiebbare Hecken, einen barocken Freiluftkamin, über dem ein ovaler Spiegel mit dem Horizont und der Brüstung ein Verwirrspiel spielt. Auf dem Bild, das im Magazin Plaisir de France 1936 abgebildet wurde, ist gar ein Papagei zu sehen, und die bunte Szenerie wirkt wie eine surrealistische Collage. Der Funktionalismus der Moderne und der Surrealismus treffen sich bei diesem Vogel auf Beisteguis Dachterrasse – und man sieht darin die Kernaussage der sorgfältig kuratierten Ausstellung, in Weil am Rhein: Designbewegungen überschneiden sich und können sich gegenseitig anstossen. Im zweiten Raum, Petrolblau gestrichen, sieht man eine Sammlung von Kuchenformen von Achille Castiglioni, die er 1980 angelegt hat, um einen Hut für den renommierten Hersteller Borsalino zu entwerfen. Der Surrealismus dekontextualisiert Objekte. Dazu passt Konstantin Grcics «Coathangerbrush» für Muji (2002), ein Hybrid zwischen Kleiderbügel und -bürste, mit dem der zeitgenössische Designer, der in keiner Ausstellung im Vitra Design Museum fehlen darf, Bezug auf Marcel Duchamp genommen hat, den er als wichtige Inspirationsquelle für sein Schaffen nennt.

Plan und Zufall

Das Schachspiel als Allegorie auf das Leben, das aus Zufall und Planbarem besteht, ist durch und durch surrealistisch. Auf einem Bild sieht man Max Ernst beim Schachspielen und erkennt in Salvador Dalís Collage «Mae West’s Face which May be Used as a surrealist Apartment» (1934/35) einen Boden als Schachbrettmuster, zieht vielleicht eine formale Parallele zum Design und der Architektur der Postmoderne, die auch auf der inhaltlichen Ebene funktioniert: Die Surrealisten haben Stereotypen überdenkt, Klischees hinterfragt, spekulative Objekte gefertigt, also Dinge entworfen, die keinen eigentlichen Nutzen haben und nach unkonventionellen Lösungen gesucht, die dem geradlinigen Funktionalismus die Stirn boten. Damit ist der Surrealismus im Design noch immer aktuell, wer nach der Realität hinter dem Sichtbaren fragt, gestaltet Dinge, die Widerstand leisten, gibt ein Statement ab und bietet als Gestalter nicht nur eine Dienstleistung an. Erstrebenswerte Eigenschaften – auch für die zeitgenössischen Architektur.

— Jenny Keller

Ausstellung:
Objekte der Begierde
Surrealismus und Design 1924 – heute
Vitra Design Museum, Weil am Rhein D
bis 19. Januar 2020

Le Corbusier, Dachwohnung für Carlos de Beistegui, Paris, 1929–1931 (veröffentlicht in Plaisir de France, 1936) © Vitra Design Museum, Copyright für die Werke von Le Corbusier: © F.L.C./VG Bild-Kunst, Bonn 2019
© Vitra Design Museum, Copyright für die Werke von Le Corbusier: © F.L.C./VG Bild-Kunst, Bonn 2019
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