Vorsicht: Streifen!

Architektur kann Ihre Gesundheit gefährden! Eine jüngst veröffentlichte Studie über die Auswirkungen von visuellen Mustern auf Epilepsie-Patienten hat ergeben, dass Streifenmuster Stress, Schwindel, Migräne und eben Epilepsie auslösen können. Die Vergleichsstudie fand schnell Resonanz in der Presse auch in der Schweiz. Neben gestreifter Kleidung würden auch Streifen in Architektur und Städtebau solche Effekte auslösen, vertikal mit stärkerer Wirkung als horizontal.
Also, für Adolf Loos’ Entwurf für eine Villa für Josephine Baker gilt ab sofort: gefährlich! Und für Ludwig Mies van der Rohes Seagram Building muss gefordert werden: abreissen! – Und was machen wir mit den Botta-Bauten im Tessin? Die Tagespresse bringt endlich Licht ins Dunkle um die Frage, weshalb die moderne Architektur «nie» von den Menschen akzeptiert worden ist: Sie verursacht offenbar Kopfweh. Dass es aber nicht ganz so einfach ist, ahnen wir schon – spätestens seit es Zebrastreifen gibt. Architektur darf doch die Sinne reizen, oder? Man stelle sich eine Fassade vor, die aus medizinischen Gründen reizarm ist, einen Strassenzug, dessen Fenster-Stakkato nicht auf uns Augenmenschen wirkt, uns nichts mehr angeht… Schrecklich! An der Reizarmut würden wir krank werden.
Politische Korrektheit steht also kurz davor, in die Felder von Städtebau und Architektur vorzudringen: Erlaubt ist, was niemanden krank macht und bei niemandem ein Trauma auslöst. Sollte man aber nicht eher umgekehrt fragen? Zum Beispiel danach, was es braucht, damit unsere Umwelt lebenswerter wird. – Oder danach, was es zu verhindern gilt, damit der gebaute Raum nicht in totale Wohlgefälligkeit und Einfallslosigkeit abgleitet. «Streifen» wären neben Aspekten des Gebrauchs wohl eher ein mögliches Mittel zur Kur und weniger die Ursache des Übels.
Zum Glück gibt es noch keine seriöse Forschung über architektonische Krankheiten. Wobei, wenn man es sich genauer überlegt: Warum soll es eine solche nicht geben? Man wüsste dann endlich ohne Aufhebens, wo’s beim Entwerfen spannend wird: Dort, «wo Architektur so richtig weh tut»!

— Tibor Joanelly
© Albertina
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