«Zerstückelter Raumeindruck»

Eine Ergänzung zum Heft  3–2022 «Tiefe»

«Eintauchen in den Raum» ist das Leitmotiv in unserem Heft über architektonische Tiefe. Wir schlagen darin den Bogen von der Theaterarchitektur im Barock zur Virtual Reality und ihren tiefen Spielwelten, gepaart mit einem Interesse für die Wahrnehmung visueller Phänomene.

Ein Raumkonzept, dem gemeinhin auch Tiefe zugeschrieben wird, ist dasjenige der Gotik: Denn die Metaphern der Natur – rankende Pflanzen, emporstrebende Gewächse und steingewordene Wälder – implizieren das Tiefe, Verbogene und Geheimnisvolle schlechthin.

Aber die gotische Architektur ist nicht im phänomenalen Sinn tief.

Wenn eine zeitgemässe Beschreibung zutreffen sollte, dann wäre das «fraktal»: Wenige Regeln erzeugen Selbstähnlichkeit. Hans Sedlmayr (1896–1984), der österreichische Kunsthistoriker, der sich unter vielem andern auch an einer eigentlichen Phänomenologie der Gotik versucht hat, beschreibt diese Fraktale in seinem Werk Die Entstehung der Kathedrale mit den Motiven der «Baldachinarchitektur» und den «übergreifenden Formen»: Mit Kompositionsprinzipien, die «Durchblicke» erzwingen, «ohne dass man von bildmässigen Durchsichten oder gar von «malerischen» Ausschnitten sprechen dürfe». Ein solches «Zerstückeln des Raumeindrucks» trage dazu bei, «die körperhafte Geschlossenheit der Form zu lösen, Raum zwischen die Flächen zu tragen und die Einheit des Ganzen im ständigen Zerfallen und sich Wiederaufbauen aus Teilelementen zu erfahren […].» Diese Beobachtung beschreibt die Gotik durchaus als räumlich – aber eben fraktal und nicht komponiert im Sinn, wie wir dies im Heft auch mit dem Bühnenraum in Verbindung brachten (obwohl Sedlmayr gerade die Kathedrale als riesige Bühne sah).

Eine Prüfung der Sedlmayr’schen Phänomenologie am Strassburger Münster vor Kurzem bestätigte die Beobachtungen des Kunsthistorikers: Der Raum ist licht, offen und weit, die aufstrebenden Elemente wirken wie Kristall-Spaltflächen. Gerade darum ist das Ganze nicht tief im phänomenalen Sinn. Die Kathedrale erschien vielmehr als eine Art generischer Behälter, der aus unzähligen anderen Behältern oder Flächen zusammengesetzt ist. «Tiefe» manifestiert sich hier strukturell. Und transzendental, als Abbild des Himmels. (Und auch in diesem Sinn ist der Innenraum der gotischen Kathedrale tief: Denn das Göttliche, das Licht, das Kristalline der Schöpfung durchringen den Bau auf allen Ebenen, sind gegenwärtig und doch nicht direkt fassbar.)

Disclaimer: Auf dem Frontispiz meines antiquarisch erworbenen Exemplars findet sich ein handschriftlicher Eintrag über den Autor: «Ein Nationalsozialist der 1. Stunde in Österreich, wie Karl Böhm, also ein Kind ‘seiner Zeit’. Das ist beim Lesen zur berücksichtigen.» Will heissen: Phänomenales Eintauchen bringt auch die Gefahr der Seinsvergessenheit.

— Tibor Joanelly

Informationen zum Heft wbw 3 – 2022 Tiefe


© Tibor Joanelly
Anzeige