Artikel aus 1/2–2025

Ljubljana

Die Stadt als Spaziergang

Lucius Burckhardt, Linde Burkhardt, Monika Nikolič (Bilder)

Die Promenadologie ist eine Burckhardt’sche Erfindung. In einem wenig bekannten Aufsatz feiert Lucius Burckhardt die Interventionen des Architekten Jože Plečnik, die ab den späten 1920er Jahren entstanden sind. Auf vier Spaziergängen durch die Stadt bringt der Text die Burckhardt’sche Theorie auf den Punkt, Kultur-, Stadtgeschichte und die Landschaft beim Gehen zu erleben.

Wer die Dynamik der Architektur Jože Plečniks ganz verstehen will, der muss ihm in Ljubljana auf einem der von ihm inszenierten Spaziergänge folgen. Beispielhaft erscheint uns hier der Aufstieg auf die Burg: Jedes Kind, auch das Kind im Manne, verspürt die Lust, den die Stadt überragenden Felsen zu besteigen und die Burg zu besuchen. Nun ist die Burg von Ljubljana, abgesehen von dem beherrschenden Rundblick, kein spektakuläres Monument, und Plečnik scheint die Enttäuschung vorausgesehen zu haben, die sich unweigerlich einstellt, wenn man sich diesem prosaischen Bauwerk nähert. Plečniks Spaziergang wählt nicht den mühsamen Pfad senkrecht von der Altstadt hinauf zur Burg, sondern er führt den Spaziergänger flussabwärts seitlich um den Burghügel herum, sodass er die Höhe des Bergrückens durch eine bequeme Wegschleife hinter der Burg erreicht. An dieser Stelle stösst er auf die «Burg», ohne sogleich zu merken, dass es sich dabei um eine Inszenierung von Plečnik handelt. Dessen künstliche Ruine ist nicht zu vergleichen mit der künstlichen Ruine in einem englischen Landschaftsgarten; sie ist nicht nur ein Blickfang, sondern enthüllt im Gehen eine Folge von Szenarien.

Der von Plečnik geführte Besuch stösst also vom Bergrücken her auf eine zinnenbekrönte Schildmauer, die ihm ihre Ecke zuweist. In dem linken, nach Süden gerichteten Mauerteil befindet sich ein Rundbogenfenster, in welchem der ankommende Besucher Menschen erblickt, von denen er annimmt, dass sie sich im Innern des Gebäudes befinden. Vom Wunsch beseelt, ebenfalls dorthin zu gelangen, wendet er sich nach rechts, dem scheinbaren Burgeingang zu. Auch oberhalb dieses Eingangs erblickt er nun Bogenöffnungen, von denen aus andere Besucher die Fernsicht geniessen. Der ankommende Spaziergänger passiert also das Tor und strebt nun ins Innere der Burg. Hat er aber, über eine Treppe steigend, das Tor durchschritten, so befindet er sich keineswegs im Innern, sondern wiederum aussen, nämlich unter freiem Himmel. Der Anstieg setzt sich längs der Mauer fort und führt den Spaziergänger zu einer Öffnung, von der aus er einen schönen Ausblick hat. Er tritt an dieses Fenster und bemerkt dann vielleicht, dass er nun selbst zu einem der vermeintlichen Burgbesucher geworden ist, die er vor wenigen Augenblicken von unten gesehen hat. Die Burg hat also weder ein Innen noch ein Aussen, sondern sie besteht aus einer L-förmigen, mit Zinnen gekrönten Mauer, die von beiden Seiten her gesehen ein Inneres vortäuscht.

Nach einem weiteren kleinen Anstieg hat der Spaziergänger die Wahl, ob er die vermeintliche Burg durch die von unten gesehenen Torbögen verlassen oder ob er sich über den Zinnenkranz der L-förmigen Mauer führen lassen will. Beide Wege führen zu einem Rondell, das jene Stelle einnimmt, an welcher der ankommende Spaziergänger die Burg vermutet hat, und weiter über eine Allee, vorbei an der wirklichen Burg, den Aussichtspunkten und zum Abstieg in die Altstadt.

Die Burg – eine Inszenierung

Eine ganze Reihe von Lehren kann man aus dem Burgspaziergang von Ljubljana ziehen. Zunächst diese: Ein Spaziergang ist nicht ein langweiliger Weg zu einem attraktiven Ziel und von diesem wieder zurück, sondern er funktioniert nach dem Prinzip der Perlenkette: Orte von erhöhter Bedeutung wechseln ab mit Strecken von geringerer Attraktivität. Der Rundgang muss so angelegt sein, dass nahe Zwischenziele zum Weitergehen anspornen und dass am Ende die Erinnerung an eine interessante Strecke bleibt. Eine solche bewusst geplante Inszenierung städtischer Spaziergänge kennt man allenfalls noch von dem schottischen Planer Sir Patrick Geddes.

So eingesetzt, ist der Spaziergang Medium einer besonderen, integrativen Wahrnehmungsleistung. Obwohl ihm die Bilder sukzessive und fragmentarisch dargeboten werden, hat der Spaziergänger am Schluss eine Vorstellung von dem durchwanderten Gebiet und kann ein Urteil darüber abgeben. Kein einzelner der berührten Orte braucht als Ganzes den Charakter des Gebiets oder der Stadt zu enthalten; es ist die gesamte Strecke der Wanderung, welche in unserem Kopf den landschaftlichen oder den städtebaulichen Eindruck hervorruft. Dieses Phänomen benützt Plečnik zur Verwirklichung seines wichtigsten, allerobersten Zieles.

Plečniks Absichten in Ljubljana sind politisch und religiös zugleich. Es soll die heimliche Hauptstadt der slowenischen und katholischen Nation auferstehen lassen. Unter den obwaltenden Umständen ist es ihm nicht vergönnt – und wäre wohl auch nicht sein Wunsch –, selbst eine neue, ganz nach Idealvorstellungen durchgestaltete Hauptstadt zu bauen. Vielmehr soll die bestehende Stadt als eine solche Hauptstadt präsentiert werden. Klugerweise verwirklicht Plečnik nun dieses Ziel nicht durch die Errichtung einer monumentalen Anlage – etwa nach Art des Viktor-Emanuel-Denkmals am Kapitol in Rom; vielmehr soll der Hauptstadtcharakter Ljubljanas ständig, aber eben fragmentarisch nach dem Prinzip des Spaziergangs erfahren werden. Die Stadtbaukunst Plečniks ist nicht monumental, sondern dynamisch.

Die Via Appia von Ljubljana

Wer Ljubljana durchwandert, der findet rasch jene Strassen, denen Plečnik einen besonderen, eben einen dynamischen Charakter zu geben vermochte: Beispielhaft erscheint hier die Strasse an der römischen Stadtmauer. Die Archäologie wird hier durch eine Reihe fiktiver Monumente inszeniert, Pyramiden und Kuppeln, welche sich von nahem als kleine Treppentore entpuppen. Durch diese Tore gelangt der Fussgänger vom strassenbegleitenden Bürgersteig hinter die römische Mauer und auf einen Fussweg parallel zur Strasse, dem nun der Charakter einer kleinen Via Appia gegeben wird; und merkwürdig: Die beiden Fusswege, der reguläre Bürgersteig und der Pfad hinter der Mauer, lassen die umgebende Stadt in jeweils ganz anderer Weise erscheinen. Wirkt vom Bürgersteig aus die römische Mauer streng, fast intakt und umgeben von der neuen Bebauung, so erscheint sie von hinten als ruinös, eingebettet in den grünen Bewuchs, und die moderne Bebauung erscheint weggerückt.

Eine andere Stelle dieser Art öffnet sich am Platz der Französischen Revolution: Hier stehen dem Fussgänger längs der Bibliothek und der Musikakademie sogar drei Wege zur Verfügung: der eigentliche Bürgersteig, sodann ein Weg auf einer Wallbekrönung, der mit Bänken und Bepflanzung zum Verweilen einlädt und über Brücken die Hochparterres der angrenzenden Gebäude anschliesst, und zuletzt ein «Lieferantenweg» längs der Häuser zur Erschliessung der Sockelgeschosse.

Die von Plečnik beabsichtigten und teilweise auch inszenierten Spaziergänge nach Westen durch das «Kulturquartier» in Richtung auf das Tivoli-Gelände sowie nach Norden zum Friedhof Žale lassen sich heute infolge veränderter Verkehrsbauten nicht mehr nachvollziehen. Vollständig intakt aber ist der grosse Lehrpfad, den Plečnik für den wissbegierigen Stadtbewohner längs der Ljubljanica anlegte. Flussaufwärts endet – oder beginnt – der Spaziergang mit dem Kraftwerk: Eine erhöhte Parkanlage mit Bänken im Schatten von Bäumen erlaubt es dem Bürger, hier die «Befriedung» des Bergstroms und die Gewinnung von Energie aus den wilden Wassern zu verfolgen. Die ägyptische Kostümierung dieses industriellen Vorgangs erinnert an klassische Vorbilder: an die Begrüssung des Wassers am Ende der römischen Aquädukte vor ihrer Verteilung in die Leitungen oder an die Begrüssung der Sole am Eingang der Saline von Chaux.

Das Ufer der Ljubljanica

Folgt der Spaziergänger dem Lauf des Flusses, so erlebt er seine Zähmung und seine Umwandlung in ein städtisches Gewässer. Die Ufer werden höher und steiler, schliesslich erscheint der Fluss wie eingeschlossen zwischen den Mauern; Flussufer, Brücken, Strassen und Gebäude werden eins, der Spaziergänger kann jetzt zwischen mehreren Etagen wählen, auf welcher er den Fluss begleiten will. Ihren Höhepunkt erreicht die Demonstration im Bereich der Drei Brücken: Diese dienen nicht nur der Flussüberquerung, sondern auch – scheinbar – der Erschliessung einer tieferen Ebene näher am Wasser. Dieser Effekt ist oberhalb der Brücken eingebunden in die Markthalle, unterhalb setzt er sich eine Weile fort, auf der rechten Flussseite sogar noch unterstrichen durch die monumentalen Treppen, die das höhere Niveau der Strasse hinter der ersten Gebäudezeile andeuten.

Zusammen mit den nun folgenden zwei Brücken ergeben die kanalartigen Steilufer zwei Flussräume, die durch die monumentale Bestückung mit Geländern, Säulen und Strassenlaternen besonders unterstrichen werden. Unterhalb der letzten Brücke aber wird für den Spaziergänger vorzeitig das inszeniert, was er natürlicherweise viel weiter unten erleben würde, nämlich der Übergang von der Stadt in das Land und die Befreiung des Flusses aus seiner Einengung. Die Stelle ist auf der rechten Flussseite durch die Einmündung eines Flüsschens markiert. Sie ist recht dramatisch gestaltet. Hier bilden sich, infolge einer vorgezogenen, spitzwinkligen Einmündung, Strudel und Schaum. Von hier an flussabwärts ist das Ufer der Ljubljanica flach terrassiert, der Spaziergänger kann sich dem Wasser nähern, sich ans Ufer setzen, sich an den weitausladenden Weidenbäumen der Uferterrassen erfreuen.

Er kann aber auch das grosse Flussbett verlassen und für eine Weile dem kleinen Zufluss folgen, dessen Einmündung so auffällig inszeniert ist. Auch dessen Ufer sind architektonisch eingefasst; die begleitenden Strassen haben ausser ihrem Bürgersteig einen Fussweg für den weniger eiligen, aber aufmerksamen Spaziergänger. Dieser bemerkt vielleicht eine allmähliche Veränderung im Baumbestand: Die Weiden werden seltener, die Birken häufiger.

Der Spaziergang endet an der Emonskabrücke, die ausser ihren Pyramiden und Obelisken zunächst nichts Auffälliges zu haben scheint – bis sich dann der Spaziergänger zu wundern beginnt. Die Brücke bildet ein Verbindungsstück in einer Strasse, die in ihrem ganzen Verlauf von Birken gesäumt ist. Diese Birkenallee setzt sich nun über die Brücke lückenlos fort, sodass sich der Spaziergänger erstaunt fragt, wie denn Bäume auf einer Brücke wachsen können.

Wiederum, wie bei der Inszenierung der scheinbaren Burg, scheint uns Plečnik mit einem Lächeln sein städtebauliches Konzept zu erklären: dass er nämlich in Ljubljana nicht versucht hat, ein sogenanntes Stadtbild herzustellen, das sich auf einer Postkarte einfangen lässt nach Art des Ponte Vecchio, der Piazzetta, der Île St. Louis und der Tower Bridge; dass er es vielmehr dem Wahrnehmungsvermögen und dem Bildgedächtnis des Spaziergängers überlassen wollte, sich allmählich und fortlaufend selber das Stadtbild von Ljubljana aufzubauen.

Monika Nikolič (1944 – 2024) hatte seit 1982 die Aktionen und Ausflüge der Burckhardts in Kassel regelmässig fotografiert – auch die Reise nach Ljubljana im Frühling 1983, deren Bilder 1986 an einer Ausstellung in Kassel gezeigt wurden. Die Architektin absolvierte ein Gaststudium der Fotografie an der Kunsthochschule Kassel und fotografierte für Architektur- und Landschaftsarchitekturbüros. Zudem war sie als Fotografin eine zentrale Wegbegleiterin der Documenta in Kassel.

Linde Burkhardt (1937) und ihr Mann François Burkhardt (1936) waren mit Lucius und Annemarie Burckhardt befreundet. Zur Vorbereitung einer Plečnik-Ausstellung waren sie gemeinsam in Ljubljana. Die Ausstellung über Plečnik war für das IDZ Berlin geplant, konnte dort aber nicht mehr realisiert werden, weil François 1984 seine Arbeit als Direktor des CCI im Centre Georges Pompidou in Paris aufnahm. Dort eröffnete 1987 eine Schau zum Werk von Plečnik.

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