Annika Seifert
Das sich erwärmende Klima verschiebt unsere Wahrnehmung von Licht und Schatten. Die Integration von Sonnenschutz als plastisches Element hält unweigerlich Einzug in die Schweizer Architektur und entwickelt sich damit von einer technischen auch zu einer kulturellen Frage – mit Aussicht auf neue und reiche Ausdrucksformen.
«Wir sind der Meinung, Schönheit sei nicht in den Objekten selbst zu suchen, sondern im Helldunkel, im Schattenspiel, das sich zwischen Objekten entfaltet.»1 – So beschreibt der Schriftsteller Tanizaki Jun’ichirō die Wirkung des Schattens in der traditionellen japanischen Ästhetik. In der nord- und mitteleuropäischen Raumtradition hingegen sind Tageslicht und Helligkeit ein begehrenswertes Gut, ihre Bereitstellung eine zentrale Aufgabe der Architektur. Unsere klimatischen Gegebenheiten, in denen Sonne in den kalten Jahreszeiten nur bedingt zur Verfügung steht und auch in der warmen Jahreshälfte lange primär mit Licht und nur zweitrangig mit Hitze konnotiert war, haben bei gleichzeitiger Verfügbarkeit des Baustoffs Glas die Entstehung von Typologien begünstigt, die sich von innen nach aussen orientieren.
Tageslicht war lange Zeit die Voraussetzung schlechthin für innenräumliche Arbeit und Produktivität. Folgerichtig waren es Industriebauten, die die Architekten der frühen Moderne zu ihrem grosszügigen Einsatz von Glas inspirierten. Was sich in der Folge als Standard in Büro-, Geschäfts- und Bildungsbauten etablierte, hat sich auch im Wohnungsbau durchgesetzt: Grossflächige Verglasungen, durch die das Licht ungefiltert nach innen und der Blick nach aussen fällt – natürlich auch umgekehrt, es gibt nichts zu verbergen. Wir haben gelernt, die Helligkeit und Transparenz solcher Bauten als produktiv, grosszügig, hygienisch, ja demokratisch zu empfinden. Der praktische Nutzen der Öffnung ist längst von ihrem ästhetischen und kulturellen Wert überlagert. Doch mit dem sich spürbar erwärmenden Klima verändert sich auch die Wirkung der überdimensionierten Glasflächen. Sonne bedeutet längst Hitze, und das nicht erst im Hochsommer. So machen auch in der Schweizer Architekturlandschaft Projekte von sich reden, die sich mit dem sorgfältigen Kuratieren von Sonnenlicht beschäftigen.
Besonders Bauten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind oft schlecht auf den Umgang mit Hitze vorbereitet. An der Bellerivestrasse am Zürcher Seeufer fällt seit Kurzem ein neuer Akteur ins Auge, der sich auf den zweiten Blick als überformter Bestand aus den 1970er Jahren entpuppt. Das dänische Grossbüro C.F. Møller hat das Bürohaus modernisiert, wobei eine zentrale Aufgabe in der energetischen Sanierung der vollflächigen Glasfassade bestand. Neu ist die Gebäudehaut durch geschossweise umlaufende Vordächer strukturiert, die über die Vollverglasung auskragen. Sie wirken als feste Verschattung, als Brise-Soleil. Mit ihrem grosszügigen Überstand von fast zwei Metern werfen sie in der sommerlichen Mittagssonne tiefe Schatten auf die südorientierten Glasflächen. Am Vor- und Nachmittag allerdings dringt die flach einfallende Sonne erbarmungslos in die Tiefe des Gebäudes ein – zusätzlicher innenseitiger Blendschutz und Kühldecken müssen dann aushelfen. Doch die Vordächer haben eine weitere Funktion: Sie wandeln die Sonnenstrahlen, die im Innenraum unerwünscht sind, aussen in Energie um. In aufwändiger Konstruktion bestehen die Elemente oben aus Photovoltaikpaneelen, die mit gefärbtem Strukturglas bedeckt sind und unten in gleichfarbigem Aluminium verkleidet. Das verleiht ihnen eine klare Geometrie und nimmt ihnen jegliche vordergründig technische Anmutung. Sie umlaufen das gesamte Gebäude ungeachtet der Fassadenorientierung gleichförmig und unterstreichen so den ruhigen Gesamtausdruck und die horizontale Eleganz des gestaffelten Gebäudevolumens. Durch diese gestalterische Ebenmässigkeit erzeugt die Brise-Soleil hier eine Art homogenisierte Corporate Noblesse, die Kontext und Bauherrschaft entspricht und letztlich wohl stärker gewichtet wurde als die klimatische Wirkung.
Tatsächlich steht im Umgang mit festen Verschattungselementen die Frage der Himmelsrichtungen und des unterschiedlichen Lichteinfalls auf die Fassaden oft im Widerspruch zum Bild einer ruhigen, einheitlichen Gestaltung. Die Wohn- und Gewerbesiedlung Hofwiesenstrasse in Zürich macht diese Not zur Tugend: Das jüngst fertiggestellte Projekt von Donet Schäfer Reimer Architekten steht nördlich des Bucheggplatzes in einem komplexen Stadtgefüge, das von unterschiedlichen Massstäben und einem dominanten Strassenraum geprägt ist. Auf die heterogene Situation reagiert das Projekt mit der Setzung grosser und klarer Volumen, die durch zwei wesentliche Kunstgriffe fein auf den Kontext abgestimmt sind: Grundrisstypologie und Differenzierung des Fassadenausdrucks. Die zwei achtgeschossigen Wohnscheiben sind zwar parallel gesetzt und ähnlich dimensioniert, typologisch reagieren sie jedoch unterschiedlich auf die lärmbelastete Strassenseite im Südosten und den neuen Park im Nordwesten. Dem kürzeren Volumen sind parkseitig Treppentürme vorgestellt, die jeweils zwei Wohnungen erschliessen. Da es sich mehrheitlich um 4.5-Zimmer-Wohnungen handelt, gelingen trotzdem abgeschirmte Schlafzimmer zur ruhigen Parkseite. Das Volumen im Norden erschliesst kleinere Wohnungen über einen Laubengang – die Projektverfassenden sprechen von einer Stadtloggia – vom strassenseitigen Vorplatz. Die auftraggebende Stiftung Einfach Wohnen legte schon im Wettbewerbsprogramm Wert auf Energieeffizienz und -produktion, so dass sich auch hier Solarpaneele als produktive Brise-Soleils finden. Sie treten jedoch ungeschönt als technische Elemente und nur in den Fassaden mit Südorientierung auf, wo sie am effizientesten sind. Vor den Laubengängen verlaufen sie durchgehend als Brüstungsbänder, vor den Fensteröffnungen in Form von festen Ausstellmarkisen. Die übrigen Fassaden sind konventionell mit beweglichen Stoffmarkisen geschützt, die zartgelb mit den dunklen PV-Elementen kontrastieren. Durch die situative Ausrichtung des Sonnenschutzes auf die Himmelsrichtung entsteht ein bewegter, kommunikativer Fassadenausdruck. Die Grossvolumen erhalten einen Anschein von Greifbarkeit und Durchlässigkeit, der massgeblich dazu beiträgt, von der Strasse und dem vorgelagerten Platz in den Grünraum einzuladen.
Der Begriff der Brise-Soleil leitet sich aus dem französischen briser ab und bedeutet brechen oder zersplittern. Er beschreibt ursprünglich ein festes Vordach oder Gesims, das Öffnungen gegen direktes Sonnenlicht abschirmt, einen Sonnenbrecher also. Aus der Architektur des nordafrikanischen Raums stammend, fand die Brise-Soleil ihren Weg in das feste Vokabular der Tropischen Moderne und von dort auch immer wieder in nördlichere Architekturen. Im erweiterten Sinn wurde der Begriff schon bald für andere fixe Verschattungselemente wie horizontale und vertikale Lamellen oder vollflächig durchbrochene, luftdurchlässige Verblendungen verwendet.
Ebendiese Bandbreite loten Graber Steiger Architekten in einem Erweiterungsbau für das Unternehmen Komax in Dierikon bei Luzern aus. Die vertikal konzipierte Fabrik vereint Entwicklung, Produktion und Büroflächen auf sechs Geschossen um ein zentrales Atrium und liegt prominent an der Bahnlinie zwischen Zug und Luzern. Gleis- und strassenseitig ist dem Volumen über die ganze Breite eine leichte, aber prägnante Metallstruktur als Veranda vorgehängt, die als Aufenthaltsort, Fluchtweg und Sonnenschutz dient. Das Architekturbüro pflegt seit Jahren Kontakte mit der Architekturszene Bangladeschs. Die dortigen Jali, durchbrochene Elemente aus Holz oder Stein, nahe verwandt mit der aus der muslimischen Architektur bekannten Maschrabiyya, standen Pate für die verräumlichte Gebäudehaut. Das oft reich ornamentierte Vorbild findet seine Übersetzung brandschutzkonform und in abstrahiertem Ausdruck in weiss beschichtetem Stahlgitter, das in seiner Dimensionierung und Durchlässigkeit darauf abgestimmt ist, grosszügig Tageslicht hinein- und den Blick hinausfallen zu lassen, ohne dass Überhitzung durch direkte Sonneneinstrahlung entsteht. Auch an den zwei Seitenfassaden tauchen die Jali auf, hier füllen sie die strukturellen Öffnungen plastisch aus und geben so den Umriss der innenliegenden Tragstruktur wieder. Der Erweiterungsbau passt sich in Volumen und Materialität ins Industriequartier ein und hebt sich gleichzeitig durch seinen dezidierten Ausdruck und die feine Plastizität der fast textil anmutenden Gebäudehaut von den anderen Bauten ab.
Die Referenz der Maschrabiyya bietet sich auch bei der Betrachtung des Meret Oppenheim Hochhauses an, das Herzog & de Meuron 2019 zwischen dem Basler Bahnhof und dem angrenzenden Gundeldinger Quartier fertiggestellt haben. Seine plastische Figur verdankt der Bau der Stapelung unterschiedlich grosser Volumen, die in den unteren Geschossen öffentliche Nutzungen und Büros enthalten und darüber gehobene Mietwohnungen, deren Aussicht sich über das Gleisfeld und die Stadt öffnet. Prägendes Merkmal des Turms ist seine Fassade, in der eine umlaufende Balkonschicht vollflächig von Faltschiebeläden aus Aluminium umhüllt ist, die im beständigen Spiel von Öffnen und Schliessen immerfort neue Erscheinungsbilder generieren. Der Pufferraum zwischen Faltläden und innerer Fassade erzeugt zur Stadt hin eine Bewegtheit und Tiefenwirkung, die mit dem Öffnungsgrad in Abhängigkeit zur Tages- und Jahreszeit variiert. Aus den Wohnungen heraus entfaltet sich eine selbst justierbare Gratwanderung von Dunkel zu Hell, von Intimität zu Exponiertheit, von Mittelbarkeit zu direkter Öffnung. Durch die Überlagerung von Lichtdurchlässigkeit der Läden und die Sonnenreflexionen auf den genieteten Metallteilen und Glasoberflächen entsteht in der Balkonschicht vor allem bei direktem Sonneneinfall ein irisierendes Spiel aus Licht, Glanz und Schatten, das sich bis ins Gebäudeinnere fortsetzt und die Grenze zwischen innen und aussen aufzulösen scheint. Luis Barragán hätte vermutlich Freude an diesem Vexierspiel gehabt. «... die Verwendung von riesigen Glasfenstern [...] beraubt unsere Gebäude der Intimität, der Wirkung von Schatten und Atmosphäre. Architekten auf der ganzen Welt haben sich in den Proportionen geirrt, die sie grossen Fenstern oder Räumen, die sich nach aussen öffnen, zugewiesen haben [...]. Wir haben unseren Sinn für das intime Leben verloren und sind gezwungen, ein öffentliches Leben zu führen, im Wesentlichen fern von zu Hause»2, bemängelte der grosse mexikanische Architekt 1962 im Gespräch.
Und natürlich geht es auch beim Meret Oppenheim Hochhaus genau wie bei den orientalischen Maschrabiyya nicht einfach um Sonnenschutz, sondern gleichzeitig um Intimität, um die Abschirmung des privaten Innenlebens von der Öffentlichkeit der Stadt. Dieses Motiv des Schleiers, der sich zwischen Innen- und Aussenleben legt, taucht im Werk von Herzog & de Meuron schon früher im städtischen Kontext auf, wie etwa im Wohnhaus an der Schützenmattstrasse (1993) mit seinen Klappläden aus Gusseisen. In der Architekturwelt und in der breiten Öffentlichkeit schlug dem Wohnturm nach seiner Fertigstellung erstaunlich vehemente Ablehnung entgegen: Klobig und monolithisch sei das Gebäude, die NZZ sprach von einem Elefanten im Stadtraum; mit offenkundiger Genugtuung wurde registriert, dass die Faltläden sich bei Minustemperaturen wegen Eisschlaggefahr automatisch schliessen und die Bewohner im Dunkeln zurücklassen.3 Möglicherweise spricht hieraus das Misstrauen gegenüber einem Gebäude, das für viele die Gentrifizierung des Gundeli-Quartiers versinnbildlicht. Die Kritik bezieht sich aber ebenso vielstimmig wie deutlich auf die im geschlossenen Zustand als abweisend und hermetisch empfundene Fassade. Die Abkehr hinter der metallenen Haut, die beim Fabrikbau im Industriegebiet noch funktioniert, wird im Zusammenhang von Wohnen und Stadt kompliziert.
Diese jüngeren Schweizer Beispiele zeigen exemplarisch die empfindlichen Fragen auf, die feste, architektonisch wirksame Beschattungselemente im hiesigen klimatischen und kulturellen Kontext mit sich bringen. Da ist zunächst die offensichtliche Herausforderung der wechselnden Jahreszeiten. Anders als beim Vorbild aus ganzjährig heissen Klimazonen, will in unseren Breiten immer noch der Winter mitgedacht sein; dabei geht es nicht nur um solare Gewinne, sondern vor allem um Tageslicht. Es braucht also temporäre oder bewegliche Elemente oder solche, die je nach Jahreszeit mit dem wechselnden Sonneneinfallswinkel eine andere Wirkung entfalten. Eng damit verknüpft ist ein zweites Fragezeichen: Der Reiz schattenspendender Elemente im globalen Süden liegt oft in ihrer Einfachheit. Textile Gewebe, Holzschnitzereien, schlanke Betongesimse oder ornamentale Keramik erlauben eine Leichtigkeit, Eleganz oder auch Verspieltheit, die allzu oft dem Schweizer Anspruch an Präzision, Wetterbeständigkeit, Brandschutz und Wertigkeit zum Opfer fallen. Drittens geht es um nicht weniger als unser Verständnis von Architektur in der Stadt, ihrem Verhältnis zum öffentlichen Raum. Im ursprünglichen kulturellen und klimatischen Kontext der Maschrabiyya ist das «verschleierte Fenster» nicht per se eine kommunikative Öffnung, die in beide Richtungen fungiert. Es entspricht Typologien, die traditionell introvertiert sind, sich etwa um einen Hof entfalten, zur Strasse aber abschirmen. Das bewohnte Haus in der nord- und mitteleuropäischen Stadt hingegen unterliegt einer gewissen Verpflichtung zu Öffentlichkeit, Teilnahme, und Transparenz. In der Übersetzung eines Elementes, das traditionell von innen gedacht ist, gilt es, nach aussen ein akzeptables Gleichgewicht im subtilen Spiel von Verstecken und Preisgeben zu finden. Die damit einhergehende Plastizität der Fassade als artikulierter Schnittmenge zwischen Haus und Stadt verspricht dabei einen neuen gestalterischen Wert.
Das eingangs beschriebene japanische Verhältnis zu Schatten und Dunkelheit erklärt Tanizaki aus Raumgewohnheiten: «Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens heraus.»4 Die Hitze, die in unseren Städten zur neuen Normalität geworden ist, wird zu neuen Fassadenbildern und neuen Ausdrucksformen führen – und möglicherweise unser Bild von Schönheit verändern. Die fruchtbare Suche hat bereits begonnen.
Annika Seifert (1979) wird zum Jahresende die Professur für klimaangemessenes Entwerfen und Bauen an der Universität Stuttgart antreten. Sie studierte Architektur an der ETH Zürich, unterrichtete an der Hochschule Luzern und praktiziert mit dem Architekturbüro APC in Dar es Salaam (Tansania) und Zürich.
1 Tanizaki Jun’ichirō, Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik, Übersetzt von Eduard Klopfenstein, Zürich 1987 / 2002, S. 58.
2 Alejandro Ramírez Ugarte, «Interview with Luis Barragán» (1962), in: Enrique Xavier de Anda Alanís, Luis Barragán: Clásico del Silencio, Bogotá 1989 (Übersetzung der Autorin), S. 242.
3 U.a. Benedikt Kraft, «Meret Oppenheim Hochhaus, Basel. Ein Skandal?» in: Deutsche Bauzeitung, 9/2019, vgl. www.dbz.de (abgerufen am 11.9.2024).
4 Tanizaki Jun’ichirō, wie Anm. 1, S. 37.
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