Andreas Ruby, Maxime Delvaux (Bilder)
Zwei umgenutzte Bürotürme rütteln das einst monofunktionale Quartier Nord in Brüssel wach. Mit der Schichtung unterschiedlicher Nutzungen und einer öffentlichen Sockelzone entwickelt sich urbane Vielfalt. Die vor angegangene Zwischennutzung legte dafür Potenzial offen.
Manchmal ist die Suche nach dem Gegenteil der beste Weg, um das Wesen einer Sache zu verstehen. So ist das Brüsseler Quartier Nord ein guter Ort, wenn man wissen möchte, was Hybridität im Städtebau nicht ist. Entworfen in den 1960er Jahren unter dem Label «Manhattan Plan», wurden hier in einer brutalen Stadterneuerungsoperation – und keine zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg – rund 11 000 Menschen aus ihrem angestammten Wohnumfeld vertrieben und insgesamt 20 Hektar Stadtgewebe abgerissen, um reinen Tisch für die perfekte Stadt der Moderne zu machen. Eine Hochhausstadt, bestehend aus hundert Prozent Bürotürmen, in der die Strassenebene allein den Autos vorbehalten bleibt, während der Fussgängerverkehr auf erhöhte Plattformen und Brücken ausgelagert werden sollte. Letzteres wurde zwar nie umgesetzt, aber auch so bietet das Quartier Nord den niederschmetternden Beweis, dass man eine Stadt ohne jegliche Urbanität bauen kann. Keine Mischung, nirgends. Händeringend sucht man nach dem einsamen Restaurant, in dem Jacques Tati gerade die abgehängten Decken auseinandernimmt, um dem humorlosen Plan ein Existenzminimum an Chaos in den Cocktail zu mixen. Aber die Idee war eben, eine Stadt für Büroarbeit zu bauen, nicht für Playtime.
Den Auftakt zu dieser europäischen Version des amerikanischen Central Business Districts bildete das World Trade Center, zwei 28-geschossige Bürotürme, die 1972 und 1976 gebaut wurden, nur wenig später als die Twin Towers in New York. Von der Brüsseler Bevölkerung als Ikone der «Brusselisation» leidenschaftlich verachtet, dämmerten die beiden Türme über Jahrzehnte in corporate hibernation (einer Art «Unternehmens-Winterschlaf»), bis sich einer ihrer Eigentürmer, der Brüsseler Immobilieninvestor Befimmo, 2015 zu einem Neustart entschloss.
Nach einem ersten Wettbewerb, in dem Büros wie OMA und UNStudio nichts anderes einfiel, als den Bestand komplett abzureissen und durch grün strahlende Icon Buildings zu ersetzen, realisierte der Eigentümer, dass er das Gebäude nicht wirklich erneuern konnte, ohne das Quartier insgesamt zu betrachten. Er gründete mit Up4North eine Allianz aller Grundstückseigentümer des Quartier Nord, um eine urbane Strategie zu entwickeln, und schrieb 2017 einen neuen Architekturwettbewerb aus, diesmal zusammen mit dem Brüsseler Baumeister Kristiaan Borret, der mit seinem Team qualitätssichernde Verfahren städtebaulich relevanter Projekte unterstützt. Dessen Bedingung: ein offener Wettbewerb und ein gemischtes Programm aus Büros und anderen Nutzungen. 51N4E und l’AUC schlugen mit ihrem ausgewählten Projekt vor, die beiden Türme so weit wie möglich zu erhalten und durch ein verbindendes «Volume capable» zu einem zu machen. Allerdings ergab eine Analyse des Tragwerks der Türme, dass die Skelettkonstruktion und die Geschossdecken die Lasten des dazwischen gesteckten Neubaus nicht würden tragen können. Erhalten werden konnten von den Türmen deswegen nur das Fundament, die Untergeschosse und die beiden Erschliessungskerne aus Beton.
Dabei wurden Letztere zum entscheidenden Hebel des typologischen Geniestreichs, mit dem die Architekturschaffenden das Gebäude unter dem neuen Namen ZIN transformierten: Sie verbanden die mit 3,20 Meter relativ niedrigen Decken der 28 Geschosse hohen Glastürme mit 14 doppelgeschossigen Plattformen. Diese erzeugen Grossräume von 100 x 22 x 6,40 Metern, die frei von jeglichen vertikalen Elementen sind. Denn diese «fliegenden Teppiche» werden über die Kerne der beiden Türme erschlossen, an die sie angrenzen und in denen sie mit einfacher Deckenhöhe weiterfliessen. Statt vorher 28 gibt es jetzt also nur noch 14 Bürogeschosse, die in den Altbauten 3,20 Meter hoch sind und im neuen Verbindungsbau doppelt so hoch. Das erzeugt in den Türmen wiederum 14 Zwischengeschosse, die im Süden mit 200 Hotelzimmern und im Norden mit 100 Mietwohnungen gefüllt wurden.
Damit die drei Programme unabhängig voneinander funktionieren können, bauten die Architektinnen und Architekten in beiden Erschliessungskernen jeweils einen neuen Aufzug und ein neues Treppenhaus ein. Dass sich in den Türmen jetzt Büros mit Hotelzimmern oder Wohnungen geschossweise abwechseln, wird an der Fassade bewusst nicht artikuliert, um einen möglichen Funktionswandel in der Zukunft nicht ästhetisch zu fixieren. Aus demselben Grund haben die Büros, genau wie die Wohnungen, gedeckte Terrassen an den Schmalseiten der Türme, sodass sie bei Bedarf problemlos zu solchen umgenutzt werden könnten – umgekehrt kommen die Mitarbeitenden der Büros heute in den Genuss von Aussenräumen am Arbeitsplatz.
Räumlich wirksam wird die Hybridität dieser drei Nutzungen überall dort, wo sie sich mit der Öffentlichkeit vermischen können. Das ist vor allem in dem dreigeschossigen Sockel der Fall, der im alten World Trade Center als eine Art Einkaufscentrum fungierte, nun aber ein multifunktionales Scharnier mit der Nachbarschaft ist und dadurch eine solche eigentlich überhaupt erst aufbaut. Den prominentesten Teil des Sockels bildet das viergeschossige lichtdurchflutete «Gewächshaus», das räumlich an das Hotel anschliesst, aber nicht dessen Lobby ist. Es funktioniert wie ein überdachter Park, in dem alle Aktivitätsströme des Gebäudes zusammenfliessen und sich mit der Öffentlichkeit der Stadt vermischen. Dasselbe passiert auf der 2500 Quadratmeter grossen Dachterrasse, die mit über 120 Bäumen und 4000 kleinen Pflanzen intensiv begrünt ist. Sie wird über das Hotel erschlossen, wodurch sie auch für die Öffentlichkeit zugänglich wird. Dass das möglich ist, hat nicht unerheblich mit dem Hotel zu tun, das im ZIN eingezogen ist: dem Standard Hotel. Seit ihren ersten beiden Hotels in Los Angeles verfolgt die Boutique-Hotel-Kette das Konzept, ihre Häuser auch als Destinationen für die lokale Bevölkerung zu gestalten – ein Ansatz, der diesen Hotels, im Gegensatz zu anderen, während der Corona-Pandemie noch eine hinreichende Betriebsmöglichkeit eröffnete.
Das Hotel betreut das Gewächshaus und die Dachterrasse als öffentlich nutzbare Orte, ohne sie funktional zu vereinnahmen. Denn hier kann jeder hinkommen, ob Gast des Hotels oder nicht. Es sind Orte der Zivilgesellschaft, die im Quartier Nord ansonsten schmerzlich abwesend ist – eine Langzeitfolge der bleiernen Monofunktionalität des Büroquartiers, deren sozialräumliche Dekontamination noch Jahre brauchen wird und auch vom Engagement des Hauptgebäudenutzers abhängt, der Flämischen Regierung, die 70 Prozent der Nettonutzfläche des Gebäudes beansprucht. So steht den Regierungsangestellten im Erdgeschoss beispielsweise ein Fitnessstudio zur Verfügung, das zusätzlich über separate Umkleiden für die Nachbarschaft verfügt, um auch von den Bewohnenden der näheren Umgebung genutzt werden zu können. Aber noch ist dieser Bereich nicht für diese geöffnet, weil der Hauptnutzer diese Einladung noch nicht ausgesprochen hat. Teilen will eben gelernt sein.
Eine gute Schule dafür wäre die eineinhalbjährige Zwischennutzung gewesen, in der 51N4E noch vor der Ausschreibung des Wettbewerbs im Auftrag des Eigentümers unterschiedlichste Nutzerschaften in den damals leerstehenden nördlichen Turm einlud, um zu testen, wie ein monumentales monofunktionales Bürogebäude mit generischen Grundrissen auch von vielen verschiedenen kleinmassstäblichen Programmen genutzt werden könnte. Dafür lancierten sie zusammen mit Studierenden der Universität Hasselt einen Workshop über Hybrid Business Districts. Im Anschluss verlegten mehrere Architekturschulen Entwurfsstudios in die leeren Bürogeschosse; kulturelle Player aus Brüssel folgten. Unter dem Label «LabNorth» organisierte 51N4E die Zwischennutzung zusammen mit Up4North (einem Zusammenschluss der Grundstückseigentümer des Quartier Nord), der Kommunikationsagentur Vraiment Vraiment und dem Architecture Workroom Brussels, der 2018 die Internationale Architekturbiennale Rotterdam «You are Here» kuratierte und die Ausstellung kurzerhand in das leerstehende World Trade Center platzierte und dieses im gleichen Zuge zum «World Transformation Center» umdefinierte. 51N4E zügelte sogar seine Büros komplett in den Turm und nutzte ihn zusammen mit dem Projektpartner l’AUC als konkretes Mock-up-Labor für den Entwurf. So ersetzten sie Scheiben der festverglasten Vorhangfassade durch Schiebefenster, um die Möglichkeit einer natürlichen Belüftung zu testen, und versahen die leeren Büroflure mit Grünpflanzen und siedelten Vögel an, um die Stimmung der Räume auch akustisch zu transformieren.
Man hätte sich gewünscht, dass das Programm des kurz danach ausgeschriebenen Wettbewerbs stärker von dieser Zwischennutzung inspiriert worden wäre. Aber etwa gleichzeitig erhielt Befimmo den Zuschlag der Flämischen Regierung, 75 000 Quadratmeter Bürofläche für 18 Jahre zu mieten. Nur deswegen war Befimmo finanziell in der Lage, das ausgewählte Wettbewerbsprojekt von 51N4E und l’AUC zu bauen, andernfalls hätten sie die Türme nur moderat renoviert.
War die Zwischennutzung deswegen folgenlos? Ganz sicher nicht. Vielleicht war sie einfach eine Antizipation dessen, was in 18 Jahren mit dem Gebäude passieren kann, wenn der Mietvertrag der Flämischen Regierung ausgelaufen sein wird. Man möchte der Befimmo wünschen, die Zeit zu nutzen, um ein differenziertes Betriebskonzept zu entwickeln, wie die 14 fantastischen Ereignisräume des «Volume capable» mit ihrem jeweils 14 000 Quadratmeter grossen Raumvolumen dann für ein Kaleidoskop aus verschiedensten stadtdienlichen Programmen genutzt werden könnten – Raum für Kultur, Sport, Produktion, besondere Formen des Wohnens. Und wo sollte man besser den Dopaminschüben des Hybriden auf die Schliche kommen können als an einem der Geburtsorte des Surrealismus, der bekanntlich schon vor einem Jahrhundert die Begegnung «einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch»1 als Quelle einer neuen zeitgenössischen Schönheit feierte?
Andreas Ruby (1966) ist Architekturkritiker, Co-Gründer von Ruby Press, Kurator, Lehrender und war 2016 bis 2025 Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums S AM in Basel.
1 Comte de Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror, 6/3, Paris 1868. Der Vergleich wurde später als Metapher von den Surrealisten aufgegriffen.