Lucia Gratz, Margherita Spiluttini, Georg Aerni (Bilder)
Mit dem Niedergang der Industrie entstand im Westen der Stadt in den 1990er Jahren Raum für Subkultur, Start-ups und Spekulation. Der Strukturwandel setzte einen Transformationsprozess in Gang, der bis heute andauert. Die Pionierräume dieser Entwicklung erzählen vom Geist des Jahrzehnts.
Um zu wissen, wie Zürich-West in den 1990er Jahren aussah, kam ich zu spät. Meine Erinnerung an das Quartier setzt 2009 mit meiner ersten Arbeitsstelle ein. Vom Bürofenster im Carbahaus sah ich auf den Prime Tower, der gerade mit einer Kletterschalung in die Höhe wuchs. Im Vordergrund bewegten Arbeiter im Prüflager der MAN riesige Maschinenteile von hier nach dort. Dazwischen stand der Technopark – Bauten aus einer unbestimmten industriellen Vergangenheit, wie mir schien. Zu Mittag gingen wir in die Kantine im Schiffbau oder ins Spheres. Eine Kollegin war kürzlich mit ihrer Familie in den Wolkenbügel der Überbauung West-Side gezogen. Am Wochenende traf ich Freunde im Helsinki Klub oder zu Moules-frites im Les Halles.
Dass es sich dabei um Orte handelte, die Teil des neuen Selbstverständnisses eines Quartiers und einer Gesellschaft in Transformation waren, wusste ich damals nicht. Weitläufige Produktionsareale im Zürcher Westen, die seit dem 19. Jahrhundert entstanden, waren in den 1990er Jahren obsolet geworden. Zahlreiche Hallen standen leer. Die Dienstleistungsgesellschaft hatte übernommen. Auch ging vieles von dem, was ich sah und nutzte, auf eine Politik zurück, die einen lebenswerten Stadtumbau einforderte. Gleichzeitig war die Pionierzeit der 1990er Jahre gespickt mit Bottom-up-Initiativen junger Leute, die in der Folge der 1980er-Jahre-Unruhen Freiräume in den verlassenen Räumen der Industrie fanden und eine eigene kulturelle Identität lebten. Während meiner Recherche verdichtete sich so das Bild eines Quartiers, das in den 1990er Jahren ein dynamisches Jahrzehnt voller Ambivalenzen durchlebte.
Mitten im Industriequartier, auf den Flächen der Maschinenfabrik Sulzer-Escher Wyss, wagte man 1986 etwas Neues: Der Typus eines Technologieparks sollte auch in Zürich die stockende Produktion neu ankurbeln und den Innovationsstandort sichern. Durch den Zusammenschluss von Wissenschaft, Industrie und Jungunternehmertum wollte der Konzern den technologischen Wandel aktiv mitgestalten. Es war ein Hoffnungsschimmer in den Rezessionsjahren und im fortschreitenden Abbau der Schwerindustrie.1 Der Strukturwandel hatte in den 1990er Jahren schweizweit bereits immense Flächen freigesetzt, die mit einer epochalen Transformationsaufgabe verbunden waren.2 Allein Escher Wyss sass in Zürich auf sechs Hektaren Industrieland in zentraler Stadtlage, wovon ein Drittel brach lag. Wo früher Turbinen montiert wurden und Maschinenenteile gefertigt, machte der serbelnde Konzern nun Platz für das Zukunftsprojekt Technopark.
Das Konzept für den 170 Millionen teuren Komplex stammte vom Berner Architekturbüro Itten Brechbühl. Was zu dieser Zeit auf den Industriebrachen entstand, war eine inspirierende Reibung mit dem Bestand, der immer noch erfahrbar und teils in Betrieb war. «Als wir mit der Planung anfingen, studierte ich das Areal und die Produktion eingehend. In der Schiffbauhalle wurden zwar keine Schiffe mehr produziert, aber ich kannte alle Bilder davon. In den Mulden der Escher Wyss landeten unglaublich schöne Schiffbaupläne»,3 so Ruggero Tropeano, der als verantwortlicher Architekt das Projekt leitete. Er fand Inspiration im industriellen Bestand, nahm Bezüge aber auch woanders her: Aldo Rossis Vorliebe für anonyme Industriebauten rund um Mailand, Bauten von Arne Jacobsen, die er besuchte, als das Büro Technoparks in Skandinavien anschauen ging. Für die Ausführung der Details unterstützen ihn etwa die Lichtgestalter der Neuen Werkstatt, die Tropeano am Kebabstand an der Josefstrasse kennengelernt hatte.4 Mit all seinen industriell wirkenden Alltagsdetails ist der Technopark eine fast nostalgische Architektur, die in Spannung zur zukunftsorientierten Hochtechnologie im Inneren steht.
Die erste rot-grüne Stadtregierung überliess es ab 1990 nicht mehr allein der Industrie, wohin sich die Stadt in Zürich-West entwickeln sollte. Stadträtin und Hochbauvorsteherin Ursula Koch prägte den berühmt gewordenen Ausspruch: «Die Stadt ist gebaut. Sie muss nicht neu-, sondern umgebaut werden».5 Er gefiel nicht allen. Bürgerliche und Wirtschaftsvertreter richteten ihn in der Folge wie einen giftigen Pfeil gegen sie. Koch setzte sich für eine lebenswerte Stadt mit mehr Wohnqualität, für Freiräume und eine hochstehende Baukultur ein. Dies stand im Widerspruch zu den Interessen von Investoren, die in den Industriegebieten grossflächige Umzonungen und maximale Ausnutzung forderten. Dennoch: Zwischen dem Ausspruch und ihrem Abtritt von der Zürcher Politbühne lagen zehn Jahre. Eine Dekade, in der die Stadt trotz der Streitigkeiten um die BZO im Kochschen Sinne weitergebaut wurde.6 Ihr Einstehen für eine breitgefächerte Baukultur wird auch in Zürich-West deutlich. Pionierräume dieser Haltung entstanden mit dem Umbau der Steinfels-Fabrik in ein mischgenutztes Areal.
Bereits im Gestaltungsplan des Architekturbüros Herczog Hubeli von 1988 bildet sich dies ab: Beim Arealumbau musste am Bestand weitergebaut werden, eine Mischnutzung war mit einem Wohnanteil bis 40% zu etablieren und die Räume sollten für Gehbehinderte nutzbar sein. Die Aussenräume waren verkehrsfrei in der Form von Wohnstrassen zu planen. Der baukulturelle Anspruch wurde über eine gute Gestaltung und den Erhalt typologischer und baulicher Eigenheiten des Quartiers definiert.7
Mit der Stilllegung der Produktion zogen Ende der 1980er Jahre Künstler und Kleingewerbler in die Hallen und Werkstätten des Steinfels-Areals ein. Der Glacé-Garten von Rolf Hunziker oder die Töffwerkstatt Palu-Motos belebten die Brache, später wurde im Rohstofflager Techno aufgelegt. Sie alle profitierten vom moderaten Mietzins und den geringen Regularien im Industrieumfeld.8 Auch das Architekturduo Kaufmann van der Meer arbeitete auf dem Areal im ehemaligen Verwaltungsgebäude. «Wir präsentierten Eric Steinfels eine Projektstudie, die ihn überzeugte, und so kam es zum Auftrag. Wir durften die Aufstockung mit Duplex-Wohnungen und den Umbau des Seifenturms in Büros und Lofts machen»,9 erzählt Pieter van der Meer. Dies war die zweite Etappe nach dem Multiplex-Kino von Schäublin und Teuwen 1993. Wichtig sei ihm Sozialräumlichkeit gewesen, Treppen und Laubengänge habe er als Begegnungsorte entworfen. Zu Art, Grösse und Anzahl der Wohnungen habe die Bauherrschaft keine Vorgaben gemacht. Vor allem jüngere Leute, die einen urbanen Lebensstil schätzten, seien in die grosszügigen Wohnungen gezogen, so van der Meer.
Stadtauswärts, am Hardturm, wurde zur gleichen Zeit mit dem Abbruch der Textilfärberei Schoeller Platz für die Wohnüberbauung Limmatwest gemacht. Auch das Projekt von Kuhn Fischer sollte zeigen, dass es sich im Industriequartier gut wohnen lässt. Wenige Jahre zuvor hatte sich in den leerstehenden Shedhallen die junge Kunsthalle Zürich als Zwischennutzung eingerichtet. Christian Karrer und Andreas Fuhrimann waren die Architekten des Einbaus. Karrer, im Vorstand der Kunsthalle, hielt die Räume wegen des Oberlichts für Ausstellungen geeignet. «Das Schoeller-Areal war gefühlt weit draussen vor der Stadt. Es war eine Art Offspace für junge Kunst, zu den Vernissagen kamen vielleicht zwanzig Leute»,10 erzählt Andreas Fuhrimann. Mehrere Galerien, aber auch Tanzstudios und eine Schauspielschule nutzten die Brache bis 1995.
Gleichzeitig hing die Zukunft des Löwenbräu-Areals in der Luft, nachdem ein Planungsvorschlag von Theo Hotz Architekten für die Migros gescheitert war. Auf Wunsch der Stadt sollte die Kunsthalle in die ehemaligen Militärstallungen an der Gessnerallee weiterziehen. Doch um zeitgenössische Kunst auszustellen, brauchte es grosszügige Räume. Die Abfüllhalle im Löwenbräu, eine Aufstockung von 1953, schien wie gemacht dafür. «Als wir reinkamen, war da schon jahrelang nichts mehr. Scheiben waren zerbrochen, die Abfüllanlagen abmontiert, überall sassen Tauben», so Andreas Fuhrimann. Durch eine geschickte Allianz mit Galerien und der Migros Kunstsammlung konnte die Kunsthalle die Räume mieten.11
Fuhrimann und Karrer unterteilten die Halle in fünf Bereiche, die neutral weiss waren. Durch die grossen Fensterflächen mit sandgestrahltem Glas fiel weiches Licht. «Man kann sich gar nicht vorstellen, mit wie wenig Geld wir das machten», erinnert sich Andreas Fuhrimann und vergleicht mit den heutigen Anforderungen im Kunstbetrieb. «Es musste alles wahnsinnig schnell gehen», erzählt er, «die Stimmung war unglaublich, plötzlich entstand ein Hype um die junge Kunst.»
Mit dem Zuschlag für den Umbau des Löwenbräu-Areals 2003 an Gigon Guyer und Atelier ww zeichnete sich das Ende der Pionierzeit für den Kunstbetrieb ab. Noch heute erzählt man sich von legendären Vernissage-Partys, von Menschenschlangen, die um das Karree herum anstanden, um etwa die Ausstellung zu Pipilotti Rist 1999 in der Kunsthalle zu sehen. Auch das Schauspielhaus hatte mit dem Löwenbräu als zweitem Spielstandort geliebäugelt. Mit seiner Suche stiess es eine weitere Umnutzung in Zürich-West an. Die Entscheidungen fielen innerhalb weniger Jahre, welche Orte das Quartier langfristig hochkulturell prägen sollten. Gleichzeitig verschafften Zwischennutzungen und Übergangslösungen der Denkmalpflege Zeit, stillgelegte industrielle Konglomerate zu kartieren und diese aus der historischen Perspektive lesen zu lernen. Aus Abbruchobjekten wurden wertvolle historische Zeitzeugen einer Ära, die innerhalb zweier Jahrzehnte Vergangenheit geworden war.12
Am Eingang der Schiffbauhalle erinnert eine in den Industrieboden eingelassene Bronzeplatte an die Grundsteinlegung 1997. Das Zeug zum Signature Building hatte der Schiffbau – doch erst das Wettbewerbsprojekt von Ortner & Ortner aus Wien verlieh dem Vorhaben internationale Ausstrahlung. Für einmal machten nicht die aufstrebenden jüngeren Büros der hiesigen Architekturszene das Geschäft unter sich aus.
Die kurzen Laufzeiten dieser komplexen Transformationsprojekte sind heute unvorstellbar. Schon 2000 konnte der Schiffbau unter dem neuen Intendanten Christoph Marthaler und der Bühnenbildnerin Anna Viebrock in die erste Spielzeit gehen.13 Durch die schlichte Metalltüre gelangte man nicht mehr in eine Werkstatt, sondern in ein urbanes Foyer, das die Dimension der Halle spüren lässt. Kaum vorstellbar, dass in diesem Raum bis 1914 riesige Raddampfer gebaut wurden. Spuren industrieller Arbeit eines ganzen Jahrhunderts überlagern sich mit den Einbauten aus Sichtbeton und Glas, Sitzmöbel aus Leder schmiegen sich um eiserne Stützen und weisse Tischdecken warten unter der Kranbahn auf Gäste. Wo früher der Nietturm half, Schiffsrümpfe zu vernietet, verleiht plötzlich eine Bar über den Dächern dem Quartier grossstädtisches Flair.
Ergänzt wurde die Halle um einen Bühnenanbau und einen Block mit Eigentumswohnungen, Werkstätten und Büros. Öffentlicher Raum entstand an Stellen, die bis vor Kurzem Teil einer hermetisch abgeriegelten Produktionsstätte waren. Die gesamtstädtische Kultureinrichtung lenkte den Imagewandel, wo gerade noch die Drogenszene bis an die Hardbrücke präsent war. Anfänglich umgeben von Brachen, entstand 2003 hinter dem Schiffbau mit dem Turbinenplatz ein erster Platzraum im Quartier.
Auch scheinbar unbedeutende Änderungen wie das Gastgewerbegesetz von 1998 trugen zur städtischen Dynamik in den Transformationsgebieten bei: Durch Ausschankerleichterung und längere Öffnungszeiten lösten Pioniergastronomien halblegale Bars ab, die seit den 1980er Jahren florierten. Sie trugen zur spezifischen Zürich-West-Stimmung bei, die sich aus einem lebendigen Mix von Nutzungen in stillgelegten Fabriken und Neubauten nährte. Mit steigender Attraktivität des Quartiers geriet das neu gewonnene Lebensgefühl unter Druck, Investoren rangen mit Ansässigen um die Räume der Industrie. So auch, als Anfang 2000 die Swiss Life Property mit der Sprengung des Fabrikschlots symbolisch die etablierte Zwischennutzung auf dem Steinfels-Areal und eine zweimonatige Besetzung durch die linksautonome Szene beendete.14
Widerstand gegen Verdrängung gehört zur Transformationsgeschichte und zeigt, dass gelingende Stadtentwicklung Aushandlung braucht. Im Fall der «Nagelhäuser» gelang dies genauso wenig wie bisher bei den Maag-Hallen. Auch das Les Halles gäbe es in Zürich-West längst nicht mehr, hätte nicht die Hamasil-Stiftung das Haus gekauft, mit dem Ziel, den Status quo zu erhalten. Der Wert von Freiräumen und Zwischennutzungen für die so wichtige Belebung des Quartiers ist längst bekannt. In ihnen lebt der Geist der 1990er Jahre bis heute auf inspirierende Weise fort, um Formen einer wünschenswerten Urbanität immer wieder neu zu befragen – frei nach Ursula Koch: Zürich-West ist gebaut. Es geht darum, es um- und weiterzubauen.
1 Dario Willi, «Zukunftstraum Technopark: Zürich und die Deindustrialisierung», in: Anna Baumann, Monika Dommann, Anne Christine Schindler (Hg.), Was ist neu an der New Economy? Eine Spurensuche. Æther 04, Zürich 2021.
2 Andreas Valda, «Wo das Brachland dämmert», in: Benedikt Loderer et al. (Hg.): Die nicht mehr gebrauchte Schweiz, Sonderheft von Hochparterre und Cash 1996, S. 9 – 17.
3 Alois Diethelm, «Herr Tropeano, wie haben Sie das gemacht?», in: Wie haben Sie das gemacht? Gespräche über Architektur. Zürich 2009, S. 63.
4 Wie Anm. 3, S. 61 – 70.
5 Ursula Koch, Bauen in Zürich zwischen Utopie und Resignation, Vortrag vom 16.03.1988 anlässlich der SIA-Hauptversammlung Zürich.
6 Vgl. Regula Iseli, Philippe Koch, Simon Mühlebach, Zürich lebenswert umbauen, Zürich 2025.
7 Vorschriften zum privaten Gestaltungsplan Steinfels-Areal, 28. September 1988 mit Änderungen vom 20. November 1996.
8 Videobeitrag «Opposition gegen Steinfelsareal Überbauung» aus Schweiz aktuell am 6.4.1998. Abgerufen am 17.9.2025 auf www.srf.ch/play/tv.
9 Gespräch mit Pieter van der Meer, 24.9.2025.
10 Gespräch mit Andreas Fuhrimann, 19.9.2025.
11 «Das suchende Prinzip. Gespräch zwischen Bernhard Mendes Bürgi und Philipp Kaiser», in: Bernhard Mendes Bürgi. Ausstellungen 1982 – 2016, Zürich 2025, S. 119 – 134.
12 Vgl. Theresia Gürtler Berger, «Das INSA im Alltag der praktischen Denkmalpflege – ein Härtetest», in: Kunst + Architektur in der Schweiz, Heft 3, 2005, S. 53.
13 https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/umbau-der-schiffbauhalle-es-pressiert?urn=urn:srf:video:ff29b7c1-40e0-41da-9abd-6b2f104e5da3, abgerufen am 17.09.2025.
14 https://art.squat.net/glacegarten/index.html, abgerufen am 29.09.2025.