Artikel aus 12–2024

«Ich interessiere mich für eine Architektur mit zeitlosen Werten»

Orte erschaffen anstatt Bauten entwerfen

Víctor López Cotelo im Gespräch mit Lucia Gratz und Jasmin Kunst

Wie es eine Haltung zum Leben braucht, braucht es eine zur Architektur. Víctor López Cotelo entwickelte diese während seiner langen Berufskarriere. Nach einem mehrstündigen Gespräch in seinem Büro in Madrid fassen wir zusammen. Mit fünf Fragen werfen wir Schlaglichter auf Lebensweg, Positionen und Projekte.

wbw Wir haben mehrere Ihrer Bauten besucht und trafen Räume an, die sehr selbstverständlich wirkten. Was treibt Sie an in der Architektur, woran glauben Sie?

Víctor López Cotelo Lassen Sie mich mit einer Metapher beginnen: Ich vergleiche die Arbeit des Architekten oft mit einer Antenne, die Wellen empfängt und aussendet. Niemand sieht oder spürt sie, doch transportieren sie wichtige Informationen, damit wir etwa ein Konzert im Fernsehen geniessen können. Für mich ist der Einfluss und ein Wesensbestandteil von Architektur wie diese Wellen: etwas, was da ist und grosse Bedeutung für uns hat, aber in seiner Präsenz unbestimmt bleibt. Architektur ist ein Rahmen, in dem sich die Menschen in ihren eigenen grundlegenden Emotionen angeregt fühlen sollen. Sie soll nicht verändern oder erziehen, sondern eine angenehme, würdevolle Umgebung erzeugen. Was Architekturschaffende machen, soll selbstverständlich wirken, wenn es gebaut ist. In Wirklichkeit ist der Prozess bis zur endgültigen Form sehr aufwendig, weil viele Aspekte berücksichtigt werden müssen wie die Einpassung in die Landschaft oder die Auseinandersetzung mit dem Ort und mit vorhandenen Strukturen. Architektur wird nicht willkürlich geboren, wie auch Sonnenblumen nicht in der Wüste wachsen. Wenn ein Gebäude die Intelligenz birgt, nach der es gebaut wurde, und jedes Gramm davon Gefühl hat, entsteht eine rationale und zugleich eine emotionale Architektur. An dieser Mischung erkennt man, dass sie dazu gemacht ist, den Menschen zu dienen.

Es ist verrückt, wenn man bedenkt, dass alle Menschen und auch wir als Architekturschaffende viel mehr Erfahrungen aus unserem Alltag haben, als wir aktiv nutzen. Wir tragen sie in uns, doch unterschätzen wir sie oft: wie hoch eine Brüstung sein soll für den Blick nach draussen oder wie das Geländer für die Bewegung beim Treppensteigen geformt ist – es braucht dafür diese eigenen Erfahrungen, um gute Architektur für andere zu machen; Architektur ist eng mit dem Leben verbunden.

wbw Alejandro de la Sota war für Sie Lehrer und Freund, in seinem Büro waren Sie sieben Jahre als Architekt tätig. Was konnten Sie aus dieser Zeit für Ihr Architektenleben mitnehmen?

VLC Die Eindrücke, die ich aus der Zeit bei de la Sota mitgenommen habe, wirken eher indirekt weiter. Doch hat mich beeindruckt, dass er immer befreit und unvoreingenommen auf eine Aufgabe zugegangen ist und sofort das Potenzial erkannte, das am Ort bereits vorhanden war. Die Bedeutung des Ortes begleitet mich immer schon bei meinen Projekten. Ich verstand, dass ein Haus zu bauen mehr ist, als es zu bauen. Mich hat Le Corbusiers Haus für seine Mutter am Genfersee fasziniert. Er hat nicht ein Haus gebaut, sondern für die Welt seiner Mutter Orte geschaffen, so etwa den Sitzplatz am Fenster in der Mauer mit Blick auf den See. Wenn man ein Projekt macht, muss es zu einem Ort werden, damit die Funktion zu einem Ort wird und umgekehrt. Es ist die Architektur, die dem neuen Gebäude seine Existenzberechtigung gibt. Diese entsteht auf der Grundlage der natürlichen Zugehörigkeit zum Ort. Als ich in Galicien von meinem Bauherrn, dem Investor José Otero Pombo, den Auftrag für Puente Sarela bekam, sah ich den dichten, dunklen Wald auf der anderen Seite des Tals, ich lauschte dem Wind – es war diese wunderbare Landschaft, die mich beeindruckte. Ich wusste: was immer ich hier mache, diese Wahrnehmung des Ortes hat viel Kraft und muss deshalb auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Auch einzelne Elemente des Bestands wurden zu Dreh- und Angelpunkten, um Sarela zu entwickeln. Wichtig an der Architektur ist, dass sie auf einen bestimmten Ort und ein bestimmtes Programm reagieren kann, das nicht willkürlich entsteht. Ich interessiere mich für eine Architektur mit zeitlosen Werten – sie muss, auch wenn sie klar im Heute entstanden ist, so wirken, als wäre sie schon immer da gewesen. Darin liegt Schönheit.

wbw Seit Ihrer Mitarbeit im Büro Behnisch & Partner Anfang der 1970er Jahre sind Sie mit München verbunden. Später waren Sie Professor an der Technischen Universität. Was gaben Sie Ihren Studierenden dort mit auf den Weg?

VLC Ich ging nach München, kaum hatte ich mein Architekturstudium in Madrid abgeschlossen. Es war damals einer der interessantesten Orte, wo man als junger Architekt sein konnte. Im Büro Behnisch wurden gerade die Projekte für die Olympiade von 1972 geplant und ausgeführt. Ich blieb zwei Jahre und lernte neben der deutschen Sprache auch die Planungskultur kennen und konnte Kontakte zu Kollegen knüpfen. Natürlich hätte ich nie gedacht, dass ich einmal an der Universität dort unterrichten werde.

Als Professor habe ich mit den Studierenden nicht über meine Projekte gesprochen. Mir ging es darum, dass sie nicht meine Bauten nachmachen, sondern ihren eigenen Weg finden, eine Haltung zu ihrer Arbeit erlernen und sich inspirieren lassen. Das war auch immer der erste Schritt im Entwurf, eine Idee zur Essenz des Ortes zu entwickeln. Damit meine ich nicht, eine rationale Analyse zu erstellen, sondern eine Annäherung mit den Sinnen, Beobachtungen zu machen. Es geht um eine Stimmung, um eine Begebenheit, in der plötzlich etwas immer Gültiges durchscheint, das einen Gedankengang auslöst, der im besten Fall einen Impuls für den Entwurf gibt. Studierenden empfehle ich immer, authentisch zu sein, in dem was sie tun, und beharrlich zu bleiben, damit sie sich nicht unterkriegen oder entmutigen lassen. Und wenn sie ihren Weg dort nicht finden, wo sie gerade sind, dann rate ich ihnen: Gehen Sie raus, suchen Sie woanders danach.

wbw Sie wurden 2015 für den Umbau der Architekturschule in Granada mit dem Spanischen Architekturpreis ausgezeichnet und hatten 15 Jahre lang den Lehrstuhl für Entwurf und Denkmalpflege inne. Wie gelangten Sie zum Bauen im Bestand und nach welchen Grundsätzen handeln Sie, wenn Sie umbauen?

VLC Zuerst muss ich sagen, dass ich in meiner Arbeit keinen Unterschied mache zwischen Umbauen und Bauen. Ich handle immer gleich. Das war schon bei meinem ersten Kontakt mit einem historischen Bauwerk so, einer kleinen Kirche in Rejas de San Esteban zwei Autostunden nördlich von Madrid. Das war 1981.

Während der Franco-Zeit haben sich viele Dörfer entleert, die Menschen zogen in die grossen Städte. Es blieben kulturell wertvolle Bauten zurück, um die sich niemand mehr kümmerte. Ein staatliches Programm zur Stärkung der ländlichen Regionen sah vor, historische Bauten vor dem Verfall zu bewahren. Ich erhielt den Auftrag, diese kleine romanische Kirche zu retten und ihr ein neues Leben zu geben. Akribisch schichteten die Handwerker das Sichtmauerwerk teils neu auf und öffneten ein lange verschlossenes schmales, kleines Fenster in der Apsis, durch das wieder spärliches Licht in den kargen Innenraum gelangte. Das eingestürzte Dach liess ich durch einen einfachen hölzernen Dachstuhl ersetzen. Der introvertierte romanische Raum wurde so wieder erlebbar. Mir ging es nicht darum, mich als Architekt in dieser Arbeit sichtbar zu machen. Ich habe mich hier wie auch sonst wie die «Antenne» verhalten, die im Hintergrund wirkt und lenkt, und so den Menschen eine gute Erfahrung mit diesem Raum ermöglicht.

Dabei bin ich auch später geblieben. Mir fiel mehr und mehr auf: Die treibende Kraft auch hinter meinen Interventionen im Bestand ist die zeitliche Dimension, die sich in drei Teile gliedert: Den historischen, der Ort und Vorhandenes umfasst, wie Bäume, Gebäude oder die Topografie. Die Gegenwart, das sind meine Eingriffe, die neuen Gebäude. Und der dritte Teil ist die erlebte Zeit, die diese den Menschen bringen, die dort wohnen oder arbeiten. Architektur muss in der Lage sein, Zeit zu dehnen, sie muss den Menschen das Gefühl einer intensiv erlebten Zeit geben.

Wissen Sie, vor allem wenn man sich mit Orten befasst, die viel Geschichte und gelebte Zeit in sich tragen, erfährt man, dass das Leben von Generation zu Generation einfach immer weitergeht. Als Architekt arbeite ich dafür, eine Umgebung zu schaffen, die den Alltag unterstützt und schöner macht. Ich nehme das Beispiel der Treppen: Es soll sich nicht mühevoll anfühlen, diese zu ersteigen. Gelingt es, sie zu unterteilen oder auch nur die erste Stufe als Podest zu gestalten, wird sie bereits kürzer und wirkt weniger hoch und beschwerlich. Das ist auch als Aufforderung gedacht, sich den Raum mit Freude anzueignen. Nehmen wir die Architekturschule in Granada. Der Gebäudekomplex reicht in nasridische Zeit zurück, war ein Kloster, später wurde er zum Militärspital umgebaut und erweitert. Er liegt in einem ärmeren, sehr dichten Teil der Altstadt. Eines der Ziele war, mit der Vergangenheit zu leben, was nicht bedeutet, sie zu musealisieren. Ich versuchte mit minimalen Eingriffen die neue Nutzung zu ermöglichen, die zeitlichen und historischen Wurzeln wahrzunehmen und in die Gegenwart zu übersetzen. Schauen Sie – wenn ich sage, dass es für mich keinen Unterschied macht, ob Bauen oder Umbauen, dann deshalb, weil der Umgang mit der zeitlichen Dimension immer gleich wichtig ist.

wbw Viele Ihrer Bauten wirken ambivalent: Man erkennt rationale Prinzipien, gleichzeitig eine Art evolutionärer Entwicklung. Wie wird daraus eine Einheit?

VLC Architekten denken viel über die räumliche Dimension nach, über die Form, die der Raum annehmen soll. Andererseits denken wir vielleicht zu wenig über die zeitliche Dimension dessen nach, was wir bauen, oder darüber, wie wir mit den zeitlichen Eigenschaften des Gebauten in Einklang kommen können, ohne plakativ zu werden. Dazu kommt, dass es eine Ordnung in Bezug zum Ganzen braucht.

Ich vergleiche es mit Eisenspänen, die sich im Magnetfeld wie von Geisterhand ausrichten und verteilen. Das heisst, all die kleinen Einzelteile gehorchen einem Gesetz. Das soll auch in der Architektur so sein, dass ein übergeordnetes Verständnis die Arbeit an einem Projekt begleitet. Im Wohnprojekt Vaquería Carme de Abaixo in Santiago etwa gab es Ruinen einer früheren landwirtschaftlichen Nutzung, den Fluss, einen Hügel. Wir formten das Territorium allmählich, ohne dass es aufhörte, Land zu sein, und gleichzeitig anfing, Stadt zu werden. Wir verdichteten das Gebaute, fügten neue Konstruktionen hinzu. Es entstand ein neues Wohngebäude, das sich in die Topografie, in die Mauerstrukturen integrierte und viel grösser ist als der frühere Kuhstall daneben. Es gelang aber nur, weil seine architektonische Präsenz kein Wohnhaus ist, sondern weil sich seine Funktion hinter einer Stimmung verbirgt, die diese gleichmässige, rationale Fassade eher wie eine Stützmauer erscheinen lässt. All diese Dinge zusammen: Massstab, Licht, Dimension, Ordnung, Materialität, Atmosphäre … machen im Prozess deutlich, dass man nicht im luftleeren Raum bauen kann, oder anders ausgedrückt, dass dieser Raum so dicht ist, dass er die Architektin oder den Architekten so sehr vereinnahmt, dass das, was man tut, unvermeidlich erscheint.

Der argentinische Dichter Juan Gelman sagte einmal, die Poesie sei wie ein Baum ohne Blätter, der Schatten spendet. Das lässt sich auch von Architektur sagen. Sie ist auch ein Baum ohne Blätter, der Schatten spendet. Das ist nicht logisch, aber genau das macht Architektur aus, dass ihr wirkliches Wesen in einem Widerspruch liegt.

Víctor López Cotelo (*1947, Madrid) wurde an der Escuela Técnica Superior de Arquitectura de Madrid ETSAM zum Architekten ausgebildet. Nach seinem Abschluss 1969 arbeitete er zwei Jahre bei Behnisch & Partner in München an den Bauten für die Olympiade. 1972 kehrte er nach Madrid zurück und begann im Büro von Alejandro de la Sota (1913–96) eine siebenjährige Mitarbeit, bei dem er davor in Madrid studiert hatte. Ab 1978 führte López Cotelo zusammen mit Carlos Puente Fernández ein eigenes Büro, das er seit 1990 alleine und in projektbezogenen Partnerschaften weiterführt.

Sein Werk war 2008 im Spanischen Pavillon an der Biennale in Venedig ausgestellt, es wurde vielfach ausgezeichnet, so etwa mit dem premio de Arquitectura Española (2015) oder der Medalla de Oro de la Arquitectura (2016). Er begann seine Lehrtätigkeit an der ETSAM, wo er 1983 – 86 unterrichtete. 1993 hatte López Cotelo eine Gastprofessur an der Technische Universität München inne, drei Jahre später übernahm er dort die Professur für Entwerfen und Denkmalpflege, die er bis zu seiner Emeritierung 2012 führte. Er ist Mitglied der Sektion Baukunst der Akademie Berlin und korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. López Cotelo lebt in Madrid und ist praktizierender Architekt.

Ausgewählte Literatur
Barbeito Díez, José Manuel, «Víctor López Cotelo y Carlos Puente», in: Arquitectura (n. 258), 1986, S. 67–89.
Juan García Millán, «Entre lo moderno y lo vernáculo», in: Arquitectura COAM 335, Madrid 2004, S. 2–3.
Víctor López Cotelo, «Aulas y Seminarios de la Universidad, Sevilla», in: Manuel Gallego, Alejandro de la Sota. Seis testimonios, Barcelona 2008.
Víctor López Cotelo, «Vivienda unifamiliar en Puente Sarela, Santiago de Compostela», in: TECTÓNICA 27, Madrid 2008, S. 28–53.
«Víctor López Cotelo», in: El Croquis 148: Experimentos Colectivos, Madrid 2009, S. 20–65.
«Dense Void», in: Luis Feduchi, Spanish architects abroad, Berlin 2011, S. 55–73.
«Centro de Formación Profesional, Santiago de Compostela», in: Arquitectura Viva 203–204, Madrid 2018, S. 162–169.
Stephen Bates, Bruno Krucker, «Conversation with Victor López Cotelo», in: From the Room to the City, Zürich 2023, S. 146–159.

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