Dominik Bachmann hat in Heft 1/2–2016 darauf aufmerksam gemacht, dass die Praxis zur Einhaltung der Lärm-Imissionsgrenzwerte vor Bundesgericht einen schweren Stand haben dürfte. Mittlerweile hat das Gericht gemäss Pressemitteilung am 16. März 2016 entschieden1. Das Urteil wird die Spielräume im Wohnungsbau einschränken.
Die legalistische Auslegung ruft unter Architekten Wiederspruch hervor. Raphael Frei, Partner bei pool Architekten in Zürich fordert, dass der Einsatz für die Qualität des Lebensraums ganzheitlich und nicht zuletzt politisch erfolgen muss.
Lärmschutzvorschriften sind für Architekten mehr und mehr zu einem wesentlich projektbestimmenden Faktor geworden. Die regional geltende Lüftungsfenster-Praxis schuf einen geringen, aber willkommenen Spielraum. Der nun vorliegende Bundesgerichtsentscheid räumt mit diesen Erleichterungen auf und zwingt die Kantone zu einer bedeutend schärferen Auslegung. Die Notwendigkeit von Lärmschutzmassnahmen wird kaum jemand bestreiten – insbesondere nicht, wer wie der Verfasser dieses Textes selbst an einem belasteten Standort wohnt. Im zeitgenössischen Wohnungsbau werden ruhige Lagen zunehmend zu einer Seltenheit. Es ist jetzt unumgänglich, praxisorientierte Lösungen zu erarbeiten, die an der richtigen Stelle schützen und dennoch genügend Gestaltungsraum lassen. Über ein geschicktes Grundrisslayout, die Verformung des Gebäudeumrisses und raffinierte Schnittlösungen stehen dem Architektenpotente Entwurfswerkzeuge zur Milderung von Lärmimmissionen zur Verfügung. Jedoch sind diesen auch Grenzen gesetzt. Kleinwohnungen eignen sich hervorragend für eine einseitige Lüftung, selbst im ungünstigeren Fall, wenn Lärm- und Sonnenseite zusammenfallen. Wird ein differenziertes Angebot an Grundrisstypen und Wohnungsgrössen angestrebt, so schränkt der Bundesgerichtsentscheid das Spektrum an Lösungsmöglichkeiten jedoch empfindlich ein.
Für die Behaglichkeit in Wohnräumen ist nicht ausschliesslich die Lärmimmission massgebend. Die Ausrichtung zur Sonne und die Qualität der Ausblicke aus den Haupträumen sind ebenso wichtig – und selbstverständlich sollen Fenster öffenbar sein, um Kontakt aufnehmen zu können. Menschen wollen ihren jeweiligen Aktivitäten entsprechend wählen können, welcher Einwirkung sie sich aussetzen. Sie wollen nicht bis ins Private hinein zu normierten Lebensstilen gezwungen werden.
Je strenger Normen ausgelegt werden, umso kleiner wird das zur Verfügung stehende typologische Instrumentarium. Die bisherige Lüftungsfensterpraxis erlaubte Wohnräume mit öffenbaren Fenstern zur Strasse, falls es auch lärmabgewandte Fenster auf der seitlichen oder rückwärtigen Fassade gibt. Diese Handhabung ermöglichte ein relativ breites Spektrum an Gebäudetypen, mit denen auf ortsübliche Siedlungsstrukturen reagiert werden konnte.
In Kernstädten und ihrer Peripherie schafft eine geschlossene Bauweise auf effiziente Weise ruhige Innenhöfe. Gerade aber im Kontext ländlicher, durchlässiger Siedlungsstrukturen wird ein breites Spektrum an Bautypen nicht mehr zugelassen werden können. Die Konsequenz ist eine Homogenisierung der Siedlungen, was kaum vereinbar ist mit einer städtebaulichen Tradition, die auf einer Dramaturgie durch Differenz und eine einprägsame baukulturelle Identität setzt.
Stellen wir uns Städte und Dörfer mit konsequent lärmabgewandter Bauweise vor: Gebäude, deren Fassaden zum öffentlichen Raum durch strassenseitig orientierte Nebenräume zu Rückseiten werden. Badezimmer, Küchen und Treppenhäuser oder Laubengänge zeigen kaum mehr das Wohnen dahinter. Man kann den so gezeigten Ausdruck ohne weiteres als unfreundlich, indifferent, eben abweisend bezeichnen. Die Auswirkungen auf die Identität der öffentlichen Räume, welche diese Geste des Wegschauens bewirkt, sind dramatisch.
Es darf nicht alleine die Pflicht der Grundeigentümer sein, Massnahmen gegen Lärm zu ergreifen. In einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ist die Neuverhandlung darüber notwendig, auf welcher Seite welche Investition getätigt werden soll. Vom Bundesamt für Raumentwicklung ARE werden hierzu klare Aussagen gemacht: «Die Siedlungsentwicklung nach innen und das Verkehrsverhalten stehen in enger Wechselwirkung und bedingen sich gegenseitig. Für die Umsetzung einer nachhaltigen Mobilität mit reduziertem Verkehrsaufkommen werden Planerinnen und Planer, Bauherrschaften und Verwaltungen mit verschiedenen Instrumenten für das Mobilitätsmanagement unterstützt [...]».2 Lärm ist keine unverrückbare Konstante. Das Bundesamt für Umwelt BAFU nennt auf seiner Website vier konkrete Massnahmen, die an der Lärmquelle ansetzen. Eine Reduktion der Geschwindigkeit von 50 auf 30 km/h vermindert das Reifen-Fahrbahngeräusch und wird als Halbierung der Verkehrsmenge wahrgenommen. Der Einsatz lärmarmer Strassenbeläge und leiser Reifen ist ebenso wirksam. Weiter wird die Förderung eines lärmbewussten Fahrverhaltens empfohlen. Das BAFU schätzt das Potenzial der Massnahmen zur Reduktion von Strassenlärm auf sechs bis acht Dezibel. Das bedeutet, dass bei einem flächendeckenden und konsequenten Einsatz dieser Massnahmen etwa 70 Prozent der Menschen, die heute an einem Ort mit Grenzwertüberschreitungen wohnen, vor schädlichem oder lästigem Strassenlärm geschützt werden könnten.3
Der Bundesgerichtsentscheid zur Lüftungsfenster-Praxis will explizit den Druck auf die Strasseneigentümer erhöhen, die Streckenabschnitte, die übermässig Lärm verursachen, zu sanieren, wozu sie durch das Umweltschutzgesetz und die Lärmschutzverordnung verpflichtet sind. Es ist zu erwarten, dass dies am politischen Widerstand scheitern wird und die doppelte Last von Lärm und Kosten bei den Grundeigentümern hängen bleibt.
Die Strategieziele des ARE, welche die Siedlungsentwicklung betreffen, sind präzise und zukunftsweisend. Sie besagen, dass das Bevölkerungs- und Arbeitsplatzwachstum sich auf bereits besiedelte Gebiete zu konzentrieren habe. Letztere sollen sich durch hohe Lebens- und Umweltqualität, Sicherheit und Baukultur auszeichnen. Dazu sei eine Koordination zwischen der Raumentwicklung und den verschiedenen Verkehrsträgern erforderlich.4
Der Zusammenhang zwischen den politischen Zielen der Verdichtung und dem Verkehrsaufkommen liegt auf der Hand. Dass auf Bundesebene der qualitativen vor der quantitativen Entwicklung explizit Priorität eingeräumt wird, ist bemerkenswert. Um Lösungsansätze zu erhalten, wäre der Bund bereit, «innovative Projekte» zu unterstützen. Man muss sich nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, um festzustellen, dass die heute geltenden, nicht aufeinander abgestimmten Normen und Empfehlungen dem Erreichen dieser Ziele im Weg stehen. Um auf das Thema Lärm zurückzukommen: Umweltschutzgesetz und Lärmschutzverordnung sind Richtschnur für bundesgerichtliche Entscheide. Städtebauliche oder architektonische Gutachten fehlten aber bei der Urteilserwägung. Mit der jetzt vom Bundesgericht aufgehobenen Lüftungsfensterpraxis wird nur vordergründig eine Klärung erreicht und kein verlässlicher, sachbezogener Interpretationsspielraum für die Planungspraxis festgelegt. Der Verweis auf die weiterhin bestehende Möglichkeit von Ausnahmebewilligungen vergrössert die Abhängigkeit von Personen an Schlüsselpositionen der öffentlichen Verwaltungen und führt auf Seiten der privaten und planenden Akteure zu einer Rechtsunsicherheit. Lärmbelastete Grundstücke mit über die Bau- und Zonenordnung festgelegtem Mindestwohnanteil werden faktisch mit einer Baubeschränkung belegt. Zu erwarten sind verzögerte Erneuerungszyklen eines Altbaubestands, der die Bewohner schlecht schützt.
Normen und Vorschriften teilen die Komplexität der Welt in handhabbare und vermeintlich lösbare Teilprobleme. Sie vermögen jedoch kaum einem Anspruch auf Ganzheitlichkeit gerecht zu werden. Eine angemessene Auslegung der Gesetze mit dem Ziel einer lebenswert gestalteten Umwelt kann nur in enger Zusammenarbeit zwischen Ämtern und Planern erfolgen. Spielräume sind wichtig auf der Suche nach der besten Lösung. Das Beharren auf einer buchstabengetreuen Auslegungen der Gesetze und die Suche nach dem rekurssicheren Bauentscheid verhindern kreatives Denken bei allen Beteiligten. Lucius Burckhardt schrieb 1980 im Essay Design ist unsichtbar,6 dass durch zu eng gesetzte Systemgrenzen gestaltete Objekte nur Teillösungen einer Aufgabe sein könnten. Aus diesem Vorgehen resultiere ein fataler Kreislauf aus neuen Folgeproblemen und wiederum fragmentarischen Lösungsansätzen, bei denen das Bewusstsein für die wechselseitige Beeinflussung von Systemen fehle. Er fordert die Einflussnahme der Gestalternden bereits bei der Fragestellung und nicht erst bei der Lösungsfindung.
Zusammenfassend und verallgemeindernd lassen sich aus oben genannten Ausführungen vier ineinandergreifende Forderungen für den Umgang mit Normen und Gesetzen formulieren:
1. Bewohner sollen nicht durch Lärmschutzverordnungen und deren Auslegung daran gehindert werden, Wohnräume ihrem individuellen Lebensstil folgend zu nutzen.
2. Architektinnen und Architekten müssen den Widersprüchen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen entgegentreten, sich für die Fortschreibung der Baukultur einsetzen und über Verbände und Kommissionen aktiv an der Verbesserung von Vorschriften mitarbeiten.
3. Ämter sollen bei der Auslegung der Gesetze das Augenmass wahren und zwischen den Fachgebieten koordinierte statt praxisferner Forderungen durchsetzen.
4. Die Politik hat den Strategiezielen des Bundes folgend dafür zu sorgen, dass die Koordination zwischen Verkehrsinfrastruktur und Raumentwicklung vollzogen und eine lebendige Baukultur gefördert wird.
1 Zur Zeit der Drucklegung dieses Hefts ist der Entscheid noch nicht publiziert.
2 Bundesamt für Raumentwicklung ARE, Strategie Nachhaltige Entwicklung 2016 – 19.
3 Bundesamt für Umwelt BAFU, Massnahmen gegen Strassenlärm, Stand 10.3.2015.
4 Wie Anm. 2. Lucius Burckhardt, Design ist unsichtbar (1980), in: Silvan Blumenthal, Martin Schmitz (Hg.), Design ist unsichtbar, Berlin 2012, S. 13–25.