Eine Gemeinde im Zürcher Weinland geriet durch den Ausbau ihrer Infrastruktur unter Wachstumszwang. Mithilfe eines Wettbewerbs und einer städtischen Wohnbaugenossenschaft kam sie zu einem neuen Stück Dorf mit ausgeprägtem Wir-Gefühl.
In Ossingen ist der Bancomat ein richtiges kleines Haus mit Betonsockel, Sparrendach und Regenrinne. Und die Geschichte, die Gemeindepräsident Martin Günthardt im gleich neben dem Bancomathaus gelegenen Gemeindehaus erzählt, bestätigt den ersten Eindruck: In dem malerischen Dorf im Zürcher Weinland mit seinen prachtvollen Riegelhäusern macht man die Dinge gründlich und korrekt. Eine Mentalität, durch die Ossingen erst vor wenigen Jahren in eine tiefe Krise geriet und nun in einer beinahe kitschigen Wendung auch ihr Glück fand.
Am Anfang stand eine Fehleinschätzung. Die Behörden der 1300-Seelen-Gemeinde erwarteten Ende des vergangenen Jahrhunderts eine jährliche Bevölkerungszunahme von 2 Prozent, die das Dorf innert kurzer Zeit auf rund 1800 Einwohner hätte wachsen lassen. Um mit dem erwarteten Zustrom Schritt zu halten, steckte Ossingen ab 2000 rund 12 Millionen Franken in seine Infrastruktur, baute die Wasserversorgung aus und die Abwasserreinigungsanlage neu und weihte 2007 ein neues Schulhaus mit Turnhalle ein (Götz Partner Architekten). Aber da zählte die Gemeinde immer noch kaum mehr als 1300 Einwohner. Und sie bezahlte eine hohe Rechnung für ihre überdimensionierte Infrastruktur. Als Martin Günthardt 2010 das Gemeindepräsidium übernahm, hatten die Ossinger mit 5000 Franken pro Kopf die zweithöchste Verschuldung im Kanton Zürich und mit 129 Prozent einen der höchsten Steuerfüsse. Günthardt schrieb damals von einer «existenzbedrohenden» Lage.
Das schlichte Auftreten des SVP-Politikers könnte einen leicht darüber hinwegtäuschen, dass er sehr systematisch und zielstrebig an der Wende zum Guten gearbeitet hat. Angefangen hat er mit einer Standortbestimmung und der Erstellung eines Leitbilds für die Gemeinde. Dessen Kernaussage: Ja, wir können und wollen moderat wachsen. Aber wir müssen dafür Wohnraum schaffen. Insbesondere brauchte Ossingen Mietwohnungen, denn ohne diese hatten junge Leute, die gerne geblieben wären, keine Möglichkeit, dort zu wohnen.
Die Gemeinde schied die einzigen beiden unüberbauten Areale innerhalb des Siedlungsgebiets als neue Bauzonen aus und richtete auf diesen rund drei Hektaren ihre ersten W3-Zonen ein. Um sicherzustellen, dass in den neuen Bauzonen keine Einfamilienhäuser entstehen, sondern Wohnraum für möglichst viele neue Einwohner, entschied sich die Gemeinde für eine Gestaltungsplanpflicht, schrieb für die Erstbebauung einen Mietwohnungsanteil von einem Drittel vor und für das Areal Orenberg die Durchführung eines Wettbewerbs.
Letzteres war eine bewusste Entscheidung für Baukultur, auch wenn es Günthardt nicht so ausdrückt. Das Grundstück liegt nahe dem ISOS-geschützten Ortskern und direkt neben der Schulanlage. Günthardt: «Wir wollten etwas, das in unsere Gemeinde passt. Denn wir müssen Sorge tragen zu dem, was wir haben». Dank dem Wettbewerb kam Ossingen zu einem neuen Dorfteil von hoher räumlicher und architektonischer Qualität. Und auch gleich zu einem Käufer für die erste Etappe auf dem Areal Orenberg. Die Landeigentümer wünschten sich eine Baugenossenschaft als Käufer. Unter mehreren angefragten Bauträgern entschied sich schliesslich nur die Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Winterthur (GWG) für das Risiko, im Dorf zu bauen. Philipp Brunnschweiler, der federführende Architekt des Siegerbüros BDE Architekten, wirkt im Vorstand dieser Genossenschaft mit.
Das Projekt, mit dem BDE Architekten 2013 den eingeladenen Wettbewerb gewannen, hob sich nicht nur durch die geschickte Setzung seiner kompakten Baukörper von den vier Konkurrenten ab, sondern auch dadurch, dass es als einziges Giebeldächer vorschlug. Umgesetzt wurde nun in der ersten von zwei möglichen Etappen auf dem Grundstück Orenberg das entschiedene Vorhaben der Architekten, ein neues Stück Dorf zu schaffen.
Man betritt es wie durch ein Eingangstor zwischen zwei Baukörpern längs der Strasse und gelangt an einem Brunnen vorbei in einen sich zum Bahndamm hin leicht weitenden Binnenraum, der sich je nach Blickpunkt mehr wie eine Gasse oder wie ein Hof anfühlt. Die sechs Gebäude treten abwechslungsweise als Holzhäuser und als Steinhäuser in Erscheinung, die zueinander stets leicht versetzt und abgewinkelt sind. Es gibt Dichte und Nähe ebenso wie Weite und Ausblicke in die Landschaft, eine spannungsvolle räumliche und typologische Vielfalt, wie sie die Architekten in ihren Analysen der Strukturen Ossingens vorgefunden haben. Mit dem Unterschied, dass dieses Stück Dorf nicht gewachsen, sondern auf grüner Wiese inszeniert ist.
Der Künstlichkeit begegnen die Architekten unverkrampft und spielerisch. Es geht in ihrer Architektur nicht um Authentizität, sondern darum, unter Verwendung räumlicher Prinzipien des Dorfs und mit Rückbezügen auf historische Bauformen und Handwerkstraditionen einen Ort mit eigener Identität zu schaffen. So gibt es in den Holzhäusern auch Backsteinwände und Betondecken. Die vorgelagerten Holzlauben und die weit ausladende Dachkonstruktion beschwören jedoch nicht bloss das Bild einer Scheune herauf, sondern zelebrieren – unter Ausnutzung der neuen Brandschutzvorschriften – bis ins Detail die Zimmermannskunst traditioneller ländlicher Bauten. Bei den dreigeschossigen Gebäuden, die mit ihren Treppengiebeln an herrschaftliche Häuser der Gegend erinnern, spielen die Architekten lustvoll mit Zierelementen wie etwa den Metallplatten, die wie Scheitelsteine in der Mitte der zurückgesetzten Fensterstürze prangen, tatsächlich aber nur Abdeckungen für Belüftungsöffnungen sind.
Die 61 Wohnungen bieten eine grosse Vielfalt an Typen vom Reihenhaus über Maisonette- zu Etagenwohnungen. Darin finden sich viele liebevoll gestaltete Details und teils spektakuläre räumliche Qualitäten, etwa in den Reihenhauseinheiten mit ihren vertikalen Erschliessungen zwischen den Brandwänden. Da und dort musste die Funktion aber Abstriche machen, um der Form zu folgen, etwa wo die über Gauben belichteten und mittels Niveausprüngen bestmöglich unter das Schrägdach eingepassten Wohnungen zur Herausforderung für die Möblierung werden. Bemerkenswert sind auch die sehr kleinen Frühstücksbalkone in den «Herrenhäusern», die sich zugunsten der Architektur über die Gesetze des Markts hinwegsetzen. Die Siedlung im Orenberg entspricht bezüglich Grösse und Komfort der Wohnungen zwar dem Standard, den eine Kundschaft erwartet, die «aufs Land» zieht. Sie folgt in ihrer Konzeption aber dem Geist städtischer Genossenschaftssiedlungen: Im Zentrum steht nicht das Private, sondern das Gemeinschaftliche.
Die Gemeinde und die Grundbesitzer haben das Projekt von BDE nicht zuletzt deshalb gewählt, weil es mit seiner starken sozialen Mitte, mit den Laubengängen der «Holzhäuser» und den repräsentativen Hauseingängen der Steinhäuser sowie den Gemeinschaftsgärten neben den Wohnbauten Öffentlichkeit und ein Wir-Gefühl erzeugt. Und die GWG ist die ideale Trägerschaft, um diese Kultur quasi zurück ins Dorf zu bringen: Wohnbaugenossenschaften wie sie haben in den vergangenen Jahren in ihren städtischen Siedlungen an dörfliches Zusammenleben angelehnte Formen der nachbarschaftlichen Organisation und Solidarität entwickelt und gefördert. Jüngst etwa in der bemerkenswerten Siedlung Flarzett (Staufer & Hasler, 2017) der GWG im Winterthurer Vorort Elsau (mehr dazu folgt in wbw 1/2–2019).
Dass die Heimkehr des Dörflichen nach Ossingen heute von allen Seiten als Glücksfall beschrieben wird, war kein Selbstläufer. Es gab Skepsis in der konservativen Gemeinde gegenüber der Genossenschaft, sie könnte unpassende Einwohner oder gar Sozialfälle ins Dorf bringen. Und die Bezugnahme der Architektur auf lokale Bauformen sorgte keineswegs automatisch für Akzeptanz bei den Leuten (was auch nicht die Motivation der Architekten war), sondern auch für Irritation. Dem Bild einer neuen Siedlung auf dem Land entspricht heute eben viel eher, was private Investoren auf dem anderen neu eingezonten Gebiet mit der Überbauung Neuwies realisiert haben: generische Wohnkisten im Minergie-Standard, riesige Loggien auf den Sonnenseiten der Gebäude, hierarchielose Grünräume dazwischen. Die Gemeinde wie die Genossenschaft betrieben einigen Kommunikationsaufwand, um die breite Akzeptanz für die Siedlung Orenberg aufzubauen, die sie heute geniesst.
Der Glücksfall Ossingen ist freilich nicht ohne weiteres übertragbar, denn der Ort hat zwei entscheidende Standortvorteile: die S-Bahn, die Pendler (ab dem Jahreswechsel) im Halbstundentakt mit Winterthur und Zürich verbindet, und eine Schule mit Primar- und Sekundarstufe. Nicht zuletzt dank diesen Faktoren ist die Rechnung voll aufgegangen. Die Siedlung findet eine Nachfrage unter der lokalen Bevölkerung, und sie lockt Menschen aus dem weiteren Umkreis nach Ossingen: Ein Siebtel der Mieter ist aus der engeren Umgebung (5 Kilometer) zugezogen, zwei Drittel aus einem Umkreis von 15 Kilometern, der die Städte Winterthur, Schaffhausen und Frauenfeld einschliesst. Die Genossenschaft, die mit einer Vollvermietung nach rund zwei Jahren rechnete, hatte nach neun Monaten nur noch acht freie Wohnungen. Und die Gemeinde konnte mit den Grundstückgewinnsteuern aus den beiden neuen Bauzonen ihre Schulden abzahlen. Ihr Steuerfuss liegt inzwischen bei 111 Prozent, Tendenz sinkend. Denn die Gemeinde erhält aus dem kantonalen Ressourcenausgleich für jeden Einwohner Geld – und dank der neuen Wohnungen hat sie nun schon über 1600.
Demnächst sollen die Weichen für die zweite Etappe am Orenberg gestellt werden, mit der Ossingen dann nahezu ausgewachsen sein wird. Vielleicht ist bis dann auch das Storchennest bezogen, das in der neuen Siedlung eingerichtet wurde? Das wäre dann schon fast ein bisschen kitschig.