Das Pariser Büro Joly & Loiret will den Lehmbau mit einem ehrgeizigen Produktionskonzept und einem Pilotprojekt des sozialen Wohnungsbaus in den grossstädtischen Massstab führen. Die Verwendung des Bodens als Baustoff soll nicht nur einen ökologischen Kreislauf schliessen, sondern auch helfen, das dramatische Deponieproblem der Stadt zu lösen.
Lehmbau ist in Frankreich ein brisantes Thema. Nachdem das Pariser Architekturbüro Joly & Loiret im Herbst 2016 im Pavillon de l’arsenal die Ausstellung Terres de Paris (Pariser Erde), kuratiert hat – wofür es in Zusammenarbeit mit Martin Rauch ein utopisch anmutendes Projekt eines Hochhauses in Stampflehm erarbeitet hatte1 – ging es Schlag auf Schlag: Ein gewonnener Wettbewerb für ein Wohnbauensemble aus Lehmziegeln mit Wang Shu; und nun arbeiten Joly & Loiret an der Planung einer Lehmfabrik am Stadtrand von Paris, um die Pariser Aushuberde in Baumaterial umzuwandeln.
Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Planung und Praxis war bereits das Thema der Ausstellung, mit dem Ziel, durch die Wiederverwertung der Erde einen ökologischen Kreislauf zu schliessen und die Graue Energie (die Summe aller investierten Energien, beginnend bei der Materialproduktion, über Transport und Montage bis hin zur Entsorgung) möglichst gering zu halten. In diesem Sinn ist Lehm wesentlich besser als gebrannte Ziegel, weil die Brennenergie wegfällt; lange Transportwege können meistens vermieden werden. Die Wiederverwertung der Erde verbessert auch das Problem der Lagerung und Entsorgung des Aushubmaterials.
Wie kann nun Lehm so eingesetzt werden, dass er auch den ökonomischen Anforderungen entspricht? Diese für eine grossmassstäbliche Verwendung ausschlaggebende Frage wurde zum Motor einer tiefgreifenden Studie, an der Forschungslaboratorien und öffentliche Organismen beteiligt sind.2
Eine Studie der französischen Kommission für Nachhaltigkeit3 hat aufgezeigt, dass die Lagerung des Aushubmaterials für die geplanten Bauarbeiten in der Île-de-France (Paris mitsamt seiner Vororte) ein grosses Problem darstellt: Allein mit der neuen Metrolinie des Grand Paris Express, die die Vororte kreisförmig verbinden wird, fallen 45 Millionen Tonnen Aushuberde an, für die ganze Île-de-France werden bis 2026 etwa 400 Millionen Tonnen erwartet4 – auf einen riesigen Haufen zusammengeschüttet ergäbe das einen Kegel zweimal so hoch und breit wie der Eiffelturm. Um diesen ganzen Aushub auf Lastwagen abzutransportieren, bräuchte es etwa 28 Millionen Fahrten oder 6'600 jeden Tag. Diese Zahlen alarmieren die Stadtplaner, aber auch die Bevölkerung.
Lagerung, Transport, Aufbereitung und Entsorgung dieses Aushubmaterials verursacht nicht nur bedeutende ökologische Probleme, sondern auch wirtschaftliche in Milliardenhöhe. Dazu kommt, dass die Lagerplätze in der Region Île-de-France immer teurer werden aufgrund des Ansteigens der Preise für Grundstücke (meist ehemaliges Agrarland), die durch die neue Vororte-Linie als Bauland interessant werden. Im Jahr 2025 werden nur mehr fünf Millionen Tonnen Erde gelagert werden können, die dafür nötigen Terrains sind immer schwieriger zu finden.
Die grösste Herausforderung besteht in der Wiederverwertung, die bisher nur in geringem Mass erfolgt: Im Jahr 2010 haben die Trassierungsarbeiten für Strassen und öffentliche Transportmittel sowie die Aushubarbeiten für Neubauten in der Île-de-France 18 Millionen Tonnen inerte Erde verursacht (wobei die verschmutzte Erde nicht mitgerechnet ist). Davon wurden nur 20 bis 30 Prozent wiederverwertet, meist im Strassenbau.5 Durch die Grösse der geplanten Bauvorhaben in den nächsten zehn Jahren rückt die Notwendigkeit der Wiederverwertung in den Vordergrund. Probebohrungen entlang der geplanten Metro-Vororte-Linie haben ergeben, dass die Erde je nach geografischer Lage und Tiefe einen hohen Lehmanteil aufweist, der sich gut für das Bauen eignet.
Während 2010 nur 800'000 Tonnen Erde wiederverwertet wurden, sollen es im Jahr 2026 fünf Millionen Tonnen sein. Dieses ambitionierte Ziel ist zwar erst ein kleiner Schritt angesichts der 400 Millionen Tonnen Erde, aber eine grosse Chance für die Entwicklung einer grossmassstäblichen Anwendung von Lehmbau.
Das Projekt Cycle terre, das von der regionalen Organisation Paris Aménagement, der Stadt Sevran, dem universitären Forschungslaboratorium CRAterre der ENSA Grenoble (das seit den 1970er Jahren im Lehmbau aktiv ist) sowie Joly & Loiret getragen wird, gewann 2017 die europäische Ausschreibung Urban Innovative Actions (eine Initiative der Europäischen Kommission). Der Fonds für Regionale Entwicklung der EU stellt für die Entwicklung des Projekts 4,8 Millionen Euro zur Verfügung, wodurch 80 Prozent des ambitionierten Projekts finanziert werden können. Der erste Prototyp einer Lehmfabrik in der Region wird in Sevran geplant, einer kleinen Pariser Vorstadt mit einem engagierten kommunistischen Bürgermeister, der mit dem Projekt sowohl gegen die hohe Arbeitslosigkeit ankämpfen, als auch qualitativen Wohnraum schaffen will.
Joly & Loiret konzipieren eine Fabrik (oder Lehm-Manufaktur, wie Emmanuel Loiret sie nennt), die 15'000 bis 25'000 Tonnen Erde pro Jahr in Baumaterial umwandeln soll. Für eine Wohnung braucht man etwa 100 Tonnen Erde, wenn fast alle Wände aus Lehm angefertigt werden; somit können 150 bis 250 Wohnungen pro Jahr gebaut werden. Die Produktion könnte bei voller Auslastung (Schichtbetrieb inklusive Wochenende) aber verdreifacht werden. Die Fabrik ist als Grundstein einer weiteren Entwicklung gedacht – Erde gibt es ja mehr als genug.6
Interessant ist auch der offene Ansatz: Die Erfahrungen, die bei der Einrichtung der ersten Musterfabrik und der Lehmproduktion gemacht werden, sollen als Open Source zur Verfügung gestellt werden, um das Entstehen weiterer Produktionsstätten zu erleichtern. Lernen und Teilen ist Bestandteil des Projekts Zyklus Erde, in der Fabrik werden Schulungen für Bauarbeiter angeboten wie auch Workshops für Architekturschaffende, Studierende, Schulen und interessierte Bürger und Bürgerinnen. Das Prinzip dieser Produktentwicklung beruht nicht auf kommerziellen Interessen, sondern auf Forschung, Pädagogik und Diffusion. Die Stadt Sevran ist Eigentümerin der Fabrik; sie soll maximal ein bis drei Prozent Gewinn machen – gerade so viel, um das Funktionieren der Fabrik zu sichern. Aufbau und Entwicklungsphase werden drei Jahre dauern, eineinhalb Jahre sind eingeplant für die Planung und den Bau der Fabrik und noch einmal so lange für die Entwicklung der Lehmprodukte, inklusive aller statischen und baubehördlichen Tests.
In der Fabrik sollen verschiedene Produkte hergestellt werden: nichtgebrannte Lehmziegel (die schneller und kostengünstiger verbaut werden können als Stampflehm), Lehmputz und Lehminnenwände. Letztere testen Joly & Loiret derzeit in einem Schulbauprojekt. Wenn im Jahr 2026 fünf Millionen Tonnen Erde verwertet werden sollen, müsste es 20 solche Lehmfabriken geben. Mehrere tausend Wohnungen könnten pro Jahr gebaut werden, was 5 Prozent des benötigten Wohnraums in der Île-de-France entspricht. Sobald eine Stadt ihren Wohnbedarf befriedigt hat, kann die Fabrik abgebaut und anderswo wieder aufgebaut werden. Diese Mobilität ist Teil der Planung der Fabrik, sie werde daher wahrscheinlich aus Holz gebaut, erläutert Loiret.
Das erste grosse Lehmbauprojekt der Île-de-France wird 2020–2030 von Joly & Loiret in Zusammenarbeit mit Wang Shu in Ivry gebaut werden, ein 65'000 m2 grosses Wohnensemble mit einem hohen Anteil Sozialwohnungen. Auf dem Grundstück befindet sich eine obsolete Wasseraufbereitungsanlage, die teilweise wiederverwendet wird; das 250 Meter lange Infrastrukturgebäude wird mittels einer leichten Holzkonstruktion zweigeschossig aufgestockt, sodass ein langes, im Erdgeschoss poröses Band entsteht. Es umfasst zweiseitig eine aufgelockerte, viergeschossige Blockrandbebauung, «Dorf» genannt und durchwoben von Fussgängerwegen, Plätzen und grünen Höfen, die als Wasserbecken dienen können, denn das Grundstück liegt in der Hochwasserzone. Aus diesem Grund stehen auch alle Gebäude entweder auf Stützen oder sind im Erdgeschoss aus Beton. In den drei darüber liegenden Geschossen, deren Tragstruktur aus Betonstützen und -decken besteht, werden die Produkte der Lehmfabrik erstmals zum Einsatz kommen: Die Aussen- und Innenwände sind aus nicht gebrannten Lehmziegeln gemacht (extrudiert oder gepresst, das wird vorher in der Fabrik getestet), die Zwischenwände aus Lehmleichtbaupaneelen (anstatt Rigipsplatten), und Lehmputz soll überall eingesetzt werden.
Um die Kosten zu optimieren, arbeiten die Architekten für deren Schätzung und die Ausschreibung mit dem Ökonomen von Lacaton & Vassal zusammen, der sich auf günstiges Bauen spezialisiert hat. Ziel ist, mit dem üblichen Budget eines sozialen Wohnbaus schrittzuhalten, welches in Frankreich im Vergleich zur Schweiz sehr niedrig ist. In zwei Jahren, wenn die Fabrik die ersten Produkte erzeugt hat, wird ein Prototyp der Lehmsiedlung errichtet.
Durch den Lehmbau möchten Joly & Loiret die Architektur «in den Kontext einschreiben», so Emmanuel Loiret, der zu diesem Thema eine Doktorarbeit begonnen hat. Er versteht darunter nicht nur das unmittelbare, gebaute Umfeld, sondern eine komplexe Verflechtung multipler Faktoren, zu denen die Materialität, die Energie, die Anlieferung und die Orientierung gehören, aber auch die Nutzung und das soziale Umfeld sowie wirtschaftliche Faktoren. Wenn Kontext mit dem Ziel, nachhaltig zu bauen, in so umfassendem Sinn definiert wird, ist es nur konsequent, auch den eigenen Aktionsrahmen sehr weit zu stecken. Durch die Ausstellung und ihre Lehmprojekte, die einer Fabrik bedürfen, um umgesetzt zu werden, haben Joly & Loiret einen Schneeball ins Rollen gebracht, der potenziell noch stark anwachsen kann.
Susanne Stacher (1969) ist Architektin und Architekturkritikerin in Paris und Korrespondentin von werk, bauen + wohnen.
1 In Zusammenarbeit mit der ökologischen Baufirma Amaco.
2 ANTEA Group (geologische Fachplaner), 5 Forschungslabors (IFFSTAR, CRAterre et AE & CC LabEx ENSAG, Amàco und Sciences Po Paris), Joly & Loiret, QUARTUS (Immobilieninvestor).
3 Auszug aus dem Bericht der Kommission für Nachhaltigkeit und Regionalplanung, Nationalversammlung vom 24.3.2015.
4 Laut Auswertung der Zahlen des Plan régional de prévention et de gestion des déchets issus des chantiers du bâtiment et des travaux publics sind es 25 Mt / Jahr bis 2019, 35 Mt / Jahr bis 2026.
5 wie Anm. 4.
6 Es könnten theoretisch 500 bis 1000 solche Fabriken gebaut werden, um die gesamte Aushuberde der Île-de-France zu verwerten, vorausgesetzt, dass deren Eigenschaften dies erlauben.