Die Zwischenstadt birgt ungehobene Schätze

Planung in der urbanen Stadtlandschaft

Thomas Sieverts im Gespräch mit Stefan Kurath
Peter Liedtke (Bilder)

Die IBA Emscherpark legte 1989–99 die Landschaft des Ruhrgebiets unter den Trümmern der Schwerindustrie wieder frei. Der Fotograf Peter Liedtke dokumentiert seither den Wandel im Ruhrgebiet.Im Bild: Aussichtsplattform auf der Halde Emscherblick bei
Bottrop

Thomas Sieverts gehört zu den profiliertesten deutschsprachigen Hochschullehrern für Architektur und Städtebau der Nachkriegszeit. Seine Arbeit über das Phänomen der heutigen Stadtlandschaften und ihrer Qualifizierung hat ihn weltweit bekannt gemacht. Mit Stefan Kurath hält er Rückblick und Ausschau.

Stefan Kurath 1997 haben Sie mit Ihrem Buch Zwischenstadt den Blick auf die urbanisierte Landschaft zwischen den Zentren gelenkt und verändert.1 Wie sind Sie zum Thema gekommen?

Thomas Sieverts Die TU Darmstadt, an der ich Professor für Städtebau war, hat mich 1989 beurlaubt für die Tätigkeit als wissenschaftlicher Direktor der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park. Zusammen mit Karl Ganser, Walter Siebel und Peter Zlonicky habe ich die IBA mitkonzipiert und geleitet. Diese Erfahrung war ausschlaggebend für die Beschäftigung mit den diffusen Bebauungsstrukturen im Ruhrgebiet. Nach der IBA ergab sich die Gelegenheit, für ein Jahr als Fellow am Wissenschaftskollegium in Berlin tätig zu sein. Da habe ich über die «Zwischenstadt» geschrieben.

Kurath Als eine Art Erfahrungsbericht?

Sieverts Ja, es war ein Aufarbeiten der Erfahrungen. Ein anderer Antrieb war freilich auch der damals sehr populär werdende New Urbanism in der Planung, der in Berlin unter anderem von Hans Stimmann sehr stark vertreten wurde. Gegen diese restaurative Tendenz wollte ich etwas setzen.

Kurath Waren Sie über das Thema im Austausch mit anderen Kollegen?

Sieverts Der Austausch kam eigentlich erst, nachdem ich das Buch veröffentlicht hatte. Bernardo Secchi, der über die Città diffusa geschrieben hatte, lud mich nach Venedig ein.2 Auch François Ascher, ein französischer Stadtsoziologe, Autor von Métapolis ou l’avenir des villes, meldete sich.3 Wir hatten vorher keinen Kontakt. Danach ziemlich viel.

Kurath Im Vorwort zu einer späteren Auflage von Zwischenstadt schreiben sie: «Um von vornherein einem Missverständnis vorzubeugen: Dieser Versuch ist kein Plädoyer für die Zersiedelung […].» Weshalb haben Sie diesen Satz so formuliert?

Sieverts Das wurde mir ständig entgegengehalten. Wenn man sich mit etwas beschäftigt, dann muss man auch ein gewisses Interesse dafür aufbringen. Mein Antrieb war, da möglichst ohne Vorurteile hinzugehen und zu sehen, was in diesen Gebieten an Emotion und Herzblut steckt – auch wenn sich das Engagement in der Summe betrachtet als problematisch auswirkt. Aber meine Intention war es ja, die Zwischenstadt zu qualifizieren – und keineswegs die Reproduktion des Vorgefundenen.

Kurath Zu mir hat einmal jemand gesagt: Es würde keinen Sinn machen, etwas zu erforschen, das es nicht geben darf.

Sieverts Es gibt immer noch militante Gegner dieser Form von Stadt, die auch nicht zugänglich sind für irgendwelche Argumente. Ein eigenartiges Beispiel etwa ist der Synthesebericht zum Nationalfondsprojekt Neue urbane Qualität von Jürg Sulzer, der einen Stadtumbau der Agglomeration durch raumbildenden Städtebau fordert.4

Kurath Woher kommt der unerschütterliche Glaube an die «richtige» Stadt? Ist das eine Flucht vor der Realität, weil man sich nicht mit dem Alltag beschäftigen will?

Sieverts Ich bin aufgewachsen als Antitraditionalist. Nach dem Krieg war das nichts Besonderes. Doch es gab in Deutschland immer auch diese traditionalistische Linie, weit über die Nazizeit hinaus. Ich glaube, dass viele unserer Kollegen durch ihre Begeisterung für historische Strukturen überhaupt erst zum Architekturstudium gekommen sind.

Kurath Als Zwischenstadt erschienen war, war ich im Studium. Rem Koolhaas mit S, M, L, XL 5 und Ihre Zwischenstadt waren prägend. Die beiden Bücher eröffneten affirmativ-kritische Perspektiven, welche – wie Sie in Zwischenstadt geschrieben haben – die Landschaft als eigentliches Bindeelement thematisieren. Diese Thematik scheint jetzt mit etwas Verzögerungin der Schweiz angekommen zu sein. Unter anderem hat das Studio Basel der ETH Zürich ein Buch dazu veröffentlicht.6

Sieverts Dass sich so eine so hochkarätige Professorenschaft dieses Themas annimmt, hat dem Diskurs gutgetan, nicht?

Kurath Es gab im August 2018 gerade erst den ersten Schweizer Landschaftskongress in Luzern. Das Thema ist jetzt gesetzt. Eigenartig scheint mir jedoch die mitgelieferte Argumentation. Irgendwie herrscht die seltsame Vorstellung vor, dass im nicht-bebauten Raum weniger Widerstand zu erwarten wäre und Planung entsprechend grössere Wirkungsmacht zu entfalten vermag.

Sieverts Das ist eine Flucht vor der Realität. Aber immerhin. Ich sehe doch einen Meilenstein in den erfolgreichen Schweizer Volksabstimmungen über die Begrenzung der Siedlungsflächen. Ich finde es bedeutend, dass sich ein Volksmehr dafür entscheidet, die Bauzonen einzufrieren. Mir scheint doch einiges auf die richtige Schiene gebracht zu sein, wenn ich Wilhelm Natrup, den Kantonsplaner von Zürich, erzählen höre: wie er die Gemeinden nun berät, wie man damit umgeht, wie man das Gesetz fantasievoll anwenden kann.

Kurath Es gibt natürlich interessante Impulse. Es gibt aber auch die Gegenbewegung, die alles daran setzt, die Umsetzung aufzuweichen. Es gibt immer Wege, um Entscheide und Bestimmungen zu umgehen. Meine Erkenntnis aus meiner Forschungsarbeit war, dass die Planer zu passiv sind.7

Sieverts An Ihrer Arbeit fand ich genau das aufregend: wie Sie aufzeigten, dass städtebauliche Festlegungen im Lauf der Realisierung praktisch vergessen werden oder in der Praxis zu weit in den Hintergrund rücken. Wenn man diese Erkenntnis ernst nähme, müsste das eine ziemlich umwälzende Wirkung auf die gegenwärtige Orthodoxie der Raumplanung haben.

Der Fluss Emscher, einst ein Abwasserkanal, durch die IBA rehabilitiert und als Flussraum erlebbar gemacht.
Bild: Peter Liedtke

Kurath Sie haben in Zwischenstadt eine Verwaltungsreform auf regionaler Ebene gefordert, weil die Strukturen noch aus den 1960er und 70er Jahren stammen. In der Schweiz sind die Verwaltungsstrukturen sogar seit dem frühen 19. Jahrhundert fast gleich geblieben. Dabei ist eigentlich klar, dass sie nicht mehr dem funktionalen Alltag entsprechen. Warum denken Sie, ist es schwierig, das zu ändern?

Sieverts Es scheinen das Beharrungsvermögen und die Traditionen der Gemeinden übermächtig zu sein. Aber wenn wir schon eine Gemeindehoheit haben, dann könnten die Gemeinden doch von sich aus viel mehr experimentieren. Wenn man Gemeinden dazu bringen könnte, eigene Wege zu gehen, wäre plötzlich sehr viel möglich. Auch für das Ganze.

Kurath Im ländlichen Raum, wo eine gewisse Not herrscht, gibt es innovative Bewegungen. Im Bregenzerwald zum Beispiel, oder in Vrin mit dem Architekten Gion A. Caminada.

Sieverts Ja, das finde ich ein politisch interessantes Gebiet. Weil da begabten, kreativen Leuten eine Chance eingeräumt wird, etwas Besonderes zu machen. Wie auch Luigi Snozzi in Monte Carasso: Da hat jemand, Kraft der Persönlichkeit, über Jahrzehnte hinweg einen Ort geprägt. Wir brauchen also nicht weiter generalisierende, sondern endlich massgeschneiderte Lösungen.

Industrieruinen als Teil des Landschaftsparks Duisburg-Nord
Bild: Peter Liedtke

Kurath Beispielhaft ist vielleicht auch Lausanne Ouest. Eine zu hohe Luftbelastung führte im Jahr 2000 zu einem Baustopp für acht Gemeinden. Diese mussten sich zusammenraufen und sich auf einen regionalen Richtplan einigen. Pierre Feddersen war da massgeblich beteiligt. Das Resultat erachte ich als sehr innovativ; es wurde ein Büro eingerichtet, welches die Umsetzung des Richtplans Lausanne Ouest begleitet. Ariane Widmer war 15 Jahre lang die prägende Figur, überall im Alltag dabei, in Kontakt mit den Grundeigentümern und der Politik.

Sieverts In der gegenwärtigen Zeit brauchen wir Experimentier- und Ausnahmeräume, in denen bestimmte Themen gesetzt und bestimmte Regeln abgemildert oder ausser Kraft gesetzt werden. Eine Einheitsplanung, die über alles gelegt wird – dieser Einheitsbrei an Legenden und Festlegungen, die nahtlos ineinander greifen und nur Papier bleiben – muss überwunden werden. Die Planung braucht wieder ein dynamisches Element, wo Konkurrenz entsteht und die Möglichkeit, andere Wege einfach mal aufzuzeigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es nicht darauf ankommt, die Verwaltungsabläufe zu perfektionieren oder die Rechtssprechung wasserdicht zu machen. Es kommt im Gegenteil darauf an, überall Freiräume aufzureissen. Da ist die IBA Emscher Park eben ein grossartiges Instrument gewesen. Da haben wir einiges ausprobiert.

Kurath Kann man sagen, dass im Ruhrgebiet die Not dafür gross genug war?

Sieverts Ja. Eklatant war vor allen Dingen, dass die normale Wirtschaftsförderung ans Ende geraten war. Mit mehr Geld ging nicht mehr. Das war die grosse Leistung von Karl Ganser, dem Geschäftsführer der IBA, der sagte, dass wir an die ökologischen Grundlagen, an die Landschaft, ans Wasser heranmüssten, um die Voraussetzungen zu schaffen, damit aus dem Ruhrgebiet wieder was werden kann. Solange die Landschaft so kaputt sei, bekomme man keine Investitionen rein. Das war etwas Revolutionäres.

Am Rand von Herne, 2002. Bilder von Peter Liedtke aus dem Pixelprojekt Ruhrgebiet

Kurath Was beschäftigt Sie aktuell?

Sieverts Der Klimawandel und die Gefährdung der Artenvielfalt.

Kurath Was bedeutet dies auf der regionalplanerischen, städtebaulichen Ebene?

Sieverts Es bedeutet, dass der Verdichtung gewisse Grenzen gesetzt sind. So sind die Starkregenereignisse, wie wir sie in den letzten Jahren in Deutschland hatten, völlig unvorhersehbar. Sie sind wahrscheinlich ein Thema, das überall auftreten wird und worauf man sich vorbereiten muss: Wie bekommen wir das Wasser weg? Vermutlich geht das besser, wenn man nicht zu dicht baut. Man kann viel mit Dachbegrünungen und Rückhaltebecken lösen. Das sind neue Anforderungen, die gestellt werden und fantastisches Gestaltungspotenzial enthalten.

Kurath Das Grün der Zwischenstadt wäre im Zusammenhang mit der Klimakrise ein Vorteil.

Sieverts Natürlich. Ich meine, dass die Städte ohnehin wieder grün werden müssen. Sie sind ja heute schon viel artenreicher als die Flächen der Land- und Forstwirtschaft – weil sich die «Natur» in die Stadt zurückzieht. Wenn die Menschheit bis zum Ende des Jahrhunderts um weitere 50 Prozent wächst, dann müssen die Agrarreserven bis zum Letzten ausgenutzt werden. Städte werden dann zur Oase, zu einer Arche Noah der Artenvielfalt innerhalb der Agrarwüste. Wenn man den Doppelcharakter als Stadt und Oase in Zukunft akzeptiert, dann sind wir schnell beim Thema Stadtlandschaft und Zwischenstadt.

Am Rand von Herne, 2002. Bild von Peter Liedtke aus dem Pixelprojekt Ruhrgebiet

Kurath Ist die Zwischenstadt die nachhaltigere Stadt?

Sieverts Ich würde das nicht so sagen. Ich meine eher, dass die nachhaltige Stadt gewisse Landschaftselemente enthalten soll. Von daher ist die urbane Landschaft wahrscheinlich eine Form der Zukunft und nicht die extreme Verdichtung. Interessant wird es, wenn man darüber nachdenkt, wie hier Mobilität funktionieren könnte.

Kurath Zurzeit herrscht Konsens, dass nur die Verdichtung den richtigen Weg darstellt.

Sieverts Das ist einseitig. Wenn wir über die Qualifizierung der Zwischenstadt reden, dann muss man fragen, was sie zur Stadt sozial, kulturell und ökologisch beitragen kann. Da verbergen sich in der Zwischenstadt völlig ungehobene Schätze. Wenn man diese anspricht, muss sich die Zwischenstadt nicht immer nur verteidigen, sondern sie kann aktiv nachweisen, was sie als hochwertiger Lebensraum alles beiträgt. Aus diesem Stoff kann man begeisternde Bilder erzeugen.

Kurath Doch es braucht viel Überzeugungsarbeit.

Sieverts Ich erwarte ja immer noch, dass jüngere und intelligente Politiker das Thema von Stadt, Landschaft und Ökologie als relevant und karriereförderlich aufgreifen werden. In Deutschland gibt es keine Wohnungspolitik mehr, weil das Thema schon vor vielen Jahren dem Markt überlassen worden ist. Für einen jungen Politiker gab das nichts mehr her, um sich zu profilieren. Das ist jetzt anders. Doch leider ändert sich das Denken nicht so schnell, es ist noch keine neue Politikergeneration da, die das zu ihrem eigenen Programm macht. Ich versuche mit meinem Schreiben immer wieder klarzumachen, was für ein tolles politisches Thema das wäre.

Thomas Sieverts (1934) studierte Architektur und Städtebau und lehrte in Berlin, Harvard, Berkeley und Darmstadt. Er war Mitgründer der Freien Planungsgruppe Berlin (FPB). Von 1989 bis 1994 war er Wissenschaftlicher Direktor der IBA Emscher Park. Bis 2012 führte er ein freiberufliches Architektur- und Planungsbüro.

Stefan Kurath (1976) studierte in der Schweiz und den Niederlanden und promovierte in Hamburg. Er ist Professor für Architektur und Städtebau und leitet mit Regula Iseli das Institut Urban Landscape der ZHAW. Er arbeitet als Architekt und Urbanist in Zürich und Graubünden.

1 Thomas Sieverts, Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land (Bauwelt- Fundamente 118), Braunschweig 1997.
2 vgl. Francesco Indovina (Hg.) La città diffusa (Quaderno Daest» n. 1), IUAV, Venezia, 1990.
3 François Ascher, Métapolis ou ľavenir des villes, Paris 1995.
4 Jürg Sulzer, Martina Desax, Stadtwerdung der Agglomeration. Die Suche nach einer neuen urbanen Qualität (Programmsynthese, NFP 65), Zürich 2015
5 Rem Koolhaas, Bruce Mau, S,M,L,XL, New York 1995.
6 Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Marcel Meili, Roger Diener, Christian Schmid, ETH Studio Basel (Hg.), Die Schweiz, ein städtebauliches Porträt, Basel 2005.
7 Stefan Kurath, Stadtlandschaften entwerfen? Grenzen und Chancen der Planung im Spiegel der städtebaulichen Praxis, Bielefeld 2011

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