Museum als Stadtquartier

M9 – Museum des 20. Jahrhunderts in Mestre von Sauerbruch Hutton

Paolo Vitali, Jan Bitter (Bilder)

Mit der Verteilung des Raumprogramms auf zwei Gebäude liess sich das neue Museum in die alte Stadtstruktur von Mestre einflechten. Form und Farbe reagieren auf ihr Umfeld und zeigen die vitalisierende Wirkung des Stadtumbaus.

Das Aufsplitten in zwei Gebäude schafft
eine Passage durch den Stadtblock.
Bild: Jan Bitter

Mestre war immer schon der sprichwörtliche Gegensatz zu Venedig, seine kleinere Schwester: hart und wenig raffiniert. Gross geworden im Schatten der Serenissima, wuchs Mestre zum Vorposten der Industrie heran. Hier fand Venedigs Moderne statt, während die Inselstadt chronisch im Sterben lag. Lange Zeit unverstanden, ein unbeachtetes Anhängsel der Insel, wurde Mestre im 20. Jahrhundert zum Epizentrum eines radikalen Wandels und dramatischer Ereignisse. Es zahlte dafür einen hohen Preis.

Inzwischen ist Mestre zum rettenden Hafen für Venezianer auf der Flucht vor dem erstickenden Tourismus geworden und sucht nach einer (neuen) Identität. Mestre ist ein dynamisch wachsendes Agglomerat mit vielen Gegensätzen: Für die Entwickler bot Mestre den idealen Kontext für ein Museum mit dem Anspruch, ein Zentrum kultureller Produktion und ein lebendiges Labor zu werden.

Eine intellektuelle Utopie

Das M9 sollte aber nicht nur ein innovatives Museum des 20. Jahrhunderts werden, es ist zugleich der Schlüssel einer umfassenden städtebaulichen Strategie, eher ehrgeizige intellektuelle Utopie als ein Stadterneuerungsprogramm, sein Image als «Wissensfabrik» mehr Metapher als greifbare Architektur.

Die Operation M9 wurde 2007 am grünen Tisch geboren, um Mestre eine «herausragende kulturelle Bedeutung» zuzuerkennen. Die Rede war von einem «innovativen Modell der Stadterneuerung, das Architekturqualität und ein noch nie dagewesenes Kulturprojekt von nationaler Bedeutung zusammenschweisst». Es sollte einen Wandel in der Stadt auslösen und zugleich die (schon immer problematischen) Beziehungen zwischen Venedig und der Terra ferma neu definieren.

Neue Kulturinstitutionen als regionalpolitische Impulsgeber sind zahlreich, auch in Italien: Oft wird die Architektur dann mit übersteigerten Erwartungen überfrachtet oder aber zum Marketinginstrument degradiert. Dabei gerät ihr eigentlicher Auftrag, nämlich Raum zu gestalten, ins Hintertreffen.

Der Hauptakteur hinter dem Museum, die Fondazione di Venezia, ist eine privatrechtliche Stiftung, wenn auch mit institutionellem Auftreten. Kühn ist ihr Anspruch, in einem geteilten und engstirnigen Land wie Italien als massgebliche Institution aufzutreten, die in der Lage ist, eine gemeinsame kollektive Erinnerung an das 20. Jahrhundert zu erzählen.

Die eigentliche Stossrichtung des Projekts bezeugen jedoch die Worte des Präsidenten der Fondazione di Venezia, Giuliano Segre bei der Präsentation einer Publikation zum Projekt an der Biennale 2014: «Mit diesem kleinen Ziegelstein, nicht aus Lehm, sondern aus Papier, zeigt die Fondazione di Venezia, dass dieses Unternehmen seine Erfüllung letztlich nicht allein in einer architektonischen Struktur oder in einem gewagten städtebaulichen Entwurf findet, sondern in einem komplexen und vielschichtigen Forschungslabor.»1

Die hohen Ambitionen

Durch den doppelten Anspruch, als Museum ohne Sammlungsobjekte das Immaterielle auszustellen und zugleich die materielle Realität vor Ort, den Museumsbezirk, neu zu definieren, kommt das ganze Unternehmen in eine Schieflage. Das Narrativ oszilliert zwischen Materiellem und Immateriellem und zwischen Behälter und Inhalt. Die Architektur riskiert dabei, entweder von der Verantwortung, als alleiniger Protagonist für den guten Ausgang des Unternehmens gerade stehen zu müssen, erdrückt zu werden oder zum reinen Anhängsel einer Sache zu werden, die an anderer Stelle entschieden wird. Unter diesen schwierigen Voraussetzungen fanden Sauerbruch Hutton im Wettbewerb eine Strategie, welche die Autonomie der Form mit der sozialen Dimension in Einklang bringt, im Bewusstsein, dass die Architektur durch ihre Nutzung lebt, wie sie es nennen.2 Sie folgen der Idee der Stadtlandschaft, in der die Bauten zwar «spezielle, eigenständige Einheiten» sind, die sich aber «durch starke urbane Qualitäten auszeichnen und die Erzählung der Umgebung weiterführen».3

Auf der gestreckten Kaskadentreppe bleibt der Blick auf die neue stadträumliche Komposition selbst im Inneren des Museums präsent.
Bild: Jan Bitter

Das Museum in der Stadt

Das Museum liegt so problematisch wie auch strategisch günstig: ein Hektar Fläche in direkter Nachbarschaft zum Zentrum, auf der zwei seit langem leerstehende Gebäudekomplexe stehen, die ehemalige Matter-Kaserne und der Convento delle Grazie. Die Architekten binden dieses Areal in die Stadt ein und integrieren Bestands- und Neubauten. In einer Zeit, die Gesten, Ikonen und Hyper-Sichtbarkeit gewohnt ist, spielen Sauerbruch Hutton die Karte der leisen Töne, bedienen sich einer quasi mittelalterlichen Raumstruktur, setzen auf Nähe und eine schrittweise Entdeckung des Areals. Trotz der bunten Farben ist der Komplex das Gegenteil einer Landmark. Entlang der Seitengassen zeigt er sich fast nüchtern und offenbart sich schliesslich langsam, ganz ohne Arroganz, am Ende einer suggestiven Sequenz städtischer Innenräume. Die Aufmerksamkeit für das Umfeld ist Ergebnis eines interpretativen Ansatzes: der Kontext wird sprachlichrezeptiv gelesen (chromatische Abstimmung der Verkleidung / Farbpalette der Umgebung), vor allem aber relational erschlossen (Dialektik der Materialien – bunte Keramik / Beton – um den Fremdkörper-Effekt abzuschwächen und den Massstab des Gebäudes anzupassen / räumliche Durchlässigkeit Innen-Aussen).

Die Renovation und die Überdachung des Innenhofs im alten Convento delle Grazie lässt Besucher durch das gesamte Stadtquartier flanieren.
Bild: Jan Bitter

Der öffentliche Raum als Rückgrat

Die Dichte und Verteilung der einzelnen Elementeder polychromen Verkleidung – in der typischen Handschrift des Büros – erzeugt einen Effekt der Entmaterialisierung und Destabilisierung, der die skulptural auskragenden und rückspringenden Sichtbetonmassen kontrastiert und eine gewollte, raffinierte Ambiguität zwischen Zwei- und Dreidimensionalität Dreidimensionalität, zwischen Oberfläche und Volumen erzeugt, dabei aber die Gefahr einer Banalisierung der Oberfläche zur Dekoration zu vermeiden weiss. Eingangssituationen, Vor- und Rücksprünge sowie Oberlichter erlangen eine eigene Identität und werden zu Elementen der Vermittlung zwischen dem Innen und dem Aussen eines Baus, der zu atmen scheint: Er nimmt die Stadt auf und erstreckt sich in sie hinein.

Die Entscheidung, das Raumprogramm des Neubaus aufzusplitten, um es besser in den bestehenden Kontext einzufügen, unterschied das Siegerprojekt von allen anderen Beiträgen. Deren Umsetzung ist das Ergebnis einer Serie von städtebaulichen Anpassungen, die den öffentlichen Raum entlang einer Diagonalen lagern und so strukturieren, dass die Durchlässigkeit betont wird. Die Suche nach einem fliessenden Raum bestimmt auch die Anordnung der Funktionen, die eine Durchdringung von öffentlichem Raum und Gebäudeinnerem ermöglicht.

Kontextuell und expressiv

Der Neubau des M9 ist in zwei Volumen gegliedert (Verwaltung und Shop getrennt von den Ausstellungsräumen und dem Bistro), die sich auf eine Weise in das historische urbane Gefüge einpassen, die dem städtebaulichen Grundsatz des Büros folgen – «nimm das, was gegeben ist, und arbeite damit»:4 Es ist ein Dialog mit der Vergangenheit, der auf räumlichen Beziehungen, nicht auf der Form beruht. Dieser Ansatz der Stadterneuerung verweigert sich formalen und typologischen Vereinfachungen wie dem Reduktionismus einer «Kritischen Rekonstruktion» oder der Diktatur des Blockrands im Bewusstsein «der Diversität der Stadt, die sich im städtischen Raum niederschlägt und die Vielfalt der Nutzungen und Bewohner widerspiegelt».5

Die Wahl der Materialien und ihr strategischer Einsatz definieren klar die Hierarchie der Räume und unterstreichen den sinnlichen Charakter der Museumsarchitektur, indem sie ihre Oberflächen zum Träger und Reflektor des Tageslichts machen. Bodenbeläge, Verkleidungen und Zwischendecken tragen dazu bei, die Gliederung des Raums zu verdeutlichen. Der Stein – der sich ohne Unterbrechung vom Aussenbereich durch die gesamten Ausstellungsräume des Erdgeschosses erstreckt – steht für die Durchlässigkeit des Ortes und seine Zugehörigkeit zum öffentlichen Raum; die polychrome Verkleidung, die auf den abgeschrägten Volumina eine destabilisierende, atektonische und spielerische Wirkung entfaltet, zelebriert das Soziale; der Sichtbeton – der durch die Abdrücke der Schalungsbretter einen weicheren Charakter erhält –, betont die Fluidität der Innenräume; das Holz, das als Materialisierung der Deckenpaneele überall Anwendung findet, schafft eine fast schon häusliche Atmosphäre.

Präzise Hülle für ein wenig präzises Konzept

Die Art des Ausstellungsprogramms – ein Museum ohne Exponate – verlangt nach neutralen Ausstellungsräumen (black box, white box), das Ausstellungserlebnis ist an die multimedialen Installationen delegiert. Die Aufgabe der Architekten liegt darin, eine Art Kontrapunkt zu schaffen, um aus Räumen wie der Erschliessung sinnlich spürbare Orte zu machen, an denen eine Dimension der Wahrnehmung zum Tragen kommt, die an das Konkrete, das Tageslicht, die Haptik gebunden ist. Davon zeugen der Sichtbeton der Wände mit dem Abdruck der Schalungsbretter, das Holz des Handlaufs am grossen Treppenaufgang, dessen extravagantes Profil an Werke von Alvar Aalto erinnert, der Lichteinfall und die Oberlichter mit ihren verschiedenen Formen, der Bodenbelag sowie die Verkleidung mit ihrer Farbpalette.

Die Leistung Sauerbruch Huttons besteht darin, nicht ideologisch zu sein, dem kulturellen Auftrag keinen absoluten Wert beizumessen, die Besonderheit des Ortes zu durchdringen und sich nicht vom Umfang der Problematiken einschüchtern zu lassen: Zu diesen gehören die geografische Besonderheit der Lage auf dem Festland von Venedig und der konzeptuelle Ansatz, der offen lässt, ob die Idee oder das Gebäude den Vorrang besitzt. Nicht zuletzt erhielt die Architektur eine klar umrissene Rolle: massstäblich bleiben, Identität verleihen, Urbanität schaffen.

Paolo Vitali (1971) ist Architekt, Publizist und Forscher. Er lebt und arbeitet in Bergamo und ist seit 2012 Dozent am Polytechnikum Mailand.

1 Giuliano Segre, Vorwort, in: M9 Transforming the City, Marsilio, Venezia, 2014, S. 7.
2 Matthias Sauerbruch, Luisa Hutton, Distretto museale M9: concetti architettonici e urbani, in: M9 museo del 900, Marsilio, Venezia, 2018, S. 49.
3 Jürgen Tietz, Interazioni. Città e architettura nell’opera di Sauerbruch Hutton, in M9 Transforming the City, Marsilio, Venezia, 2014, S. 55.
4 Jürgen Tietz, S. 51.
5 Jürgen Tietz, S. 55.

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