Neualte Offenheit

Umbau Silo Erlenmatt von Harry Gugger Studio

Jenny Keller, Christian Kahl und Lukas Schwabenbauer (Bilder)

Am lärmbelasteten Rand der Erlenmatt in Basel wartet ein ehemaliges Silo auf sein Publikum. Im Erinnerungsspeicher soll man zusammenkommen, kreativ arbeiten, essen, trinken und übernachten.

Die Immobilien an der lärmbelasteten Auffahrt zur Autobahn entwickelte die Stiftung Habitat selbst. Die runden Fenster des Silos sind hier festverglast. Bild: Lukas Schwabenbauer

Auf dem ehemaligen Güterbahnhof der Deutschen Bahn in Basels Norden blieb zum Glück ein Silo stehen, das die Wehmut an den ehemals zwischengenutzten Ort etwas stillen mag. Sicher: Sich der Veränderung zu verschliessen, gegen Neuerungen anzukämpfen und einem Zustand der Vergangenheit nachzuhängen, ist gemäss Definition reaktionär. Kein Attribut, mit dem sich der aufgeklärte Mensch versehen möchte. Und trotzdem: Ist auch reaktionär, etwas Liebgewonnenes erhalten zu wollen, im Fall von städtischen Zwischennutzungen, wo Autonomie oder zumindest Freiheit auf Zeit gelebt wurde? Gibt es eine Alternative zur Reaktion oder gar eine alternative Reaktion? Wie dem auch sei.

Das Ende des Basler «nt-Areals» stand schon zu Beginn fest, und sein Veschwinden war Programm, das dem Namen eingeschrieben ist (nt steht für «non territorial»). 1998 schloss eine Gruppe von Künstlern mit Stadtplanern und der Deutschen Bahn einen befristeten Mietvertrag ab, um hier am nördlichen Ende von Basel die Verkehrsbrache frei zu nutzen, die später in ein neues Stadtquartier namens Erlenmatt transformiert werden sollte. Die Zwischennutzung verschaffte dem Gebiet eine kollektive Identität, sodass das neue Quartier nicht aus der Retorte erwachsen musste. Rund 12 Jahre lebte dieser Ort der Sehnsüchte, mit Sommerpartys und dem Sonntagsmarkt unter weitem, offenem Himmel.

Neualte Öffentlichkeit

Doch die Sehnsucht ist Geschichte. Die Erlenmatt erhielt zwar viel Lob für die programmierte Zwischennutzung und partizipative Planung, sie ist als städtebauliche Entwicklung freilich «nicht berauschend», wie es der Basler Emanuel Christ im Gespräch mit Lukas Gruntz auf architekturbasel.ch beschreibt – aber sie funktioniere. Insbesondere im nicht nur der Rendite untergeordneten Osten des Gebiets, wo die Stiftung Habitat mit verschiedenen Bauträgern ein durchmischtes und nachhaltiges Stadtquartier realisierte, funktioniert die Erlenmatt nicht nur architektonisch (vgl. wbw 6–2018 und wbw 4–2020), sondern auch für die Öffentlichkeit.

Vom Bestand des Güterbahnhofs blieb wenig erhalten: Das alte Betriebsgebäude nahm eine internationale Schule auf, und die ehemalige Kantine der Deutschen Bahn, die als Restaurant und Club unter dem Namen «Erlkönig» zwischengenutzt wurde, ist heute ein angepasster Quartiertreffpunkt. Die grosse Freifläche wurde mit dem herausgeputzten Erlenmattpark zwar erhalten, aber in ordentliche Bahnen gebracht. Als drittes erhaltenes Bestandsobjekt steht das Silo am lärmbelasteten östlichen Rand des Gebiets der Öffentlichkeit jetzt als Restaurant und Hostel offen – und wartet seit der Eröffnung 2020 darauf, richtig genutzt werden zu können.

Die Fassade zum Innenhof mit den aparten Korbmarkisen und geöffneten Fenstern. Der Innenhof wird von der Gastronomie und den Kindern der Umgebung bespielt.
Bild: Christian Kahl

Als erstes Zeichen der neualten Offenheit schauen runde Gucklöcher, von blauen Markisen flankiert, auffordernd zum Hof. Einige Betonstufen führen zum ehemaligen Speicher. Das Restaurant bildet mit seiner Decke aus hängenden Pyramiden – es handelt sich um die ehemaligen Siloauslässe – den Auftakt zu einer Raumabfolge, die man so nur aus dem Bestand entwickeln konnte.

Erinnerungsspeicher

Seit den 1980er Jahren ist das Silo nicht mehr in Betrieb, 2010 wurde es von der Stiftung Habitat erworben, diese schrieb für das Nutzungskonzept einen Wettbewerb aus. Initiiert wurde ein Hostel mit Restaurant – also eine öffentliche Nutzung im Wohnquartier. Zum Konzept gehören Ateliers für ruhiges Gewerbe, und die Substanz sollte dabei erhalten werden. Nun steht das neualte Silo als Erinnerungsspeicher zwischen Neubauten, etwa dem experimentellen Wohnatelierhaus für Kunstschaffende von Degelo Architekten und dem Wohnhaus für Studierende von Duplex. Diese nonkonformistischen Nutzungen und Gebäude tragen den Geist des nt-Areals in die Zukunft.

Der Laufsteg im obersten Geschoss ist in die Mitte unter das ehemalige Förderband gerückt. Die alte Tragstruktur ist zum Greifen nah. 
Bild: Lukas Schwabenbauer

1912 erstellt, lagerte das Silo als eines der ersten Stahlbetongebäude der Schweiz Getreide, Kakaobohnen und Kaffee. Der Basler Architekt Rudolf Sandreuter (Aktienmühle, Restaurant Zum Braunen Mutz) verwendete das neue Material mit dem Wissen von Holzkonstruktionen, davon zeugen ein kleinteiliges Raster, schmale Stützen und balkenartige Unterzüge der Baustruktur. Auch erinnern die Betonprofile im Kellergeschoss an solche aus Holz, was ihnen beinahe anthroposophisches Flair verleiht. Harry Gugger Studio übersetzt diese Eigenart in ähnlich organisch geformte Türdrücker der neuen Eichentüren.

Die Silotrichter formen den Raum von Restaurant und Bar und erzählen die Geschichte des Ortes – in Szene gesetzt von eigens entwickelten Leuchten aus Schwarzstahl. 
Bild: Christian Kahl

Architekten, die sich nicht zu schade sind, auch Innenarchitektur zu betreiben, sorgen dafür, dass die Räume, die sie erstellen, zu ganzheitlichen Erlebnissen werden. Im Silo passiert das auf sehr subtiler und stimmiger Ebene. Experten werden dort herbeigezogen, wo die eigene Kompetenz aufhört: Die Signaletik stammt von Berrel Gschwind, die eine eigens von Ludovic Balland entwickelte Schrift auf die Betonwände applizierten – die Zeichen sollten mit Matrizen auftamponiert werden, analog den vorhandenen Beschriftungen, doch nun sind die Buchstaben einfachheitshalber aufgeklebt.

Ein Silo funktioniert in der Vertikalen ohne eigentliche Geschosse. Die Waren werden von oben nach unten geschüttet und dann abgesackt, die Umnutzung in ein vierstöckiges Haus (inklusive Keller) ist keine banale Aufgabe. Harry Gugger Studio nahm sie zum Anstoss, im äusserlich unscheinbaren Gebäude sehr spezifische Innenräume entstehen zu lassen – indem von der eigentlich unpraktischen Vertikalstruktur das meiste erhalten blieb. Nun sitzt man in der Bar vor einem Absacker und unter Silotrichtern, die durch runde Leuchten aus Schwarzstahl fast übertrieben in Szene gesetzt werden. Sie formen den Raum und erzählen gleichzeitig die Geschichte des Ortes.

Zwei Treppenhäuser an den Schmalseiten des Gebäudes erschliessen das Hostel sowie Gewerberäume und Ateliers. Die Treppe gleicht einer Skulptur.
Bild: Christian Kahl

Die Vertikalität bleibt spürbar

Die Silokammern blieben fast alle erhalten, um Massstab und Charakterisitk des Gebäudes zu bewahren, aber auch, um die baulichen Eingriffstiefe in Grenzen zu halten. Anstelle von je zwei Silos auf den Schmalseiten befinden sich nun die neuen Erschliessungsschächte mit ihren skulpturalen Betontreppen, abgerundete organische Dreiecke im Grundriss. Zwei neu eingezogene Geschosse übernehmen zusammen mit den beiden Treppenkernen die Aussteifung. Die vertikale Lastabtragung erfolgt über die bestehenden Stützen, die für diese Funktion trotz Korrosion durch Karbonatisierung nicht aufgerüstet werden mussten. Das ingenieurtechnische und architektonische Konzept sah vor, die Stahlbetonstruktur weitestgehend zu erhalten und wiederzuverwenden: Erreicht wird dadurch eine vernünftigere CO₂-Bilanz als bei einer Totalsanierung oder Aushöhlung.

Aussen ersetzt ein isolierendes Einsteinmauerwerk zwischen den lisenenartigen Stützen die ehemals fast fensterlose Backsteinfassade. Aus diesem wurden die runden Fenster geschnitten, die mit den blauen Korbmarkisen ihre Individualität unterstreichen. Die Drehflügelfenster lassen sich zum Hof öffnen, dieser wird auch vom Restaurant bespielt. Gegen die Signalstrasse und die Autobahnauffahrt sind sie aus Lärmschutzgründen fest verglast. «Ein solches Fenster benötigt einen speziellen Sonnenschutz», sagt Harry Gugger, dessen Team sich in Zusammenarbeit mit dem Fassadenplaner Philippe Petignat ein Jahr Entwicklungszeit für die Öffnungen nahm. Sie sind custom made, nicht vom Fenster-, sondern vom Metallbauer. Ihre Markisen stellte ein Sattler her, ihr runder Griff kommuniziert mit den Öffnungsvorrichtungen der Silotrichter. Die Kreise von Fenstern und Leuchten strukturieren den zwei Raster breiten hellen Raum der Gastronomie im Erdgeschoss. Gegen innen grenzt er an einen in Eichenrahmen verglasten Korridor, an dem Sitzungszimmer gegen die Ostfassade aufgereiht sind.

Optisch sind die beiden Obergeschosse miteinander verbunden, die Vertikalität der ursprünglichen Nutzung bleibt so präsent.
Bild: Lukas Schwabenbauer

Feinste Detaillierung

Durch die Aufschüttung der fassadenseitigen Silotrichter wird der Boden des ersten Obergeschosses gebildet. Relativ schmale Stege sind wie Wege über die Vergangenheit gelegt – diese zeigt sich im Blick in die offenen Trichter. Die Stege erschliessen die Hostelzimmer auf der Strassen- und die Ateliers auf der Hofseite. An den ungleich geschnittenen, teils schrägen Holzrahmen der neuen Eichentüren zwischen den Akustikziegeln lässt sich die ungenaue Arbeitsweise der Entstehungszeit ablesen: «Früher liessen sich Einsparungen machen, indem man teures Material sparsam einsetzte, wir wiederum zahlen durch die Massarbeit drauf.», sagt Gugger, dem diese Detailgenauigkeit eine Herzensangelegenheit ist. In den Hostelzimmern, deren Entstehungszeit sich an der kreisrunden Öffnung ablesen lässt, stehen neue Heizkörper auf extra angebrachten Füsschen, weil sie das früher auch taten. Die Kammern sind dunkel gehalten, da man sie ja zum Schlafen aufsucht, die neu eingezogenen Zwischenwände in Ochsenblutrot sind wie der Braune Mutz mit mineralischen Keimfarben gestrichen. Die eigens entworfenen Etagenbetten bilden Alkoven, die mit in ein Stahlgestell eingelassenen Fichtenplatten ausgekleidet sind.

Im zweiten Obergeschoss unter dem Dach kulminieren die Eindrücke: Der Laufsteg wechselt in die Mitte des Raums, und kleine Brücken führen in die gehobeneren, pastellrosa gehaltenen Zweibettzimmer unter der Dachschräge gegen Osten und weitere Ateliers im Westen. Die Tragstruktur des Betongebälks ist zum Greifen nah, die ursprüngliche Signaletik und originale Leuchten werden wiederverwendet. Treppabwärts fällt ein weiteres feines Detail auf: Die Stufenvorderkanten sind mit Winkeleisen aus Schwarzstahl belegt, der Kontrast zum Beton kehrt Hell und Dunkel um. Vielleicht sollte man im anderen Treppenhaus wieder hochsteigen, um sicherzugehen, kein weiteres Detail dieses Umbaus zu verpassen.

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