Die Architektur ist Teil der Lösung

CAP-TALK #4 Philippe Jorisch, JOM Architekten

aufgezeichnet von Jenny Keller

«Postfossile Architektur» hiess der Beitrag im «Im Klimawandel» von werk, bauen + wohnen (wbw 7/8 – 2018). Es liest sich als Plädoyer für eine lustvolle, zukunftsgewandte und positive Anleitung zum Bauen in der Klimakrise. Setzen JOM Architekten ihre zehn damals gestellten Forderungen auch um? Philippe Jorisch nimmt Stellung.

Wir als Kollektiv entschieden uns für eine aktive Rolle in der Gesellschaft. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man bei seiner tagtäglichen Arbeit den wirtschaftlichen Gegebenheiten des Alltags ausgeliefert ist. Doch 20 Prozent seiner Zeit, sollte man sich fragen: Wofür brenne ich? Was ist mir wichtig? Bei uns ist das die Erkundung des architektonischen Potenzials von Bauen im Klimawandel.

Für uns war klar: Wenn wir einen relevanten Beitrag zur Baukultur leisten wollen, müssen wir die grossen Herausforderungen im 21. Jahrhundert sehen. Die globale Erderwärmung war schon 2014 bei unserer Gründung Thema, und dass der Bausektor einen grossen Anteil daran hat, ist ebenfalls schon lange klar.

Es scheint uns interessanter, sich mit gesellschaftlich relevanten Fragen auseinanderzusetzen anstatt sich primär in einem fachinternen Diskurs zu bewegen. Unser Beitrag reicht über die Architekturdisziplin hinaus – wir haben uns über die vergangenen Jahre reingekniet, um die ganzen Themen um Energie und CO2 wirklich zu durchdringen. Parallel dazu thematisieren wir in zahlreichen Wettbewerbsbeiträgen mit interdisziplinären Teams den Aspekt des zukunftsfähigen Bauens auf unterschiedlichen Massstäben. Ausserdem kommentiere ich regelmässig Wettbewerbsbeiträge mit Aspekten einer nachhaltigen Architektur.

Axonometrie Projekt Siedlung «Limmergy», Obersiggennthal, JOM Architekten

Raum on demand

In jedem Projekt versuchen wir einen Teil der Forderungen, die wir damals im eingangs erwähnten Beitrag gestellt haben, in eine inspirierende Gestaltung umzusetzen. Noch können wir drei Jahre nach dem Pamphlet keine umgesetzten, komplett fossilfreien Projekte vorweisen, aber einen wichtigen gewonnen Wettbewerb: Das Projekt Limmergy in Obersiggenthal der Regionalwerke Baden, eine CO2-neutrale Siedlung an der Limmat mit neuen Wohnformen. Wir verstehen das Haus in einem Netzwerk von vielen Häusern, die sich in Zukunft selbst mit regenerativer Energie versorgen werden. Der Ausschlag unseres Sieges lag mitunter in der kompakten Typologie mit knapp geschnittenen Einheiten und viel gemeinsam genutzten Flächen. Grillstelle, Dachterrasse, Büroarbeitsplatz oder auch die sogenannte Werk-Lobby können wie die Elektrofahrzeuge per App gebucht werden und werden durch einen externen Dienst unterhalten und gereinigt. Neue Schliesssysteme ermöglichen Raumkonfigurationen quasi on demand. So wird der Flächenverbrauch pro Kopf reduziert, aber im eigenen Haus stehen mehr Angebote zur Verfügung.

Netto-Null CO2

Heute redet man vom Ziel Netto-Null. Doch was ist damit gemeint? Auf der Ebene der Betriebsenergie ist man mit den MuKen (Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich) fast am Ziel. Und die Architektinnen und Architekten sind sich wohl einig, dass man dafür wieder weniger Technik verbauen soll. Das grosse Problem ist das Kohlendioxid – und zwar in der Gebäudeerstellung, selbst wenn wir möglichst viel mit Holz bauen. Aktuell ist es so, dass ich gewisse Dinge in der Bauwirtschaft nicht ohne CO2-Emission gewinnen kann, dazu gehören Stahl, Glas, Zement. Ich brauche jedoch diese drei Materialien, um ein Gebäude zu erstellen. Was wir als Architekten momentan also tun können, ist, den CO2-intensiven Anteil der Baustoffe niedrig zu halten und stattdessen mit organischen Baustoffen zu bauen.

Erdgeschoss mit Umgebung Projekt Siedlung «Limmergy», Obersiggenthal, JOM Architekten

Beim Projekt Limmergy ist unser ambitioniertes Ziel, Netto-Null CO2 zu erreichen. Wie kompensiert man also das CO2, das man für die Erstellung des Untergeschosses, der Fenster, der Metalle und auch der Photovoltaikanlage ausstösst? ETH-Studierende am Lehrstuhl von Prof. Arno Schlüter haben anhand unseres Projekts in einer Semesterarbeit berechnet, dass es sich um rund 3000 Tonnen handelt für die knapp 45 Wohnungen. Wir sollten das CO2 dynamisch berechnen, sprich, das Holz, das verbaut wird in seinem ganzen Lebenszyklus zu betrachten. Biomasse, die wächst, bindet CO2. Ein Baum, der stirbt und verrottet, setzt wieder etwa 90% des über die Jahre gebundenen CO2 frei. Doch wenn man den Baum fällt, in einem Gebäude einbaut über 50 bis 100 Jahre und dann an einem neuen Ort wieder einbaut, dann hat man das CO2 fixiert – und das hat einen Wert.

Wenn man ein Gebäude als CO2-Speicher versteht, dann können wir mit Holz oder gefügten Bauteilen, die CO2 binden in eine Kreislaufwirtschaft eintreten. Ausserdem kann das CO2 durch die Photovoltaikanlage rechnerisch kompensiert werden, weil es andere Energiegewinnungsmethoden verdrängt. Dabei muss man aber die Photovoltaik dort einsetzen, wo die solaren Erträge hoch sind – was wiederum einen Einfluss auf die Fassadengestaltung und den Architekturausdruck hat. Es ist also doppelt gut, die Bauwirtschaft als Teil der Lösung zu sehen!

Kein Moratorium auf Neubauten

Ich persönlich kann die Forderungen des CAP nachvollziehen und begrüsse und unterstütze auch viele. Doch was die Verfasserinnen und Verfasser des CAP und auch die generelle Öffentlichkeit nicht verstehen, ist, dass die Bauwirtschaft Teil der Lösung sein muss. Ich fordere: Jetzt sofort muss man beginnen, die gesamte Industrie zu transformieren – dann schafft man es in 30 Jahren komplett fossilfrei zu bauen. Beim Beton gibt es bereits Carbon Capturing. Die fossile Energie die sich über Jahrmillionen in der Erde angesammelt hat und welche jetzt angezapft wird, war nur der Anlasszünder für die Entwicklung der Menschheit.1 Jetzt muss die Gesellschaft schnellstmöglich dafür sorgen, dass wir ausschliesslich regenerative Quellen nutzen. Die Transformation der Industrie generiert wiederum neue Formen. Solche des Zusammenlebens, aber auch neue Geschäftszweige, die wiederum neue Arbeitsplätze schaffen. Recycling und Kreislaufwirtschaft werden erstarken, Kunststoffe werden organisch basiert sein. Das wird neue Konstruktionsweisen erfordern, und es gibt viel zu gestalten.

Es braucht starke ökonomische Anreize bei der Erstellung von Gebäuden, das gespeicherte CO2 muss einen Preis haben, auch wenn man grosse Teile, wie beispielsweise das Untergeschoss mit Garage stehen lässt anstatt abreisst. Ich finde das Gejammer über Vorschriften muss ein Ende haben. Über den Katalysator bei einem Auto oder das fehlende FCKW im Kühlschrank redet heute auch niemand mehr.

Als Architekt will ich mitwirken an einer Zielformulierung, dann werde ich Teil der Lösung und unentbehrlich. Architekturschaffende können sich so die Relevanz zurückgeben, deren Verlust allenthalben beklagt wird.

Engagiert Euch!

Ich habe beschlossen, dass ich mich politisch engagiere. Ich bin kürzlich einer Partei beigetreten und als Ersatzkandidat auf Gemeindeebene aufgestellt. Die Politik muss verstehen, dass der Bauwirtschaft auch ökologisch und sozial eine enorme Bedeutung zukommt.

Mir schwebt vor, Brücken zwischen Politik und Architektur zu bauen. Viel zu wenige Architekturschaffende mit einer starken baukulturellen Agenda engagieren sich politisch und somit fehlt das Verständnis auf beiden Seiten. Da mache ich lieber einen Wettbewerb weniger und trage dazu bei, dass die Baukunst auch politisch vorankommt.

Mehr Informationen zu den CAP talks und weitere Gespräche.

1 Dirk Althaus, Zeitenwende: Die Postfossile Epoche, Mankau Murnau am Staffelsee, 2007.

Anzeige

Lesen Sie werk, bauen + wohnen im Abo und verpassen Sie keine Ausgabe oder bestellen Sie diese Einzelausgabe