Eintauchen ins Bunte

Schulhaus Chliriet, Oberglatt, von BS + EMI Architekten

Tibor Joanelly

Die Farbigkeit der Räume übersteigt das Gewohnte und könnte wider die Intuition auch das Lernen begünstigen.

Die Maerialsammlung im gemeinsamen Büro von BS und EMI ist mehr als ein Mood-Board; sie definiert ein eigentliches Experimentierfeld, in dem Farbklänge und -dissonanzen empirisch ausgelotet wurden. Als Leitbilder dienten Kompositionen von Félix Vallotton, Edward Hopper oder Le Corbusier. 
Bild: Roland Bernath

Ja, dieses Gebäude ist bunt. Sehr bunt. Und in dieser Buntheit gibt es Dinge, die sogar noch einen Tick bunter sind: zum Beispiel die Stirnbretter an den Enden der Dachbinder. Ihr leuchtendes Violett hebt sich ab vom Orange-Rot der Konstruktion und der Dachuntersicht, und es schwebt klar über der zartgelben Fassade und den petrolblauen Fensterprofilen.

Solche Farbkontraste sind gewöhnungsbedürftig. Offenbar war es aber überhaupt kein Problem, die Farbenpracht durch den Projektverlauf zu bringen, und es scheint, als ob das Motto «Bunt ist gut» bei Wettbewerbsjury, Baukommission und Einwohner- und Nutzerschaft gleichermassen stach – respektive: Im Prozess kam einzig die Frage auf, ob denn ein solcher Farbrausch die Schülerinnen und Schüler nicht vom Lernen ablenken würde. Die Architekturschaffenden antworteten mit dem Argument, dass die bunte Architektur der Nutzung entspreche. Jogginghosen, Leggins, Rucksäcke und Turnschuhe sind ja auch sehr farbig.

Die Farbigkeit der einzelnen Bauteile unterstützt die elementare und «zerfliessende» Komposition. Das Arbeits-Rendering zeigt auch die unkonventionelle Längsaussteifung des Gebäudes.
Bild: Roland Bernath

Einheitliche Kakophonie

Eine solche Buntheit bedeutet für Architekturschaffende viel Arbeit. Im gemeinsamen Büro von Edelaar Mosayebi Inderbitzin (EMI) und Baumberger Stegmeier (BS) sind Materialmuster aufgestellt; an die Wand sind Farbmusterblätter und Farbkopien gepinnt. Das ist kein ungewöhnliches Arrangement für ein Architekturbüro. Weniger alltäglich sind die Erklärungen, die Peter Baumberger und Christian Inderbitzin dem Kritiker als Denkaufgabe mitgeben. Baumberger sagt, dass aus konzeptionellen Gründen jede Gattung von Bauelement seine eigene Farbe erhalten habe. So wird die Konstruktion rot gestrichen, vergipste Wände sind rosa, Schreiner-Einbauarbeiten blau, die Fenster wie erwähnt petrolblau, und die Treppenwangen sind violett, die Lüftungsrohre sind marineblau – und so weiter.

So liegen im Büro Dinge aller Gewerke beieinander, in eine, sagen wir, einheitliche Kakophonie gebracht. Weil sie Gattungen von Bauelementen repräsentieren, erhalten die Muster in der Auslage den Charakter von Typen, von Objets-types, die jeweils ihre Zugehörigkeit im «System» des Bauwerks zum Ausdruck bringen. «Zugehörigkeit» darf hier nicht funktional verstanden werden.

«An die Farben tastete man sich heran.» Dabei orientierten sich die Entwerfenden an den an die Wand gepinnten Referenzbildern: Nebst Bauten von Le Corbusier sind es Gemälde von Félix Vallotton und Edward Hopper – Interieurs, Ikonen der Moderne. Das Nicht-Architektonische an Baumbergers Erklärung ist nicht das Heranziehen von Referenzen aus der Welt der Kunst, sondern der Akt einer künstlerisch-bewussten Ausblendung architektonischer Themen wie Tektonik oder Materialität – in der Argumentation steht das System des Raums im Vordergrund und nicht die konstruktive Ordnung. (Anders als im Funktionalismus oder im Brutalismus, wo es jeweils um eine universelle Systematik des Bauens ging mit entsprechend logisch ableitbaren Konsequenzen für die Farbe.) So kann es beim Schulhaus Chliriet in Oberglatt durchausvorkommen, dass Decken wie Träger dieselbe Farbe haben, und Stirnbretter – ebenso Teil der Konstruktion – auf einmal ein visuelles Punktum im Raum erzeugen. Das ist eigentliche Konzeptkunst. (Man denke etwa an die Streifen und Quadrate von Daniel Buren.)

Der konzeptuellen Verortung der Bauelemente im Raum unterworfen wird auch die klassische Argumentation der Kontextualisierung. Denn in der Turn- und Mehrzweckhalle gleich nebenan, auf die sich die Architekten beziehen – gebaut 1979 von Hugo Oswald aus Oberglatt und 2014 von Frei + Saarinen um ein multifunktionales Foyer erweitert –, sind die Dinge im Sinne von Funktionalismus und Bauindustrie farblich geordnet: Metall rot, Holz weiss. Plus Materialfarben von Beton, Backstein und Bodenbelägen.

Auch wenn der Bau noch nicht fertiggestellt ist, so lässt sich erahnen, mit welcher Kraft er seinen Nutzenden begegnen wird. Materialität wird durch Farbe unterdrückt. 
Bild: Roland Bernath

Angemalte Sachen

Im neuen Gebäude gibt es keine Materialfarbe; alles ist angemalt. Und dann: Es gibt auch keine einzige Oberfläche, die kostbar wirken würde oder irgendwie zeichenhaft aufgeladen. Es gibt das, was es gibt, nämlich Dinge im Raum und ihre Farbe. Und damit glänzt über den Dingen keine Aura. Der kostbare Schein der Oberfläche implodiert, und die Dinge eröffnen sich der Wahrnehmung entweder als das, was sie sind, als angemalte Sachen, oder im Spiel der Oberflächen. Der Eindruck, der dabei entsteht, ist einigermassen seltsam: als ob der Weg der Wahrnehmung zu den Dingen versperrt oder nur über Umweg der gefühlten Farbe zurückgelegt werden könnte. Die Folge ist eine fast radikale Immersion im Raum, eine Zurückweisung dessen, was Architektur gross und bedeutsam macht. Architektur ist da, natürlich, sehr präsent dank dezidiert entworfenen Räumen. Doch zugleich gibt es eben fast nur Farbe, Auflösung in reiner Wahrnehmung. Der Baustoff wird immateriell, flüchtig.

Ist es ein Zufall, dass ich mich an die papageien-farbigen Räume im Haus von Bruno Taut erinnert fühle? Taut war mit seinem Farbgebrauch einem künstlerisch-freien, expressionistischen und auf die Raumwirkung bedachten Sehen verpflichtet – anders als BS + EMI mit ihrer konzeptionell hergestellten Stimmung. Aber in beiden Fällen ist es ein Eintauchen und Eins-Werden mit dem Raum: Unterschiedliche Strategien führten zu gleichem Resultat. Durch die Optik von BS + EMI kommt es mir so vor, als habe Taut trotz revolutionärer Rhetorik und Gläserne-Kette-Transzendenz vor allem die geordnet-schwülstigen Räume des Fin-de-Siècle reproduziert. Oder auch, mit einem Blick zurück auf die Gemälde von Félix Vallotton, welche die Konvention ihrer Zeit zersetzten: den Aufbruch in eine neue Zeit.

Bild: Roland Bernath

Taut-Vallotton’scher Farbrausch

Ob man eine solche Immersion in einen Taut-Vallotton’schen Farbrausch mag – oder ob man als wahrnehmende Person lieber Distanz zum Raum halten möchte im Sinne von Vordergrund (ich) und Hintergrund (Raum) –, sei dahingestellt. Dieser Unterschied wird in der Schule Chliriet aufgehoben. Und damit steht die Frage auch in diesem Text zur Diskussion, inwieweit ein neutralisiertes Ambiente das Lernen fördern oder hemmen kann.

Lernen ist im besten Fall wie Schreiben oder Entwerfen eine immersive Tätigkeit, und glaubt man dem architektonischen Versprechen von Bruno Taut – der Herstellung einer Art reformistisch-ganzheitlichen Atmosphäre –, so produziert dieses Zusammenfallen von Vorder- und Hintergrund ein ideales Milieu für Vertiefung. Inwiefern dies für den Schulunterricht die Aufmerksamkeit erhöht und Lernerfolge begünstigt, hängt allerdings zuerst vom sozialen Verhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden ab. Und dieses könnte im Schulhaus Chliriet durch Kunstgriffe wie räumliche Transparenz und Clusterbildung gefördert werden, von denen in diesem kurzen Text über die Wirkung von Farbe noch gar nicht einmal die Rede war.

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