Karin Salm, Hans Bühler (Bilder)
Den Schandfleck von Näfels haben die Genossenschaft Alterswohnungen Linth und der Architekt Volker Marterer in ein Vorzeigeprojekt verwandelt. Entstanden sind nicht nur altersgerechte Wohnungen, ein Café und eine Ferienwohnung im Baudenkmal. Der Hauswart leistet hier auch Care-Arbeit für die ältere Bewohnerschaft.
Das Konzept der Genossenschaft Alterswohnungen, kurz GAW, Linth besteht seit 1992 darin, altersgerechte Wohnungen in den Zentren von Dörfern zu bauen. Die Wege zu Läden, Post, Bäckerei, Bushaltestelle und Nachbarn sollen kurz und die Teilhabe am sozialen Leben damit möglich bleiben. Für dieses Ziel waren die sogenannten Beugehäuser mitten in Näfels ideal, obwohl die maroden Bauten mit den dicken Bruchsteinmauern lange als Schandfleck galten. Die Fensterläden hingen schief, die Ziegel auf dem Dach lotterten und viele wünschten sich einen Abbruch des Ensembles. Genau das hatte die GWA vor, als sie die Häuser 2013 mit einem Volumen von 6500 Kubikmetern für 612 000 Franken kaufte: Den Schandfleck abreissen und helle, moderne Alterswohnungen samt Café und Tiefgarage erstellen. Doch aus der Chance, rasch und günstig zum gängigen Wohnangebot zu kommen, wurde nichts. Umfangreiche Untersuchungen und dendrochronologische Analysen zeigten nämlich, dass im Innern zwei Wohntürme erhalten waren, die auf das Baujahr 1415 zurückführten, und dass das Zentrum von Näfels genau um diese Wohntürme herum entstanden war. In den nachfolgenden Jahrhunderten wurden die Wohntürme nach und nach erweitert, aufgestockt und zusammengebaut.
Franz Landolt, Präsident der GAW Linth, liess sich nicht abschrecken und holte Volker Marterer von Dom Architektur an Bord. Marterer ist ein Architekt, der sich auf die behutsame Renovation und Restaurierung historischer Bausubstanz spezialisiert hat und diese als «Testament des baulichen Könnens der Errichter» schätzt. «Hätten wir die diversen Herausforderungen am Bau, die vielen Probleme mit Behörden und Amtsstellen und die stetig steigenden Kosten von Anfang an gekannt, hätten wir das Projekt wohl nicht in Angriff genommen», resümiert Landolt heute mit feiner Selbstironie. Statt 8,3 hat der Umbau 11 Millionen Franken gekostet. Der Nachtragskredit von 2,7 Millionen war dann unumstritten, da über die Jahre ein Sinneswandel stattgefunden hatte. «Wir haben hier einen unschätzbaren Mehrwert geschaffen. Damit meine ich nicht nur die altersgerechten Wohnungen. Die Renovation und Restauration hat der Bevölkerung den Wert und die Bedeutung von Baukultur und der Geschichte bewusst gemacht. Der Dorfkern von Näfels wurde mit der Sanierung der Beuge entscheidend aufgewertet.» Der Architekt Marterer ergänzt: «Letztlich haben wir hier eine Art baukulturelle Weiterbildung betrieben.» Er erzählt, dass am Tag der offenen Tür «der halbe Kanton begeistert durch die renovierten Häuser patrouilliert» sei. Das Ensemble, das Spätgotik und Barock mit neuer Nutzung vereint, ist nicht nur in Näfels zu einer bekannten Adresse geworden.
Begeistert ist auch die heutige Bewohnerin Ulrica Wieland. Aufgrund einer neuen Arbeitsstelle im Glarnerland hat sie sich zahlreiche Wohnungen angeschaut, bis sie endlich eine Wohnung im Haus «Beuge» fand. «Der Charme dieses sorgfältig renovierten Hauses gefiel mir sofort, ebenso die einzigartige Wohnung zu einem fairen Mietpreis», erzählt Wieland. Stolz führt sie durch ihre zweieinhalb Zimmer. Die Decken sind niedrig, die mächtige Bohlenständerkonstruktion erzählt von alter Zimmermannskunst und die rosa Wand mit einem winzigen Rest Tapete im Wohnzimmer öffnet ein heiteres Fenster in die Geschichte dieses alten Hauses. «Diese Details sind wie Geschenke aus der Geschichte», sagt Wieland. Den Architekten Volker Marterer freut’s. Denn genau so ist er vorgegangen: Er hat die Baugeschichte der beiden Wohntürme, die ab dem 16. Jahrhundert erweitert, aufgestockt und dann auch zusammengebaut worden waren, rekonstruiert, hat die Qualitäten der historischen Substanz freigelegt, herausgeschält und von belanglosen Überformungen befreit. Im wertvollen Bestand hat er zwölf Wohnungen, ein Café, Büroräume für die Glarner Krankenversicherung und einen Coiffeursalon platziert. Die Dächer und Gebäudehülle wurden energetisch saniert, die Fenster gegen die vielbefahrene Kantonsstrasse fünffach verglast, der Trittschall gedämpft und die Vorschriften des Brandschutzes eingehalten. Topmoderne Bäder und Küchen wurden eingebaut. Eine Herkulesaufgabe! Um in einem Teil des Hauses denkmalpflegerisch geradezu archäologisch radikal vorzugehen, hat die GWA Linth entschieden, eine Wohnung der Stiftung Ferien im Baudenkmal anzubieten: Archaisch russgeschwärzte Partien in der Küche und ein gotisches Schlafzimmer sind die Highlights.
Die neue Erschliessung per Lift und Treppenhaus hat Marterer als Scharnier zwischen den beiden Hausteilen untergebracht. Damit konnte er elegant die Niveauunterschiede der Gebäude ausgleichen. Diese Idee sei wie die Zerschlagung des gordischen Knotens gewesen, erinnert sich Bauherr und GWA-Präsident Landolt, denn die Erschliessung der beiden Häuser von zwei Seiten hätte zu viel originale Substanz zerstört und alles zusätzlich verteuert. Während der Lift diskret die Barrierefreiheit gewährleistet, ist die Eichenholz-Treppe ein handwerkliches Meisterwerk: Auf einer ovalen Grundform windet sie sich nach historischem Vorbild in die Höhe und erfüllt bei aller Eleganz auch die Anforderungen des Brandschutzes.
Von den zwölf Einheiten sind die drei Wohnungen im Dachstock wegen interner Treppen nicht barrierefrei und darum an jüngere Personen vermietet. Doch das stört nicht, im Gegenteil, so ist die Bewohnerschaft diverser als vorgesehen. Ulrica Wieland erwähnt den guten Austausch unter den jüngeren und älteren Nachbarinnen und Nachbarn. Das sieht auch der 82-jährige Georg Müller so. Er und seine Frau hatten sich für eine Dreizimmerwohnung mit zwei Balkonen entschieden und haben ihre Wohnfläche von vorher 190 Quadratmetern um zwei Drittel reduziert. «Unsere Möbel passten perfekt und aus meinen Büchern wurde im obersten Stock eine Bibliothek für alle», erzählt Müller. Als Präsident der Stiftung Freulerpalast, eines der prunkvollsten Herrenhäuser aus dem Frühbarock in Näfels, reserviert er für Vorstandsitzungen regelmässig das Sitzungszimmer in der «Beuge». Zum einen sei es hier wärmer, zum andern werde das renovierte Baudenkmal so zusätzlich genutzt. Gleichzeitig bekundet er damit seine Anerkennung für die geglückte Renovation, denn so habe der Freulerpalast endlich ein würdiges Gegenüber erhalten.
Trotz Begeisterung haben Müller und seine Frau nach zwei Jahren entschieden, wieder in eine grössere, helle Wohnung zu ziehen. «Hier hatte ich zu wenig Luft. Ich brauche Platz, um mich zurückziehen zu können», gibt Müller zu. GWA-Präsident Landolt bestätigt: «Wenn ältere Menschen im ländlichen Raum in eine altersgerechte Wohnung umziehen, bevorzugen sie eine helle, moderne Wohnung, was wir auch bauen. Es sind eher Jüngere, die Wohnungen mit geschichtsträchtigen Räumen mit alten Spuren schätzen.» Aus dem Projekt Beuge in Näfels ist am Schluss ein eigentliches Generationenhaus geworden.
Diese Entwicklung überrascht Karin Weiss, stellvertretende Geschäftsführerin der Age-Stiftung, nicht. Die Stiftung engagiert sich für Lösungen, damit ältere Menschen selbstbestimmt wohnen, leben und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Neben der Förderung von angewandten Forschungs- und Umsetzungsprojekten lässt die Age-Stiftung seit 2004 den Age Report erstellen, der sich zum Standardwerk des Themas Wohnen und Alter etabliert hat. Erfahrungen zeigen, dass die Verweildauer in einer Wohnung mit höherem Alter zunimmt. «Darum sind nicht nur helle Räume erwünscht, sondern Grundrisse, die den Tagesverlauf erfahrbar machen, also sich idealerweise in drei Himmelsrichtungen erstrecken», erklärt Weiss. Trotzdem hat die Age-Stiftung das Projekt «Beuge» in Näfels finanziell unterstützt. In den letzten 20 Jahren hat die Age-Stiftung Projekte gefördert, die innovative Wohnformen für ältere Menschen anbieten und gleichzeitig der räumlichen Verdichtung und damit Dorfkernsanierungen Rechnung tragen. Die GWA Linth hat mit ihrem Vorhaben in das Förderkonzept der Age-Stiftung gepasst. Nicht zuletzt wegen des einzigartigen Hauswartmodells. Die GWA Linth beschäftig Hauswarte, die sich neben der klassischen Tätigkeit auch um den Zusammenhalt und die Bedürfnisse einzelner Bewohner und Bewohnerinnen kümmern. Bei Bewohnenden, die an Einsamkeit leiden, nehmen sie sich Zeit für einen Schwatz, wechseln auch eine Glühbirne aus, organisieren einen Mittagstisch oder einen spontanen Grillabend. Diese Kombination aus Herz, Hand und Verstand gefällt der Stiftung.
Mit ihrem Engagement hat die Age-Stiftung viel erreicht: Das Thema «Wohnen und Älter werden» ist salonfähig geworden und die Vielfalt an Wohnmöglichkeiten für ältere Menschen hat sich erhöht. «Mit der neuen Strategie, die seit 2024 in Kraft ist, wollen wir uns nun auf die heute akuten Fragen konzentrieren: auf bezahlbare Wohn-, Betreuungs- und Pflegelösungen, die der demografischen Entwicklung standhalten und die soziale Einbindung gewährleistet», erläutert Weiss. Mit anderen Worten: Die Age-Stiftung will die Hochaltrigkeit konsequent mitdenken, sich weniger auf bildungsbürgerlich orientierte Wohnmodelle fokussieren und die existenziellen Fragen in der vulnerablen und fragilen Lebensphase zum Thema machen. Dazu gehört auch die Gewährleistung einer adäquaten palliativen Versorgung in allen Regionen.
Die GWA Linth, die in den Zentren des Glarnerlands Alterswohnungen baut, hat im Projekt «Beuge» doppelte Sorgfalt walten lassen: Sie hat nicht nur barrierefreien Wohnraum mit einer besonderen Ausstrahlung geschaffen, sondern auch die ältesten Häuser von Näfels nach umsichtiger Renovation wiederbelebt.
Karin Salm (1962) ist Kultur- und Architekturjournalistin. Sie arbeitete viele Jahre als Redaktorin von Radio SRF und ist seit 2016 freie Autorin und Moderatorin.
Mit tiun erhälst du unlimitierten Zugriff auf alle Inhalte des werk, bauen + wohnen. Dabei zahlst du nur so lange du liest – ganz ohne Abo.