Roland Züger, Farah Fervel (Bilder)
Das neue Zentrum ist mehr als ein Treffpunkt im Quartier: Es ist mit über einem Dutzend Läden und Workshops auch ein Markplatz des Teilens, Tauschens und Reparierens. Die feinsinnige Transformation mit bescheidenen Mitteln hat dem Baudenkmal zu einem zweiten Leben verholfen. Entstanden ist ein würdevoller Ort für die Bedürftigen der Gesellschaft.
Man kennt solche Orte auch in der Schweiz – zumindest in den Städten – als sogenannte Gemeinschaftszentren. An solchen Orten stehen der Bevölkerung Räume offen: Werkstätten, Musikzimmer oder Theatersäle, mietbar für die Geburtstagsfeier, manchmal mit einem Café, mindestens aber einem grossen Spielplatz. Sie sind Treffpunkte in Nachbarschaften und stellen deren soziale und infrastrukturelle Versorgung sicher, nicht selten sind sie eingebunden in die Sozialarbeit der jeweiligen Gemeinden. In Kortrijk in Westflandern hat jüngst ein engagiertes Architekturbüro eine alte Feuerwache zu einem solchen Ort der Fürsorge umgebaut.
Dank einer klugen Programmierung kann es sogar noch mehr leisten, als in hiesigen Quartierzentren üblich ist. Mit der Grundidee des Teilens – von Wissen, Können oder Dingen – hat die Stadt Kortrijk 2017 die sogenannte Deelfabriek ins Leben gerufen. Salopp könnte man das mit «Fabrik des Teilens» übersetzen. Am ersten Standort, einer leerstehenden Fabrik, stiess die Einrichtung jedoch schnell an ihre räumlichen Grenzen. Eine neue Bleibe musste her. Philippe De Coene fand als Mitglied der kommunalen Regierung eine Lösung dafür. Als Zuständiger für das Soziale sowie für die Denkmäler der Stadt konnte er seine beiden Ämter verbinden. So fand die leerstehende, seit 2004 unter Schutz stehende Feuerwehr im Osten der Stadt mit der Deelfabriek eine neue Nutzung.
Dank des zwanzig Meter aufragenden Turms des modernistischen Baus, in dem einst Schläuche entrollt zum Trocknen hingen, ist es von weitem sichtbar. Nun hängt in dessen gläserner Krone eine Lichtinstallation der in Berlin lebenden Schweizer Künstlerin Sandra E.Blatterer – Kunst am Bau ist in Belgien eher unüblich, schon gar keine Vorschrift, sondern war in diesem Fall ein Wunsch der Stadt Kortrijk als Bauherrschaft. Das Werk signalisiert symbolisch das Licht der Hoffnung für die Schwächeren der Gesellschaft, die an diesem Ort willkommen sind. Gleichzeitig ist es stolzes Zeichen einer Institution, die sich nicht unter die Bäume eines Parks duckt wie die Gemeinschaftszentren hierzulande oft. Das Baudenkmal aus dem Jahr 1940 der Kortrijker Architekten Willem Dutoit, Pierre A. Pauwels und Werner Van Spranghe verschafft sich an der Strassenkreuzung prominent Sichtbarkeit.
Die Deelfabriek liegt inmitten eines dicht bebauten ehemaligen Arbeiterviertels, in dem es einst mehr als ein Dutzend teils winzige Kneipen gab. Sie bestimmten das fein ausdifferenzierte Lebensumfeld der hier Wohnenden. Heute stehen einige Bauten leer, der Polizeihof hinter den roten Backsteinmauern vis-à-vis ist verwaist. Die Lage mutet peripher an, denn das Quartier ist durch die Bahntrasse vom historischen Zentrum abgeschnitten. In dessen Norden liegt der historische Kern mit seinem frisch sanierten Beginenhof – das weiss getünchte Backsteinensemble der Klosteranwärterinnen aus dem Mittelalter, für das Kortrijk bekannt ist.
Beide Orte verbindet die Aufgabe der Fürsorge. Die Deelfabriek bietet rund zwanzig Bürgerinitiativen Raum, die sich im Komplex treffen können. An der Stelle der einstigen Löschfahrzeuge ist heute eine Kneipe, die gleichzeitig auch einen Zugang zur Anlage bietet. In diesem «Sozialrestaurant», wie es in Belgien genannt wird, lässt sich für kleine Preise der grosse Hunger stillen. An den vielen Tischen im weiten Raum werden aber auch Hausaufgaben erledigt, niederländische Begriffe gepaukt oder Freunde getroffen. Der Flyer mit dem Veranstaltungsprogramm auf dem Bartresen zeigt einen bunten Mix: von der Weiterbildung in digitalen Skills bis zur Kinderdisco.
Spannend wird es im Hof. Hier befindet sich die «nicht-kommerzielle Shoppingmall», wie sie Gemeinderat De Coene nennt. Hier sind gebrauchte Dinge günstig zu haben: Kleider, Tretroller oder Katzenkistchen. Es sind Dinge des täglichen Bedarfs, die das schmale Budget oft schwer belasten. Instrumentheek heisst das Geschäft, in dem gröbere Gerätschaften wie Bohrmaschinen oder Laubbläser ausgeliehen werden können.1 Im raumgreifenden Lager hinter dem Tresen stehen sogar Häcksler oder Zementmischer zum Einsatz bereit.
Manche nutzen für den Einkauf die Gutscheine des Sozialamts, die sie neben der üblichen finanziellen Unterstützung erhalten. Die sechs entlang des rautenförmigen Hofs aufgereihten Geschäfte sind alle von Freiwilligeninitiativen betrieben. Das spiegelnde Gesims verbindet sie. Die tiefe Fassade mit den Sichtbetonpfeilern ermöglicht einen diskreten Zugang.
Für einfühlsame Details wie dieses war das Architekturbüro Atama verantwortlich. Ihr Akronym steht für Atelier for transformative Architecture & Masterplanning. Sie haben 2019 den Wettbewerb gewonnen. Bei der Besichtigung schwärmt der Politiker De Coene von deren Umbaukonzept als gelungene Mischung von Pragmatismus und wenigen Tricks, die zur heiteren Stimmung des Umbaus beitragen – etwa das perspektivische Spiel mit der Hofform oder die vielerorts eingesetzten Spiegel. Sie erweitern den Raum und sind ein spielerisches Element, das den vielfach roh belassenen Stellen etwas Glamour verleiht. Dadurch ist dem Bau das enge – in Schweizer Augen unglaublich niedrig anmutende – Budget nicht sofort anzumerken.
Der Architekt Bram Aerts, der das Büro Atama zusammen mit Carolien Pasmans in Gent führt, erklärt ihren Ansatz mit drei Prämissen: so wenig machen, wie möglich; so präzise eingreifen, wie es nur geht, und nur wenig hinzufügen. Und doch gehe es ihm mit den Spiegeln darum, dem Nötigsten auch eine Spur Witz hinzuzufügen. Er verweist auf den vielfältigen Einsatz von Spiegeln in der belgischen Kunst, beispielsweise auf die Bilder Magrittes und die Surrealisten.
Die meisten Entscheidungen von Atama stechen kaum hervor. Vieles haben sie pragmatisch aus dem Bestand übernommen, wie die Zementplatten auf dem Boden: Kaputte Stellen sind einfach repariert. Neu hinzugefügt haben sie allerdings die Raumschicht der Geschäfte im Hof. Sie bestehen aus einer Holzkonstruktion mit einer Fassade aus Sichtbetonstützen. Doch selbst diese eigenwilligen, nur vorne abgerundeten Betonstützen sind vom Bestand abgeleitet, nämlich von jenen der runden Hauptfront der alten Feuerwehr. Hinter den aufgereihten Geschäften befinden sich die Lagerflächen unter den alten Sheddächern.
Obwohl das Gebäude unter Denkmalschutz steht, konnte das Team von Atama die Behörden überzeugen, einen Teil der Deckenplatte im Hofbereich zu entfernen. Damit tritt nun mehr Tageslicht ein und zwischen dem Restaurant und Hof entstand eine Übergangszone von besonderer Qualität. Gleichwohl verblieben die Betonträger an ihrem Ort. Durch das geöffnete Dach fällt nun der Turm in den Blick, was die Orientierung verbessert wie auch den Bezug zum Denkmal stärkt.
Um die Räume an der frischen Luft grosszügig zu verbinden, liessen die Architekten die einstigen Fenster zu Türen vergrössern. Und sie haben neue Öffnungen hinzugefügt – man erkennt sie einzig am neuen, höheren Sturz. Die Leibungen sind nun mit Spiegeln aus poliertem Edelstahl bedeckt. So entstehen instagrammable Situationen, die nicht nur bei Jugendlichen beliebt sind. Auch alle anwesenden Journalistinnen tragen ein Foto mit nach Hause.
Die Wände selbst sind teils roh, teils geflickt, gefliest oder mit den alten Farben der einstigen Innenräume versehen: eine Collage unterschiedlichster historischer Schichten, mit allen Wunden, ungeschönt zur Schau getragen.
Die ehemaligen Innenräume dieser Übergangszone in den Hof können nun als gut beschattete Aussenräume genutzt werden, was an heissen Sommertagen gern getan wird. Den Wechsel im Status dieser Gartenräume, wie sie Bram Aerts nennt, macht der neu gepflanzte Ginkgo-Baum sichtbar. Zur Westseite dieser neuen Gartenräume liegen die Ludothek sowie eine Anlaufstelle des Sozialamts, das hier diskret erreicht werden kann, statt über das Restaurant.
In solchen Aspekten zeigt sich die Sensibilität der Architekturschaffenden bei diesem bereits mehrfach ausgezeichneten Projekt.2 Bram Aerts verweist auf die grossen Möglichkeiten, über die die Architektur verfügt. Dass auch eine ansprechende Gestaltung der Räume bis hin zur Beschriftung dazugehört, hält er für selbstverständlich. Sie verleiht den Dingen selbst, wie den Nutzenden, eine grosse Würde: Man könnte sie architektonische Fürsorge nennen. Sie geht weit über den Erhalt eines Baudenkmals hinaus, ist gerade bei solchen Bauaufgaben zentral, welche die vulnerabelsten Mitglieder der Gesellschaft betreffen. Es können kleine, ausgefallen anmutende Kniffe sein, die den Raum verwandeln. Und so auch die Menschen darin, hofft Bram Aerts.
1 https://www.kortrijk. be/deelfabriek/instrumentheek (abgerufen am 8.1.2025)
2 So ist es in der engeren Auswahl für den Mies-van-der-Rohe-Preis 2024 und ziert auch das Cover des neuen flämischen Architekturjahrbuchs: Flanders Architectural Review N°16. Responses in Responsibility, hg. vom VAI, Antwerpen 2024.