Jan D. Geipel, SLA / Laura Stamer (Bilder)
Mit geringem Budget hat das Kopenhagener Büro SLA eine triste Dachterrasse in eine naturnahe Idylle verwandelt. Die Initiative dazu stammte von den Studierenden selbst. Auf 160 Metern Länge entfaltet sich jetzt ein lebendiger Begegnungsraum, eingebettet in üppige Stauden, vielfältige Blüten und wiederverwendete Bäume.
Kopenhagen präsentiert sich gern als innovative, attraktive und nachhaltige Metropole. Areale im Süden und Norden der Hafenstadt am Öresund wurden seit der Jahrtausendwende städtebaulich erschlossen und entwickelt. Innerstädtische Bereiche verdichten sich, bestehende Wohn- und Industrieanlagen werden modernisiert und vielfältige urbane Grünräume und Gemeinschaftsflächen integriert. Auch wegen ihrer hohen Qualität belegt die Stadt in den globalen Rankings lebenswerter Städte regelmässig Spitzenplätze. Ein prominentes und medial wirksames Beispiel: BIGs CopenHill. Auf dem Schrägdach einer hochmodernen Müllverbrennungsanlage entstand ein futuristisch-multifunktionaler Ski- und Freizeithügel (vgl. wbw 7/8 – 2018, S. 36 – 38). Das aus Abfall gespeiste Heizkraftwerk versorgt seit 2019 rund 100 000 Haushalte effizient mit Elektrizität und Wärme. Nicht aufgrund seines nüchternen Innenlebens, sondern durch den attraktiven Dachaufbau wurde es zum Vorzeigeprojekt. Unternehmerischer Mut, visionäre Ideen und gestalterisches Talent vereinen sich in einem innovativen städtebaulichen Hybrid – Werte, die dem Selbstverständnis Dänemarks entsprechen. Die Landschaftsarchitektur des grünen Teppichs stammt von SLA. Das von Stig Lennart Andersson 1994 in Kopenhagen gegründete Büro für Landschaftsarchitektur arbeitet regelmässig mit grossen Architekturbüros zusammen.
Um Breite und Tiefe der städtischen Angebote zur Begegnung und Bewegung in Kopenhagen zu verstehen, sind die weniger auffälligen, pragmatischen Akupunkturen und Initiativen entscheidend. Sie bilden eines der wesentlichen Fundamente für das gelingende Miteinander in der Stadt. Als soziale Inkubatoren generieren sie funktionale, inklusive und sichere Umgebungen. Diese entsprechen damit ganz nebenbei auch dem Wertekompass des sogenannten Janteloven, das der dänisch-norwegische Schriftsteller Aksel Sandemose vor fast hundert Jahren in zehn Geboten skizziert hat. Im protestantisch geprägten Dänemark schwingt es noch immer als gesellschaftliche Richtschnur mit, um kollektive Solidarität und Gleichstellung zu fördern und überzogenem Individualismus entgegenzuwirken.
Vor 50 Jahren bereits veröffentlichte der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl sein wegweisendes Buch Life Between Buildings. In einem kürzlich veröffentlichten Social-Media-Post zu Forschungsergebnissen bekräftigten Julia D. Day und Eamon O’Connor von Gehl Architects: «Wenn wir in öffentliche Räume investieren, dann tun wir mehr, als nur die Gesundheit der Menschen und die Ökonomien zu verbessern. Wir fördern damit Vertrauen in die lokalen Institutionen, die Demokratie zum Funktionieren bringen.»
Mit dem Fahrrad sind es 10 Minuten vom Copen-Hill im Industriehafen in Richtung Stadtzentrum zu einem guten Beispiel. Ein 160 Meter langer Eingriff über den Dächern der Stadt, aber keineswegs abgehoben: Die Planenden von SLA nennen ihr Projekt The Social Spine, das soziale Rückgrat. Es erinnert entfernt an eine verkleinerte Ausgabe von New Yorks High Line. Die Wandlung von der Betontristesse zur lebendigen urbanen Oase ist nicht sofort erkennbar, zwölf scharf geschnittene, geometrisch gesetzte Wohntürme aus den 1970er Jahren verstellen den Blick. Ein seltenes Beispiel des Brutalismus hier in Kopenhagen, entworfen von Hans Bølling und Axel Wancher. Nur die schräg gestellten, tiefroten Fensterbänder verleihen dem grauen Komplex etwas rhythmische Eleganz. Mit 1024 Mieteinheiten für 1500 Bewohnerinnen und Bewohner ist das Øresundskollegiet Skandinaviens grösstes Wohnhaus für Studierende.
Das Gebäude wurde kürzlich modernisiert. Die Fenster, die über die Hälfte der Fassade ausmachen, wurden mit deutlich schlankeren Profilen ausgestattet und auf den neuesten Isolierglasstandard gebracht. Dadurch gelangt jetzt auch wesentlich mehr Licht in die Wohnungen. Die Küchen wurden erneuert, die Wohnungen mit schallisolierten Türen ausgestattet, Wasser- und Abwasserinstallationen ausgetauscht. Verglaste Türen zwischen den Gemeinschaftsbereichen verbessern die Transparenz und damit das soziale Miteinander. Verantwortlich dafür zeichnete das dänische Ingenieurbüro Holmsgaard in Zusammenarbeit mit Mole Arkitekter.
Aber erst die im Aussenraum vollzogene Transformation bietet die Möglichkeiten für Begegnungen und Erholung auf völlig neuem Niveau: Auf dem Dach eines eingeschossigen Sockelbaus sind 8 der 12 Blöcke über eine 160 Meter lange, fast 1500 Quadratmeter grosse Terrasse verbunden. Fünfzig Jahre mussten vergehen, bevor jemand das Potenzial dieser mausgrauen Tristesse erkannte.
Die Idee zur Neugestaltung der – bisher wenig genutzten, dabei beeindruckend grossen – Terrasse und der Wunsch zur Aufwertung der Aussenbereiche kam von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst. Unterstützung bot die für das Wohnhaus zuständige Verwaltung, die sich zum Mitwirkungsprozess beraten liess. Der Rat der Bewohnerschaft schrieb einen Architekturwettbewerb aus, den SLA gewann. In partizipativer Zusammenarbeit mit ihnen entwickelte das Architekturbüro den Wettbewerbsentwurf in Workshops weiter und setzte die Pläne in die Realität um. Rasmus Astrup, Partner bei SLA und projektverantwortlicher Architekt, meint: «Wir gewannen den Auftrag in einer von den Studierenden bewerteten Pitch-Runde. Danach veranstalteten wir Design-Workshops, um konkrete Vorschläge zu entwickeln und ihr Feedback einzubeziehen. Die Studierenden kümmerten sich selbst um die Beschaffung der notwendigen finanziellen Mittel. Die Villum-Stiftung – 1971 initiiert vom Velux-Gründer Villum Kann Rasmussen – genehmigte 373 000 Euro, die sämtliche Ausgaben deckten: Pflanzen, Bäume, Materialien, unser Honorar und die Vergütung des Bauunternehmens.»
Der 160 Meter lange Streifen ist in vier Funktionsbereiche unterteilt, die fliessend ineinander übergehen: Relax, Study, Party, Produce. Die schmalen Abschnitte bieten Rückzugsmöglichkeiten, die breiten stehen vielfältigen gemeinschaftlichen Aktivitäten offen. Gewächshäuser, Lernräume, Aussenküchen, Rasenflächen und Versammlungsbereiche schaffen einen lebendigen, biodiversen und klimaresistenten Aktivitätsteppich für nahezu alle Jahreszeiten. Die vorgegebene Ost-West-Richtung der Terrasse setzt der Nutzung bei feucht-kalten Winterwinden freilich Grenzen. Ganzjährlich hat sich jedoch der Blick aus den Zimmern verändert: Das monoton-graue Plattenraster ist einem farbigen, jahreszeitlich veränderlichen Biotop gewichen. Dank der abwechslungsreichen Flächengestaltung und des dichten Pflanzenbewuchses zwischen den schallreflektierenden Fassaden hat sich sowohl die visuelle als auch die akustische Härte spürbar gemildert.
Eine Gruppe Studierender sorgt dafür, dass die multifunktionale Lebensader langfristig den Bedürfnissen und Ideen derzeit dort Lebender wie künftiger Generationen entspricht. Küchengärten sind bereits entstanden, Ausstellungen wurden organisiert. Es gibt regelmässige sportliche Aktivitäten und gemeinsame Abendessen.
Der Bepflanzungsplan setzt überwiegend auf einheimische Arten, ergänzt durch robuste exotische Varietäten. Zusammen bilden sie eine horizontal und vertikal dichte Pflanzenbedeckung. Die Kargheit zwischen den engen Fassaden verwandelte sich in eine Promenade, die von üppigem Grün gesäumt ist und der Terrasse eine völlig neue Dynamik verleiht. Es öffnen sich weite wie intime Orte von angenehmer, einladender Massstäblichkeit.
Rasmus Astrup: «Für das nordische Klima haben wir Materialien und Bepflanzung so widerstandsfähig wie möglich ausgewählt, um den vielfältigen Belastungen standzuhalten, denen die Studierenden ihre neue Dachterrasse aussetzen könnten. Wir haben einen sehr einfachen Pflegeplan für den Hausmeister erstellt, aber grösstenteils können sich die Pflanzen selbst versorgen.»
Auch auf bereits hochgewachsene Bäume trifft man hier. Sie mussten der Renovierung der Fassaden weichen, um Platz für Baugerüste zu schaffen. Statt sie zu fällen, schlug SLA vor, sie, wo immer möglich, auf die neue Dachterrasse zu verpflanzen – clever, weil sowohl biologisch als auch finanziell ressourcenschonend. Die zwanzig Jahre alten Terrassenplatten aus Beton liessen sie in kleine Fliesen umarbeiten. Sie liegen nun im Läuferverband zwischen den bepflanzten Bereichen.
90 Prozent des Regenwassers wird auf dem Gründach zurückgehalten und in Tanks gespeichert, um damit die Bepflanzung und das Gewächshaus zu bewässern. Mehr als 350 neue und wiederverwendete Bäume, Sträucher und Kletterpflanzen bilden den Anfang, darunter auch Nussbäume, Frucht- und Beerensorten, winterharte und kletternde Pflanzen. Die sorgsam komponierte Bepflanzung aus Bestehendem und Neuem schafft eine visuell üppige, artenreiche Flora, die zugleich einen attraktiven Lebensraum für Insekten und Kleintiere bietet. Ab Frühjahr summt es lebhaft, Studierende haben bereits einen ersten Bienenstock etabliert.
Die positiven Erfahrungen auf der Dachterrasse, die der studentischen Bewohnerschaft vorbehalten ist, tragen bald weitere Früchte: Ende 2024 bewilligte die Villum-Stiftung 5 Millionen Kronen (ca. CHF 630 000) für den nächstes Schritt: ØK’s Green Courtyards. Dabei sollen die Strassenräume und Aussenbereiche im Erdgeschoss aufgewertet werden. Die künftig biodiversen Höfe verzahnen sich kammartig mit der angrenzenden Nachbarschaft und bilden grüne Treffpunkte für Erwachsene und Kinder, mit Aufenthalts-, Informations- und Spielbereichen, samt Pflanzbeeten, Sträuchern und Bäumen. Parkplätze zwischen den Blöcken werden reduziert, Fahrradabstellmöglichkeiten erweitert und attraktiv ausgestaltet. Das Projekt entsteht in beratender Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro Arki Lab. Das mit der weiteren Planung zu beauftragende Landschaftsarchitekturbüro wird wie zuvor durch ein Wettbewerbsverfahren ausgewählt. In jedem Fall: Die auf dem Dach erprobten Qualitäten finden eine sinnfällige Fortsetzung.
Alexander Romanoff, Vorstandsmitglied des Öresundskollegiums: «Ein starkes soziales Fundament ist die Grundlage für ein gutes gesellschaftliches Miteinander. Die Qualität unserer Gemeinschaftsbereiche beeinflusst entscheidend, wie wir miteinander in Kontakt treten und Beziehungen gestalten. Die Begrünung unserer Dachterrasse hat die Art des Zusammenlebens nachhaltig positiv verändert, und ich kann kaum erwarten, welche Bedeutung der nächste Schritt haben wird.»
The Social Spine zeigt eindrucksvoll, wie vernachlässigte Stadträume in lebendige, naturnahe Begegnungsorte transformiert werden können: Dank der Initiative der Bewohnerschaft, eines partizipativen Prozesses und ressourceneffizienten Upcyclings wurden die begrenzten Mittel optimal genutzt. Das Ergebnis ist ein Gewinn auf sozialer, funktionaler und ästhetischer Ebene. Attraktivität, Wohlbefinden, Identifikation und Sicherheit wurden gesteigert, die Lebensqualität spürbar erhöht. Eine gelungene Form der Social Sustainability, die weit über Kopenhagen hinaus inspiriert.
Jan D. Geipel (1968) ist Architekt, Dekan, Kurator, Autor, Juror und als Initiator von Boussolecoaching. de Mentor für Akteure in Architektur, Design und Kultur. Langjährige Aufenthalte in Kopenhagen, Basel, Genf, Tokyo und Kyoto. Insgesamt zehn Jahre in Kopenhagen, zuerst als Gaststudent an der königlichen Kunstakademie, später bei C.F. Møller, KHR, als Programmchef des Dänischen Architektur Zentrums und als Berater des Kulturministeriums.